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INTERVIEW/216: Profit aus Zerstörungskraft - gebrochene Rechte ...    Kerstin Rudek im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Kerstin Rudek über die niederschmetternde Fukushima-Katastrophe, die gute Zusammenarbeit der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit der japanischen Anti-Atom-Bewegung und darüber, daß der Spruch, "wir können noch viel von euch lernen", kulturspezifisch gedeutet werden muß ...


Kerstin Rudek ist bereits seit vielen Jahren in der Anti-Atom-Bewegung aktiv. Heute ist sie im Beirat der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, ehrenamtlich wie alle anderen Vorstandsmitglieder auch. Angefangen hatte sie bei der BI 1998 im Büro, mußte zwei Jahre darauf eine Auszeit nehmen, um sich um ihre Familie zu kümmern. 2007 ging sie in den Vorstand der BI und hatte dort den Vorsitz inne. Um nach fünf Jahren einen Wechsel an der Spitze zu ermöglichen und selber etwas Neues zu machen, hat sie 2012 den Vorstandsvorsitz an jemand anderen abgetreten und sich als parteilose Kandidatin auf der Liste der Linken als umweltpolitische Sprecherin für den Niedersächsischen Landtag aufstellen lassen. Mit nur 3,2 Prozent war die Linke jedoch deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. 2014 wurde die Mutter von sechs Kindern erneut in den Vorstand der BI gewählt und übt dort die Funktion einer Sprecherin für internationale Angelegenheiten aus.

Am Rande des Internationalen IPPNW-Kongresses, der vom 26. bis 28. Februar 2016 in Berlin stattfand, hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit Kerstin Rudek ein Interview zu führen.


Rudek als Rednerin am Mikrofon - Foto: Andreas Conradt / PubliXviewinG, freigegeben als CC BY-ND

Kerstin Rudek, Demonstration am 14.06.2014 in Hannover für die sofortige Stilllegung des AKW Grohnde
Foto: Andreas Conradt / PubliXviewinG, freigegeben als CC BY-ND


Schattenblick (SB): Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg kämpft seit Jahrzehnten gegen die Atomindustrie. Du bist dort für internationale Angelegenheiten zuständig und dadurch mit Fukushima befaßt. Wie kam es dazu?

Kerstin Rudek (KR): Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hatte mich zunächst unheimlich niedergeschmettert, das war eine schlimme Erfahrung. Ich hatte die letzten 25 Jahre meines Lebens neben meinem privaten Leben und dem Großziehen der Kinder alle Zeit, Kraft und auch sehr viel Geld in die Anti-Atom-Arbeit gesteckt. Als dann das Akw Fukushima explodiert ist und sich der radioaktive Fallout ausgebreitet hat, habe ich eine schwere Krise gehabt.

Mit Japan hatte ich bis dahin nichts zu tun. Doch im Mai 2011 war eine japanische Delegation in Deutschland unterwegs, um verschiedene Schauplätze von Widerstands- und Protestbewegungen zu besuchen. Die Delegation befand sich gerade auf dem Weg von Braunschweig nach Berlin, als ihr Termin kurzfristig abgesagt wurde. Daraufhin wurde unsere BI angerufen und wir wurden gefragt, ob sie einen Abstecher zu uns machen könnten. Wir haben uns spontan Zeit dafür genommen.

Aus dieser Begegnung ist dann ein sehr schöner Kontakt entstanden. Im Januar 2012 sind wir zu dritt aus der BI nach Japan gereist und haben an einer internationalen Konferenz für eine Zukunft ohne Atomkraft teilgenommen. Das war in der Stadt Yokohama, die liegt 40 Kilometer von Tokio entfernt, und es waren 11.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen. Die gesamte Reise dauerte zwar nur vier Tage, aber in der Zeit haben wir eine Reihe von Kontakten geknüpft, beispielsweise zu den Müttern von Fukushima, zum Club demokratischer Frauen, zur Eisenbahnergewerkschaft Doro-Chiba, zum großen Anti-Atom-Netzwerk NAZEN (Nationalkonferenz für die sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke) und einigen weiteren Akteuren.

SB: Hier in Deutschland hat man den Eindruck, daß die japanische Präfektur Fukushima weitgehend verstrahlt ist. Auch von Tokio wurde schon mal eine erhöhte Strahlung gemeldet. Hattest du nicht Sorge, nach Japan zu reisen?

