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BERICHT/093: Die UN-Kinderrechtskonvention - "Das Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen" (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 3/12

Die UN-Kinderrechtskonvention: "Das Wohl des Kindes ist vorrangig zu berücksichtigen"

Kindheit, Schule und Menschenrechte: ein defizitäres Verhältnis

von Ulrich Klemm



Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt als Magna Charta der Menschheit und als Leitbild für Menschenwürde. Obgleich sie völkerrechtlich gesehen keine rechtsverbindliche Kraft eines Vertrages besitzt, hat sie den Status eines Völkergewohnheitsrechts erhalten und ist als Vorbild in zahlreiche andere und weiterführende nationale und internationale Verträge und Konventionen eingeflossen.

Es werden Rechte und Freiheiten proklamiert, die für alle "ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Vermögen, Geburt oder sonstigen Status" (Art. 2) uneingeschränkt Gültigkeit besitzen. Menschenrechte sind sowohl Abwehrrechte zum Schutz des Individuums als auch Anspruchsrechte an den Staat und die Gesellschaft.

Im Zuge der Ausdifferenzierung und Konkretisierung der Menschenrechtsvereinbarungen und -politik ist es seit 1948 zu etwa 60 internationalen Menschenrechtsverträgen und -erklärungen gekommen. Eine Konkretisierung für Kinder erfolgte dabei erstaunlicherweise erst 1989. Dieser Vertrag über die Rechte der Kinder erhält in der gesamten Menschenrechtsdiskussion einen besonderen Stellenwert und gilt als Meilenstein, der zwischenzeitlich in verschiedene nationale Gesetze und Verfassungen Eingang gefunden hat. Von der BRD wurde die Konvention 1992 ratifiziert und damit als verbindlich für politisches und privates Handeln gemacht. Die Kinderrechtskonvention zählt darüber hinaus zu den am meisten ratifizierten Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen.

Es sind vor allem zwei Aspekte, die diese 54 Artikel der Konvention bedeutungsvoll machen:

• Es ist das erste völkerrechtliche Dokument, in dem individuelle Bürgerrechte mit sozialen Menschenrechten zusammengeführt werden, d.h. Kinder mit Grundfreiheiten haben ein Recht auf die soziale und materielle Grundversorgung von Staat und Gesellschaft.

• Das Verständnis von Kind und Kindheit wird neu definiert: Kinder werden als autonome Persönlichkeiten gesehen, die als Subjekte gesellschaftliche Praxis mitbestimmen können und sollen.

Drei zentrale Leitideen prägen dabei die Konvention:

1. "Children first", d.h. bei allen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen sollen die Interessen der Kinder Vorrang haben;

2. das Nichtdiskriminierungsgebot, d.h. es darf zu keiner Ungleichbehandlung der Kinder kommen;

3. das Partizipationsgebot, d.h. Kinder sollen bei allen sie betreffenden relevanten gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen eingebunden werden.


Diese drei Leitideen werden durch drei Rechtskategorien konkretisiert:

• Das Recht auf Versorgung hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Freizeit und Wohnung (= Versorgungsrechte);

• das Recht auf Schutz hinsichtlich Gewalt, Ausbeutung und Vernachlässigung (= Schutzrechte);

• das Recht auf Beteiligung hinsichtlich einer aktiven Rolle in der Gesellschaft (= Beteiligungsrechte).

Quantitativ stehen dabei die Schutzrechte, die in insgesamt 26 Artikeln ausgeführt werden, im Mittelpunkt. An zweiter Stelle rangieren die Versorgungsrechte mit 14 Artikeln und mit fünf Artikeln werden die Beteiligungsrechte konkretisiert.


