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ATOM/046: Halbwertzeit - Halbherzzeit ... (IPPNW)


IPPNW-Pressemitteilung vom 10. März 2016
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

"Belieferung für belgische und französische Pannen-AKW stoppen - Urananreicherung und Brennelementefertigung beenden"

Brief an Bundesregierung sowie Länder NRW und Niedersachsen


Berlin, Bonn, Gronau - In einem gemeinsamen Offenen Brief fordern Umweltverbände und Anti-Atomkraft-Initiativen die Bundesregierung sowie die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen auf, die Lieferungen von angereichertem Uran aus der Urananreicherungsanlage Gronau sowie von Brennelementen aus Lingen an die belgischen und französischen Pannenreaktoren in Tihange, Doel, Fessenheim und Cattenom einzustellen. Desweiteren appellieren Sie an die drei Regierungen, keine neuen Export- und Transportgenehmigungen für angereichertes Uran und Brennelemente mehr zu erteilen und sowohl die Urananreicherungsanlage in Gronau wie auch die Brennelementefertigung in Lingen umgehend stillzulegen.

In dem Offenen Brief kritisieren die Verbände und die Anti-Atomkraft-Initiativen, dass Bund und Länder zwar den Betrieb der heftig umstrittenen Atomreaktoren in Belgien und Frankreich zu Recht kritisieren, gleichzeitig aber nichts dagegen unternehmen, dass diese Atomkraftwerke von Deutschland aus mit Uranbrennstoff versorgt werden. Durch die Lieferungen von angereichertem Uran und Brennelementen sind die Bundesregierung und die beiden Landesregierungen tief in den Betrieb der Atomkraftwerke in den Nachbarländern verstrickt und damit auch mitverantwortlich für eventuelle Störfälle dort.


Zum Hintergrund: Die Brennelementefabrik Lingen (Areva) beliefert u. a. die AKW Doel 1 und 2 bei Antwerpen sowie die AKW Fessenheim 1 und Cattenom 1 mit Brennelementen. Die Urananreicherungsanlage Gronau beliefert zum einen die Brennelementefabrik in Lingen, zum anderen u. a. die beiden Westhinghouse-Uranfabriken in Columbia (USA) und Springfields (GB). Diese wiederum beliefern direkt und via Spanien u. a. die AKW Tihange 2 und 3 sowie Doel 4 mit Brennelementen. Sowohl die Brennelementefabrik in Lingen als auch die Urananreicherungsanlage in Gronau sind bislang vom Atomausstieg komplett ausgenommen und dürfen zeitlich unbefristet weiter für den Weltmarkt produzieren.

Die Europavorsitzende der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung), Dr. Angelika Claußen, erklärte dazu: "Fünf Jahre nach dem Beginn der Reaktorkatastrophe von Fukushima zeigen die gravierenden Vorfälle in den Pannenreaktoren von Tihange und Doel sowie von Fessenheim und Cattenom, dass ein Atomausstieg auf europäischer Ebene überfällig ist. Bundesregierung und Landesregierungen müssen jetzt mit einem Exportstopp für die Urananreicherungsanlage in Gronau und für die Brennelementefabrik in Lingen reagieren: Nur so werden die Entscheidungsträger in Belgien und Frankreich verstehen, dass sie aufhören müssen, das Leben und die Gesundheit von Millionen von Europäern mit ihrer fahrlässigen Atompolitik zu gefährden."

Kerstin Rudek von der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg legte dar: "Wir sind mit belgischen und französischen Anti-Atomkraft-Initiativen gut vernetzt. Unsere Proteste gehen weiter, in Antwerpen, in Gronau und in Lingen. Neben dem Exportstopp für die Atomfabriken in Gronau und Lingen erwarten wir, dass die Bundesregierung auch die acht verbliebenen Atommeiler in der Bundesrepublik Deutschland umgehend vom Netz nimmt - der Atomausstieg darf nicht auf die lange Bank geschoben werden!"