KR: Bei dieser ersten Reise war ich gar nicht in der Region Fukushima gewesen, sondern nur in Tokio und Umgebung. Die Radioaktivität hat für mich eine Rolle gespielt. Als die beiden anderen aus der BI vorschlugen, nach Fukushima zu fahren, habe ich das abgelehnt. Wir waren nicht vorbereitet und hatten keine Ahnung, was uns dort erwartet hätte. Daraufhin haben die beiden ihren Plan fallen gelassen.

Dennoch hatte ich mir vorgenommen, mir Fukushima selber anzuschauen, weniger das Akw Fukushima und seine Umgebung, sondern ich wollte dort die Menschen treffen, weil ich festgestellt habe, daß es einen großen Unterschied macht, ob man etwas zu einer Sache liest und sich darüber informiert oder ob man die Menschen direkt trifft und sich mit ihnen austauscht.

Noch im selben Jahr bin ich mit einer anderen Delegation für die BI nach Japan geflogen und war dann auch in Fukushima. Dort haben wir die vom Tsunami zerstörten Gebiete besucht und waren in Gebieten, die außerhalb der Evakuierungszone liegen, aber dennoch als verstrahlt galten, wenngleich nicht sehr stark verstrahlt. Dort haben wir mit einem einfachen Geigerzähler Messungen durchgeführt, nicht zuletzt zur eigenen Dokumentation. Wir hatten auch Schutzkleidung und Masken dabei, haben uns aber nicht lange dort aufgehalten.

Das war schon ein komisches Gefühl, geradezu gruselig. Denn wir hatten natürlich keine Gewißheit, ob wir nicht doch radioaktive Partikel inkorporiert hatten oder was eigentlich mit den Schuhen ist, die wir anschließend wieder mit nach Hause schleppen. Ich habe mir dann nochmal klar gemacht: Die Menschen leben hier jeden Tag. Die müssen es da die ganze Zeit aushalten und dabei diese Ängste ertragen. Mein Risiko ist dagegen vergleichsweise klein.

Ich wohne selber in der direkten Umgebung von Gorleben. Das sind nur ungefähr vier Kilometer Luftlinie bis zu dem Zwischenlager, in dem 113 Castor-Behälter stehen, die hochgradig radioaktiv sind. Für mich ist Strahlung sowieso immer ein Thema. Auch besuche ich viele Orte, an denen protestiert wird und in deren Nähe sich Strahlenquellen befinden. Ich versuche durchaus, die Belastung für mich in Grenzen zu halten. Strahlung macht Krebs, das wissen wir.

SB: Wobei zumindest die nach außen abgegebene Strahlung von Gorleben um mehrere Größenordnungen unter der von Fukushima liegt.

KR: Ja, selbstverständlich, da sprechen wir über eine ganz andere Ebene. In Fukushima ist es tatsächlich so, daß da eine riesige Katastrophe stattgefunden hat und die Menschen fast alle traumatisiert sind. Gerade Eltern fragen sich sehr häufig, wo die Grenze ist, ab der sie einfach alles stehen und liegen lassen und weggehen, um nicht das Krebsrisiko ihrer Kinder zu erhöhen, auch wenn das bedeuten würde, daß sie dann verschuldet sind.

Es ist wirklich ein Dilemma, daß die Menschen in den verstrahlten Gebieten überhaupt nicht annähernd ausreichend Entschädigung von der Betreibergesellschaft Tepco und der Regierung erhalten haben. Der Unfall wird sogar verharmlost und die Menschen, die sich kritisch äußern, werden unter Druck gesetzt, sei es durch Geheimdienste und Polizei, die Entlassung vom Arbeitsplatz oder allgemein durch eine Diskriminierung gesellschaftlicher Art. Da gibt es viele Möglichkeiten, wie man leicht den Verstand verlieren kann, wenn man merkt: Es genügt, daß man einfach nur mal sagen muß, worunter man leidet und daß man es gern anders hätte, und schon löst man dadurch starke Repressionen gegen sich aus. Für die psychische Gesundheit braucht man auch Sozialkontakte, und in Japan fällt man leicht hinten runter, wenn man sich eben nicht so benimmt, wie die Gesellschaft es von einem erwartet.

SB: Ein persönliches Gespräch ist oft etwas vertraulicher, als wenn die Menschen mit der Presse oder den Behörden sprechen. Hattest du die Gelegenheit, in Japan auch mit Menschen zu sprechen und zu erfahren, was sie ganz persönlich zu sagen haben?