Schule und Kinderrechte

Zur Konkretisierung der Kinderrechtskonvention soll am Beispiel Schule aufgezeigt werden, was es heißt bzw. heißen würde, diese UN- Konvention in die gesellschaftliche Praxis zu überführen. Bei einer menschenrechtlichen Bewertung und Betrachtung von Schule müssen wir den traditionellen Blick auf Schule erweitern: Die Kritikkategorien an der gegenwärtigen Schule, wie die Frage nach der Lehr-Lernkultur, den Bildungsinhalten, der Transferproblematik, der Organisation, den Sanktionsmechanismen oder der Nachhaltigkeit, müssen ergänzt werden. Entsprechend den drei Rechtskategorien der Kinderrechtskonvention, den Versorgungsrechten, den Schutzrechten und den Beteiligungsrechten, ergibt sich eine neue Sichtweise auf Schule.


Demokratie und Partizipation an Schulen

In der BRD wird hinsichtlich der Schule und Schulpflicht an einem entscheidenden Punkt immer der Schutz des Staates vor den Schutz des Kindes gesetzt. D.h. Partizipation wird in letzter Konsequenz immer zum Wohle des Staates eingeschränkt. Mitbestimmung von Schülern, Eltern und Lehrern findet nicht statt.

Die vorhandenen Instrumente wie z.B. die Schülermitverwaltung sind kinderrechtlich gesehen Makulatur.

Staatliche Schulaufsicht kann damit in einem doppelten Sinne zur Gefahr für Demokratie werden: Einmal aus der Sicht individueller Bürgerrechte, indem diese beschnitten werden und zweitens für die Demokratie selbst, indem durch vor- und parademokratische Institutionen junge Menschen eine politische Sozialisation erleben, die kontra-produktiv zu demokratischen Werten steht.


Das nicht eingelöste Bildungsversprechen der Schulbildung

Der zweite Rechtsbereich der Konvention, der die Versorgungsrechte betrifft, scheint auf den ersten Blick kein Risikobereich zu sein, da die Forderung nach einer flächendeckenden Grundversorgung (Art. 28: Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung) erfüllt werden kann. Jedoch bei näherer Betrachtung unserer Schulrealität ergeben sich Verhältnisse, die bedenklich stimmen müssen. Folgende Zahlen, die den statistischen Veröffentlichungen der Bundesregierung entnommen werden können, seien genannt:

• über 400.000 Kinder besuchen Sonderschulen, das sind ca. 4,4 % der 9,6 Millionen SchülerInnen an deutschen Schulen;

• ca. 18 % aller Schulabgänger mit Migrationshintergrund verlassen die Schule ohne einen Abschluss; bei deutschstämmigen SchülerInnen sind es ca. 7,4 %;

• einen Hochschulabschluss erwerben ca. 10 % der ausländischen Jugendlichen; bei deutschstämmigen Jugendlichen sind es über 25 %;

• das Statistische Bundesamt weist seit vielen Jahren regelmäßig zwischen 60.000 und 80.000 SchülerInnen aus - das sind ca. 9 % eines Altersjahrgangs - die jährlich allgemein bildende Schulen ohne einen Abschluss verlassen;

• der wachsende Nachhilfemarkt hat ein jährliches Volumen von ca. einer Milliarde Euro. Etwa 12 % aller SchülerInnen an allgemein bildenden Schulen, d.h. ca. 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche, erhalten regelmäßig Nachhilfeunterricht;

• im März 2011 wurde in einer Studie an der Universität Hamburg festgestellt, dass ca. 7,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger der BRD derzeit als funktionale Analphabeten gelten, d.h. nur bedingt lesen, schreiben und rechnen können. Bildungspolitisch bedeutet dies, dass die öffentliche Regelschule nur bedingt ihren Auftrag erfüllen kann. Die Frage, warum SchülerInnen die Schule ohne Schulabschluss verlassen, warum sie "schulmüde" werden, wann sie die Schule verweigern und warum junge Menschen als funktionale Analphabeten die Schule verlassen, kann und darf nicht ausschließlich individualisiert werden. Diese sozialen Konsequenzen des Schulbesuchs in der BRD sind strukturbedingt und sind seit den 1960er Jahren bekannt und dokumentiert.

