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STANDPUNKT/015: Diese komischen Antisemiten (Uri Avnery)


Diese komischen Antisemiten

von Uri Avnery, 7. Mai 2016


ANTISEMITEN bringen mich zum Lachen. Sie sind so komisch. Ich weiß, dass viele diese Erklärung leichtfertig, wenn nicht gar anstößig finden werden, wenn man all die schrecklichen Dinge betrachtet, die durch Antisemiten im Laufe der Jahrhunderte geschehen sind, einschließlich des Holocaust. Aber heutzutage sind sie einfach lächerlich.

Die Dinge, an die sie glauben. Die Dinge, die sie sagen. Lächerlich.


NEHMEN WIR den Ex-Bürgermeister von London, Ken Livingstone. Die Dinge, die er sagt, sind lächerlich. Selbst für einen Politiker.

Zum Beispiel behauptet er, Adolf Hitler wäre Zionist gewesen, oder ein Zionismus-Unterstützer.

Hitler? Ein Zionist?

Adolf Hitler war ein pathologischer Hasser von Juden und allem Jüdischen. Tatsächlich war sein Antisemitismus so sehr von zentraler Bedeutung für seinen Glauben, dass er alles andere übertraf.

Selbst als er schon die endgültige militärische Niederlage vor Augen hatte, zog er Züge von militärischen Aufgaben ab, um Juden in die Vernichtungslager zu transportieren.

Einige glauben, dass er den Krieg (und die Weltherrschaft) wegen seines Antisemitismus' verloren hat. Wenn die jüdischen Wissenschaftler - wie Albert Einstein - in Deutschland als deutsche Patrioten geblieben wären, hätte Hitler die Atombombe wahrscheinlich vor den Amerikanern verwirklicht. Das hätte die Weltgeschichte verändert.

Keiner weiß, woher sein Hass gegen die Juden kam. Er mochte den jüdischen Arzt seiner heiß geliebten Mutter. Als er noch den Traum hatte, ein großer Maler zu werden, hatte er einen jüdischen Freund, den er auch in seiner Wohnung besuchte. Irgendwann wurde er ein abgrundtiefer Judenhasser. Es gibt viele Theorien, aber keine wirkliche Antwort. Aber es geschah sehr früh, als er noch in Wien war.

Die Idee, dass diese Person in irgendeiner Lebensphase ein Unterstützer zionistischer Juden war, ist jenseits jeder absurden Vorstellung.


WIE VIELE Absurditäten, enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit.

Vor dem Holocaust wollten Antisemiten die Juden aus Europa vertreiben. Das Wesen des Zionismus ist, die Juden aus aller Welt nach Erez Israel (Palästina) zu bringen. Darum hatten diese beiden einander vollkommen entgegengesetzten Bewegungen etwas gemeinsam.

Theodor Herzl, der Gründer der zionistischen Bewegung, verstand dies von Anfang an. Er besuchte das antisemitische zaristische Russland, um führende Politiker davon zu überzeugen, ihm zu helfen, und versprach ihnen, sie von ihren Juden zu befreien.

Im Laufe der Zeit wurden viele solche Bemühungen unternommen. Eine wenig bekannte wurde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges unternommen, als die zionistische Untergrundbewegung Irgun vom rechten Flügel (voller Name: Nationale Militär-Organisation) ein Abkommen mit der antisemitischen Führung der polnischen Armee schloss. In Polen wurden militärische Trainings-Zentren für junge Juden errichtet. Sie sollten für die Invasion in Palästina vorbereitet werden, damit polnische Juden dorthin würden auswandern können. Der Krieg setzte diesen Bemühungen ein Ende.