12. März: Fukushima-Demo Antwerpen
25. März: Ostermarsch UAA Gronau

Die Verbände und die Anti-Atomkraft-Initiativen rufen für den jetzigen Samstag, 12. März 2016, zur Teilnahme an der belgischen Fukushima-Demo in Antwerpen in unmittelbarer Nachbarschaft des AKW Doel auf. Für Karfreitag, 25. März 2016, rufen sie zur Teilnahme am überregionalen Ostermarsch vor der Urananreicherungsanlage Gronau auf, dem diesjährigen Auftakt der Ostermärsche in NRW.

Weitere Informationen unter:
www.ippnw.de, www.bbu-online.de,
www.bi-luechow-dannenberg.de,
www.sofa-ms.de, www.antiatombonn.de

*

Offener Brief an:

Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Dr. Barbara Hendricks

Bundesminister für Wirtschaft und Energie
Sigmar Gabriel

Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz des Landes Niedersachsen
Stefan Wenzel

Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen
Garrelt Duin

Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen
Johannes Remmel

Berlin, Bonn, Gronau 8. März 2016

Angereichertes Uran aus Gronau und Brennelemente aus Lingen in belgischen und französischen Pannenreaktoren

Sehr geehrte Frau Dr. Hendricks, sehr geehrter Herr Gabriel, sehr geehrter Herr Wenzel,
sehr geehrter Herr Duin, sehr geehrter Herr Remmel,

in den ersten Monaten dieses Jahres hat sich die Sorge um den äußerst bedenklichen Zustand mehrerer Atomreaktoren in Tihange und Doel (Belgien) sowie in Fessenheim und Cattenom (Frankreich) enorm verstärkt. Erst vor wenigen Tagen machte ein in Frankreich heruntergespielter schwerer Störfall im AKW Fessenheim Schlagzeilen. In den Medien treten Sie inzwischen regelmäßig als Kritiker dieser Schrottreaktoren auf. Allerdings hören wir sowohl von Bundes- wie von Landesseite immer wieder, aus Deutschland könne man "leider" nichts machen gegen den Betrieb der heftig umstrittenen Atomreaktoren in Belgien und Frankreich.

Das ist ganz offensichtlich falsch, weil die Bundesregierung und die Länder NRW und Niedersachsen in erheblichem Umfang dazu beitragen, dass die betroffenen Reaktoren überhaupt betrieben werden können.

Im Zentrum der Diskussion stehen dabei die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die auf ausdrücklichen Wunsch der Bundesregierung vom Atomausstieg ausgenommen wurden und bislang zeitlich unbefristet weiterlaufen dürfen. Beide Anlagen tragen erheblich zum Weiterbetrieb der europäischen Atomanlagen bei.

1. So beliefert die überwiegend staatliche französische Areva aus Lingen zahlreiche französische AKW mit Brennelementen, darunter auch Fessenheim 1 und Cattenom 1. Laut einer Meldung des Fessenheim-Betreibers EDF vom 22. Mai 2014 erfolgte noch wenige Wochen nach dem heruntergespielten Störfall vom April 2014 eine frische Lieferung von Brennelementen aus Lingen, die laut EDF den Betrieb von Fessenheim für mindestens 42 Monate - also bis mindestens Ende 2017 - sicherstellt. War der Atomaufsicht in Niedersachsen und der Bundesregieurng nicht klar, dass damit eine Stilllegung des Problem-AKW Fessenheim in 2016 sehr unwahrscheinlich würde?

2. Die belgischen Reaktoren Doel 1 und 2 wurden seit 2014 bereits 10 Mal von der Brennelementefabrik Lingen mit Brennstäben versorgt. Bis Januar 2017 sind weitere fünf Transporte von Brennelementen aus Lingen nach Doel durch das Bundesamt für Strahlenschutz genehmigt.