Die in der Kinderrechtskonvention geforderten Standards hinsichtlich der Bildungsversorgung (Art. 28 und 29) scheinen in der BRD zunehmend in Gefahr zu geraten. Vor allem das in Art. 28b beschriebene Recht, allen Kindern verschiedene Formen weiterführender Schulen verfügbar und zugänglich zu machen und geeignete Maßnahmen sowie finanzielle Unterstützung bei Bedürftigkeit bereitzustellen, ist nicht gesichert - im Gegenteil. Und auch die Einhaltung des Art. 28e der Kinderkonvention, mit dem sich die Vertragspartner verpflichten, Maßnahmen zu treffen, die den regelmäßigen Schulbesuch fördern und den Anteil derjenigen, welche die Schule vorzeitig verlassen, verringern, ist zunehmend in Gefahr.


"Arbeitsplatz Schule" und seine Lebensqualität

Der dritte Rechtsbereich der Kinderrechtskonvention betrifft die Schutzrechte, die sich gegen jede Form des Missbrauchs, Vernachlässigung und Ausbeutung wenden. Bezüglich der Schule müssen diese Schutzrechte vor allem hinsichtlich des Themenkomplexes Gesundheit untersucht werden, d.h. hinsichtlich der physischen und psychischen Folgen von Schule.

Angst und Zwang sind zwei Elemente die einander in der Schule bedingen und die mit dem Schulpflichtsystem gekoppelt sind. Die Gründe für diese weit verbreitete Schulangst liegen in der Bedrohung durch die Leistungsorientierung, in der Hilflosigkeit ihr zu begegnen und in der Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Prüfungssystems.

Ein weiterer Aspekt, der zu dem Schluss kommen lässt, dass in der Schule die Schutzrechte von Kindern missachtet werden, betrifft den achtungsvollen Umgang von Lehrern mit Schülern. In Artikel 16 der Konvention heißt es: "Kein Kind darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden."


Fazit

Alle drei zentralen Rechtsbereiche der internationalen Kinderrechtskonvention werden derzeit in den Staatsschulen der BRD nur bedingt umgesetzt, d.h. mehr oder weniger. Zweifellos gibt es ein flächendeckendes Schulnetz und die Pflichtschule sorgt für eine nahezu hundertprozentige Einschulungsrate von Kindern ab dem sechsten Lebensjahr, zweifellos gibt es auch keine Prügelstrafen mehr in unseren Schulen und zweifellos ist die Seuchengefahr minimal. Und trotzdem weist unser Schulsystem, gemessen an der Kinderrechtskonvention, erhebliche Mängel auf:

• Schule zeichnet sich durch einen Mangel an demokratischer Führungs- und Organisationskultur aus, d.h. durch fehlende Partizipationsrechte;

• Schule zeichnet sich durch eine zunehmende Ungleichheit bei den Bildungschancen aus, d.h. durch mangelhafte Versorgungsrechte;

• Schule zeichnet sich durch krankmachende Verhältnisse und Beziehungen aus, d.h. durch mangelhafte Schutzrechte.

Obgleich dem Staat und der Gesellschaft in besonderer und berechtigter Weise an der Schulbildung gelegen ist, bieten sie ihrer Zielgruppe - Kindern und Jugendlichen - einen "Arbeitsplatz", der nur bedingt kinder- und menschenrechtlichen Maßstäben gerecht wird.


Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderkonvention im Wortlaut mit Materialien. 6. Aufl. Bonn 1999


Ulrich Klemm ist Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer und Erwachsenenpädagoge; derzeit Honorarprofessor an der Universität Augsburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Beiträge zum Anarchismus und zur libertären Pädagogik, darunter Lernen ohne Schule (2001) und Mythos Schule (2009).

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 3/12, S. 19-23 , 41. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2012