Zur selben Zeit beschäftigte sich der berüchtigte Adolf Eichmann in Wien damit, "die jüdische Frage" zu lösen. Er raubte den Juden all ihren Besitz und erlaubte ihnen zu emigrieren. Später, fast am Ende des Krieges, machte er den zionistischen Führern in Budapest das absurde Angebot: Wenn die Alliierten zehntausend LKWs nach Nazi-Deutschland schickten, würde er die Vernichtung der ungarischen Juden (zehntausend Juden am Tag) stoppen. Meiner Meinung nach gehörte das in Wirklichkeit zu einem getarnten Versuch Heinrich Himmlers, mit den westlichen Alliierten einen separaten Frieden zu schließen.

Nachdem er in Argentinien entführt worden war, schrieb Eichmann in seinem israelischen Gefängnis eine faszinierende Autobiographie, in der es hieß, dass er die Zionisten immer den anderen Juden vorgezogen habe, weil sie die positivere biologische Substanz der Juden verkörpert hätten.

Die direkteste Verbindung zwischen Nazis und Zionisten kam sehr früh zustande. Als die Nazis in Deutschland Anfang 1933 zur Macht kamen, erklärten die amerikanischen Juden einen Boykott der deutschen Waren. Die Nazis reagierten mit einem eintägigen Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland. (Ich erinnere mich daran, weil mein Vater mich an diesem Tag zu Hause behielt.)

Zur selben Zeit wurde ein offizieller Vertrag zwischen Nazideutschland und der zionistischen Führung unterzeichnet. Er wurde "Transfer" (hebräisch: Ha'avara) genannt. Ihm zufolge war es reichen deutschen Juden erlaubt, einen Teil ihres Geldes in Form von deutschen Waren nach Palästina zu transferieren. Dies brach den anti-deutschen Boykott und bedeutete gleichzeitig einen großen Aufschwung für die notleidende jüdische Wirtschaft in Palästina.

Das bleibt bis zum heutigen Tag ein umstrittenes historisches Kapitel. Zionisten vom rechten Flügel verurteilen das Abkommen, obwohl sie selbst von Führern des linken Flügels, der die zionistische Gesellschaft in Palästina regierte, "Faschisten" genannt wurden. Das Abkommen half der zionistischen Wirtschaft sicherlich zu überleben, bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und die große britische Armee in Ägypten dringend all die Produkte benötigte, die wir produzieren konnten.


ALL DIESE Ereignisse hatten mit einer Versöhnung zwischen Zionisten und Nazis nicht das Geringste zu tun. Schon allein der Gedanke ist verrückt.

Bis zum Zweiten Weltkrieg konnte Hitler nur davon träumen, die Juden en masse zu töten. Es war undenkbar. Er musste damit zufrieden sein, die Juden aus Deutschland oder aus Europa zu vertreiben, wie es mehrere Male zuvor in Spanien, in England und in vielen anderen Ländern geschah.

Offensichtlich war der Bestimmungsort Palästina, aber Palästina wurde von Großbritannien beherrscht, das aus Furcht vor den arabischen Reaktionen nur wenige Juden ins Land ließ. Zu der Zeit gewann bei der Nazi-Führung eine andere Möglichkeit Popularität: ein Transport aller Juden nach Madagaskar, das damals Teil des französischen Reiches war. Daraus wurde nichts.

All dies veränderte sich vollständig, als der Krieg ausbrach. Eine neue Realität entstand. Mit der Invasion Nazideutschlands 1941 in die Sowjetunion verlor das menschliche Leben seinen Wert. Die in der Genfer Konventionen festgeschriebene "anständige" Kriegsführung wurde über Bord geworfen. Hunderttausende und dann Millionen schlachteten einander ab.

Für Hitler war dies eine Gelegenheit, an die er vorher vielleicht nicht zu denken gewagt hatte. Transferiere die Juden nicht, töte sie. Das war der Beginn des Holocaust durch Massenerschießungen, Hungertod, Krankheiten und dann in den Gaskammern.

Er brauchte niemanden, der ihn dazu drängte. Die vor kurzem kursierende Geschichte, Hitler sei vom Großmufti von Jerusalem, Hadj Amin al-Husseini, einem Allah ergebenen Semiten, dazu angestiftet worden, ist so lächerlich wie alle anderen Geschichten.