3. Aktuelle Recherchen haben zudem ergeben, dass die Urananreicherungsanlage Gronau mehrere Zulieferer für belgische und französische Reaktoren beliefert. So gelangt angereichertes Uran aus Gronau in die Brennelementefabrik Lingen. Über die Westinghouse-Brennelementefabrik Columbia (USA) sowie die Westinghouse-Urankonversionsanlage Springfields (UK) und die Enusa-Brennelementefabrik Juzbado (Spanien) gelangt in Gronau angereichertes Uran zudem in die AKW Doel 4 sowie Tihange 2 und 3. Damit sind die Bundesregierung und beide Landesregierungen in NRW und Niedersachsen tief in den Betrieb der von Ihnen zu Recht kritisierten Skandalreaktoren verstrickt. Es sind Ihre Genehmigungen für den Betrieb der UAA Gronau und der Brennelementefabrik Lingen, sowie Ihre Genehmigungen für Export und Transport, die den Betrieb dieser Reaktoren zum großen Teil überhaupt erst ermöglichen.

Sie können also auf Bundes- und Landesebene sehr viel tun, um die Stilllegung der betroffenen Atomanlagen zu erreichen - als ersten Schritt müssen Sie sofort die Belieferung mit Uranbrennstoff aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen einstellen.

Mit Interesse haben wir vernommen, dass Sie, Herr Minister Wenzel, in Hannover nun die Kundenliste von Areva in Lingen "prüfen" wollen. Wir erwarten, dass Sie diese Prüfung nun zügig gemeinsam durchführen und auch auf die Urananreicherungsanlage Gronau ausweiten. Wir erwarten zudem, dass als Sofortmaßnahme die direkte und indirekte Belieferung aller belgischen AKW sowie der AKW Fessenheim und Cattenom mit Brennelementen aus Lingen und angereichertem Uran aus Gronau sofort eingestellt wird.

Herr Minister Duin, als verantwortlicher Minister in NRW für die Atomaufsicht über die Urananreicherungsanlage Gronau müssen Sie angesichts der akuten Gefahren, die von den Pannenreaktoren in den Nachbarländern ausgehen, ganz im Sinne Ihrer Koalitionsvereinbarung von 2012 endlich die Urananreicherungsanlage Gronau stilllegen. Die Urananreicherung ist keine Nullrisiko-Technologie, denn das angereicherte Uran kommt in konkreten Reaktoren zum Einsatz, die konkrete Störfälle produzieren. Wir erinnern Sie daran, dass der Urenco-Konzern vor 2011 bereits den Fukushima-Betreiber Tepco beliefert hat.

Wenn Sie jetzt nicht gemeinsam handeln, machen sich die Bundesregierung und die Länder Niedersachsen und NRW mitverantwortlich für schwere Atomunfälle in unseren Nachbarländern. Mit dem viel gefeierten Atomausstieg hat dies absolut nichts mehr zu tun. Die Bundesrepublik Deutschland ist über die Urananreicherung in Gronau und die Brennelementefertigung in Lingen weiterhin in vollem Umfange auf dem europäischen und weltweiten Atommarkt tätig. Das ist eine sehr ernüchternde und beängstigende Feststellung fünf Jahre nach Beginn der Reaktorkatastrophe in Fukushima.

Die EU-Kommission verhandelt zurzeit mit Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland unter Leitung von Kommissar Maroš Šefčovič die Rolle der Atomenergie in der zukünftigen europäischen Energieunion. Hier erwarten wir eine verbindliche Stellungnahme von Ihnen, Frau Ministerin Hendricks, und von Ihnen, Herr Minister Gabriel, dass Atomenergie nicht zukunftsfähig ist. Bei einem Durchschnittsalter der 131 Reaktoren in der EU von 29 Jahren sind viele dieser Reaktoren extrem anfällig für Störfälle - siehe die genannten Beispiele Fessenheim, Cattenom, Doel und Tihange. Die Gesundheit und die Sicherheit von Millionen von Europäern ist stark gefährdet, nicht nur in Fukushima und Tschernobyl, auch in der EU kann es jederzeit zu einem nicht beherrschbaren Super-Gau kommen.

Darüber hinaus ist Atomenergie mit dem voraussehbaren Zuwachs an erneuerbarer Energie nicht kompatibel. Neubauten von Atomkraftwerken sind zudem auf ein hohes Maß an Subventionen angewiesen, sie sind nicht wettbewerbsfähig und belasten die europäischen Stromverbraucher/-innen für Jahrzehnte. Angesichts der stark gesunkenen Preise für Erneuerbare Energie ist eine solche Wirtschaftsförderstrategie geradezu absurd und extrem gefährlich.