KR: Das war für mich sogar am spannendsten. Also wirklich zu schauen, wie es den Müttern dort geht. Worunter leiden die Väter? Wie ist es für ältere Menschen, die in einer Notunterkunft leben? Wir haben wahnsinnig wenig geschlafen und uns fast permanent mit Menschen getroffen. Einige Gespräche haben wir auch auf Video aufgezeichnet, um sie zu dokumentieren. Denn neben der Angst vor Krankheiten in Folge der Strahlung und der Angst um ihre Familien ist die Angst, vergessen zu werden, sehr groß. Das ist die Angst, daß der Rest der Welt zur Tagesordnung übergeht, überall das Leben weiter seinen Lauf nimmt, nur eben das eigene nicht. Manche Gespräche waren schwer zu ertragen, denn wir wußten, daß wir uns in einigen Tagen wieder ins Flugzeug setzen und nach Hause fliegen würden.

Eine Eigenheit der japanischen Menschen ist es, zu höflich und zu freundlich zu sein. Wo hierzulande jemand auf jeden Fall mit einem Nein antworten würde, da würde man dort als Antwort geben: Es wäre eine Möglichkeit. Doch hat die japanische Gesellschaft in den letzten fünf Jahren eine Entwicklung hinter sich, bei der zumindest einige Menschen auch sagen, daß für sie etwas nicht in Ordnung ist und sie von der Regierung und dem Akw-Betreiber in eine schwierige Lage gebracht worden sind.

Beispielsweise hatten wir Kontakt zu einer Familie, die ursprünglich knapp außerhalb der erweiterten Evakuierungszone lebte. Deren Radius war zeitweilig von 20 auf 30 Kilometer ausgedehnt worden, wurde dann aber wieder auf 20 Kilometer zurückgenommen. Die Radioaktivitätsfahne des Fallouts hat sich natürlich nicht an den 30-Kilometer-Radius gehalten, sondern es gab bzw. gibt innerhalb dieser Zone Gebiete, die überhaupt nicht verstrahlt sind, und es gibt außerhalb Gebiete, die sehr verstrahlt sind. An so einem Ort wohnte die Familie und hat keine angemessene Entschädigung angeboten bekommen. Ihr wurde gesagt, sie solle dort wohnen bleiben. Obwohl doch nachgewiesen worden war, wie hoch die Strahlung dort war!

SB: Würdest du sagen, daß die ausgewiesene Schutzzone im wesentlichen ein politischer Begriff war und sich die Behörden damit nicht am notwendigen Schutz der Gesundheit der Menschen orientiert haben?

KR: Auf jeden Fall. Eine Kategorie wie, "wir ziehen jetzt mal einen Kreis um die Unglücksstelle", hat nichts damit zu tun, wo etwas wirklich verstrahlt ist und wo nicht. Jenes japanische Ehepaar hatte mit seinen drei jugendlichen bis erwachsenen Kindern in einem wunderschönen Haus gewohnt, das es selber auf einem Grundstück errichtet hatte, das von ihm erstmal urbar gemacht werden mußte. Dort haben die beiden sich eine Kaffeerösterei mit zwei Anlagen aufgebaut, in denen sie importierten Biokaffee geröstet haben. Sie haben sich also etwas aufgebaut, von dem sie leben konnten, auch wenn sie nicht wohlhabend waren.

Durch die Reaktorkatastrophe war alles verstrahlt worden. Aber wie gesagt, sie lebten nicht innerhalb der Zone, in denen die Einwohner Unterstützung bekommen haben oder evakuiert worden wären. Also standen sie ganz allein da. Unmittelbar nach Ausbruch der Katastrophe waren sie bei befreundeten Familien untergekommen. Doch dann stellte sich irgendwann die Frage, ob sie alles aufgeben sollten - mit der klaren Aussicht, daß sie keine Entschädigung für ihre Verluste erhalten. Zunächst ist die Frau mit den Kindern weggezogen, nach zwei, drei Wochen ist ihr der Mann gefolgt. Auch das Dorf, in dessen Nähe sie gelebt haben, war verlassen.

Ich versuche mir immer selber vorzustellen, ob ich ohne Ersparnisse und Rücklagen Gorleben verlassen würde, wenn dort zum Beispiel ein Anschlag begangen würde und anschließend alles verstrahlt wäre. Ich nehme an, ich würde weggehen. Aber wenn dann, wie in Japan, die Regierung sagt, man sei dort sicher, wo man wohne, stellt sich schon die Frage, wie man sich in so einer Situation verhält.

SB: Was ist aus der Familie geworden?