HITLER WAR kein schöpferischer Geist. Es gab nichts wirklich Neues in seinen Anschauungen.

Antisemitismus ist so alt wie das Christentum. Es war lange Zeit ein integraler Teil von ihm und ist es vielleicht noch immer.

Jeshua Ben-Josef, bekannt als Jesus, war ein Jude. Als er wegen Gotteslästerung gekreuzigt wurde, hielt eine kleine jüdische Gemeinde seiner Anhänger in Jerusalem an seiner Lehre fest. Sie wurden vom jüdischen Establishment in Jerusalem verfolgt und zwischen den beiden Seiten entstand ein fanatischer Hass.

Dies wäre eine historische Bagatelle geblieben, wenn sich nicht etwas Außerordentliches ereignet hätte. Mit Hilfe eines anderen jüdischen Rabbi, Saul, der seinen Namen in Paulus änderte, wurde aus den Nachfolgern des Jesus eine Welt-Religion. Die alte Kultur der Vielgötterei brach zusammen. Die abstrakte jüdische Religion zog viele Patrizier an, aber die Massen der Sklaven und Proletarier waren von der Geschichte des gekreuzigten Sohn Gottes und seiner jungfräulichen Mutter entzückt. Das Christentum gewann und mit ihm wuchs der Hass gegen die Juden.

Ich glaube, dass sich kein christlicher Junge und kein christliches Mädchen, die in ihrer Kindheit dieser furchteinflößenden Geschichte ausgesetzt waren, wie die Juden nach dem Blut des sanftmütigen Jesus schrien, vollständig vom Hass gegen die Juden befreien können.

Und tatsächlich ist Judenhass ein Merkmal des Christentums durch die Jahrhunderte hindurch. Massenvertreibungen, der Mord an Juden durch die Kreuzritter in Deutschland und Palästina, die spanische Inquisition, die russischen Pogrome, der Holocaust und unzählige andere Manifestationen begleiten die jüdische Geschichte. (Traurigerweise macht das alles die Juden im modernen Israel nicht immun dagegen, andere zu hassen.)

Ich möchte noch einmal betonen, dass nichts davon in muslimischen Ländern geschah. Als ich dies vor kurzem betonte, griffen mich einige Professoren orientalisch-jüdischen Ursprungs wütend an. Sie brachten etwa ein halbes Dutzend Beispiele von muslimischen Herrschern, die Juden misshandelten - ein halbes Dutzend in 1400 Jahren! Es scheint, dass einige Orientalen die europäischen Juden um ihr Leiden beneideten und wünschten, auch darin mit ihnen konkurrieren zu können.

Pogrom ist kein arabisches Wort. Es ist russisch.



ZURÜCK ZU den heutigen Antisemiten.

Man hätte hoffen können, dass sie nach dem Holocaust einfach verschwinden würden. Aber jetzt sind sie wieder hier - in verschiedenen Erscheinungen.

Es kommt nicht so sehr darauf an, was sie sagen. Es ist der Ton, der die Musik macht.

Man kann mit ihren Argumenten streiten. Sicher. Es gibt einige unerfreuliche Fakten. Gewiss. Aber es ist die Musik, die Ausschlag gebend ist. Ah, die Musik.

Man kann gegen Israel eingestellt sein. Warum nicht? Man kann gegen die Politik der aufeinander folgenden israelischen Regierungen sein. So wie ich. Man kann anti-zionistisch sein. Doch muss man deutlich machen, welche Art von Zionismus man nicht mag. Aber all dies hat nichts mit wirklichem Antisemitismus zu tun.

Einige Leute mit einer echten konspirativen Weltanschauung - die mir leider fehlt - könnten Gründe anführen, dass der heutige Antisemitismus von Zionisten finanziert wird, die das Ziel verfolgen, die Juden von dort, wo sie sind, nach Israel zu treiben.

Wenn ich so viele Leute am Tel Aviver Strand französisch sprechen höre, vermute ich, dass sie damit Erfolg haben.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.05.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2016

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