Wir fordern Sie als zuständige Bundes- und Landesminister deshalb auf, unverzüglich die Urananreicherungsanlage Gronau und die Brennelementefabrik Lingen in das Atomausstiegsgesetz aufzunehmen und beiden Anlagen umgehend die Betriebsgenehmigung zu entziehen, damit diese nicht weiter den Betrieb von hoch gefährlichen AKW im In- und Ausland ermöglichen können.

Zudem haben wir folgende konkrete Fragen:

1. Welche aktuellen Export- und Transportgenehmigungen für angereichertes Uran aus Gronau und Brennelemente aus Lingen, die letztlich in Belgien und Frankreich zum Einsatz kommen (können), gibt es derzeit (bitte einzeln aufschlüsseln nach Art der Genehmigung, Umfang der Lieferung, Antragsteller, Endkunde und Dauer des Genehmigungszeitraums)?

2. Welche Anträge auf Export und damit verbundene Transporte von angereichertem Uran aus Gronau und Brennelementen aus Lingen liegen derzeit vor (bitte einzeln aufschlüsseln nach Antragsteller, Zeitpunkt des Antrags, Inhalt des Antrags, beantragter Umfang der Genehmigung sowie beantragter Zeitraum für die Genehmigung)?

3. Welche Behörden sind mit welchem Auftrag konkret in die Bearbeitung solcher Anträge eingebunden?

4. Welche Versagungsgründe gibt es bei der Bewilligung von Exporten von Brennelementen und angereichertem Uran derzeit?

5. Haben die Bundesregierung und/oder die beiden Landesregierungen in der Vergangenheit bereits Exporte von angereichertem Uran und Brennelementen untersagt? Wenn ja, wann und aus welchen Gründen?

6. In welchem Umfang hängen der Betrieb einzelner Reaktoren (z. B. Doel und Fessenheim) aufgrund der spezifischen Beschaffenheit der Brennelemente von der konkreten Belieferung aus Lingen ab?

7. Haben Bundes- und Landesregierung geprüft, inwiefern sie bei schweren Atomunfällen in Reaktoren, die wider besseren Wissens mit Brennelementen und angereichertem Uran aus Deutschland betrieben werden, auch in politische und finanzielle Mithaftung genommen werden können?

8. Haben sich die Bundesregierung und die beiden Landesregierungen aufgrund der sich zuspitzenden Diskussion um die belgischen und französischen Reaktoren bereits auf eine gemeinsame Linie abgestimmt?

9. Sind aktuell Treffen zwischen Ihnen auf Ministerebene geplant, um über die Zukunft der Exporte von Uranbrennstoff von Gronau und Lingen zu sprechen?

Über eine zügige Antwort würden wir uns sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie
Arbeitskreis Umwelt (AKU) Gronau
Elternverein Restrisiko Emsland
Arbeitskreis Umwelt (AKU) Schüttorf
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.
AntiAtomBonn
Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen
SOFA (Sofortiger Atomausstieg) Münster
Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V.

Ihre Antworten richten Sie bitte freundlicherweise an:
Dr. Angelika Claußen, c/o IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Email: kontakt@ippnw.de

Quellen-Anhang:
- https://www.edf.fr/groupe-edf/producteur-industriel/carte-des-implantations/centrale-nucleaire-de-fessenheim/actualites/neue-brennelemente-fur-fessenheim
- http://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/DE/fachinfo/ne/transportgenehmigungen.pdf?__blob=publicationFile&v=30
- http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/037/1803771.pdf
- http://www.enusa.es/wp-content/uploads/2015/02/newsletter_enusa4.pdf
- http://www.sngc.es/en/wp-content/uploads/2014/11/NuclearFuel.pdf
- https://www.admin.sc.gov/files/nac/Westinghouse_Plant_Overview_061412_SCNucAdvComm.pdf
- http://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/DE/fachinfo/ne/transportgenehmigungen.pdf?__blob=publicationFile&v=30


Der Offene Brief ist als PDF-Datei zu finden unter:
https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Brief_Bund_Land_Gronau_Lingen.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung vom 10. März 2016
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2016

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