KR: Wir haben sie zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem sie sich in der Nähe von Fukushima-Stadt ein Haus gemietet, ein kleines Café und wieder eine Rösterei, doch diesmal sehr viel kleiner, aufgebaut hatten. Sie haben sich eine Existenzgrundlage geschaffen und waren froh über ihre Entscheidung, weggegangen zu sein. Nun verklagen sie sowohl Tepco als auch die Regierung auf Schadenersatz. Man hatte ihnen zwar eine kleine Entschädigung angeboten, aber nur in Höhe von umgerechnet einigen tausend Euro. Das hätte nie und nimmer gereicht, um sich eine gänzlich neue Existenz aufzubauen. Sie haben das Geld nicht angenommen und statt dessen geklagt. Sie wollen die Summe, die ihr Besitz an Wert hatte, als Entschädigung. Dafür streiten sie vor Gericht.

Das war natürlich gesellschaftlich sehr verpönt. Von vielen Seiten wurde ihnen gesagt, daß doch jetzt alle die Lasten dieses Unglücks tragen müßten. Darauf hat die Familie stets den Standpunkt vertreten: Nein, das Unglück war nicht unsere Schuld, wir wollen, daß diejenigen dafür bezahlen, die das auch verursacht haben, und das sind der Betreiber und die Regierung.


Zwei Reihen mit kleinen Holzhäusern, dicht an dicht gebaut - Foto: Oeko-Institut e.V, freigegeben als CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

In solchen Notunterkünften lebt noch heute ein Teil der rund 160.000 Evakuierten aus der Präfektur Fukushima.
Foto: Oeko-Institut e.V, freigegeben als CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

SB: Wie gehen die alten Leute, die evakuiert wurden, mit ihrem erzwungenen Umzug um?

KR: Die leben teilweise noch heute in Notunterkünften. Das sind Holzhäuser einfachster Art, wenig isoliert und in Reihe gebaut, immer acht nebeneinander. Insgesamt sind es, wo wir waren, 80 Häuser. Darin leben jetzt Menschen, die zwischen 60 und 90 Jahre alt sind, teilweise alleine, ohne Hoffnung. Sie wissen nicht, ob sie jemals nach Hause kommen. Sie würden gerne zurückkehren, aber sie wollen natürlich auch nicht in einem verlassenen Dorf leben, wo niemand mehr ist, und ebenfalls wollen sie sich nicht der Strahlung aussetzen. Diese Menschen zu treffen war ziemlich schrecklich, weil wir ihnen gar nichts geben und ihnen keinen Mut machen konnten.

SB: Schließen sich die Leute in den Notunterkünften zusammen oder handelt es sich um einzelne Holzhäuser, in denen die Menschen eben auch vereinzeln?

KR: Die wohnen schon alleine, haben aber ein Gemeinschaftshaus, in dem sie auch zusammen essen können. Dort gibt es manchmal gemeinsame Aktivitäten. Einmal fand dort eine kleine Aufführung statt. Da kam ein Theaterspieler, der auch Musik machte und pantomimisch Geschichten erzählt hat. Einige Leute haben sehr gelacht. Aber man hat doch den Widerspruch gemerkt. Denn nach den fröhlichen zwei Stunden waren die Alten wieder allein und wurden ihrem Schicksal überlassen. Da war eine tiefe Traurigkeit zu merken. Das waren Menschen, die haben vorher selbstbestimmt gelebt, hatten ein Haus mit Garten, vielleicht noch einen Hund oder eine Katze, und Nachbarn, die sie kannten. Das war eine ganz andere Form von Leben. Das alles haben sie verloren.

Zum großen Teil haben die Alten auch abgebaut. Nach ein, zwei Monaten in den Notunterkünften haben sie jegliche Hoffnung verloren und sind teilweise pflegebedürftig geworden. Das wurde uns von einem Arzt berichtet, der die Alten schon aus der Zeit von vor der Evakuierung kannte.

SB: Wie sieht die Zusammenarbeit eurer BI mit den Fukushima-Betroffenen aus?

KR: Zunächst einmal unterhalten wir nach wie vor enge, gute und kontinuierliche Kontakte zu jenen Gruppen in Japan, die ich vorhin erwähnt habe. Jeden Montag findet in Dannenberg auf dem Marktplatz eine Mahnwache statt, zu der regelmäßig 20 bis 30 Personen kommen. Da tragen wir die Infos aus Japan rein und reden, was im Wendland und in der BRD allgemein an Anti-Atom-Aktionen oder Diskussionen läuft. Das tragen wir dann wieder als Infos nach Japan. Wir informieren uns gegenseitig, wie sich die Bewegung weiterentwickelt.

Außerdem haben wir von Anfang an die Fukushima-Kinderklinik unterstützt. In Japan werden die Kinder nur alle zwei Jahre auf eine Schilddrüsenveränderung hin untersucht. Die Eltern sind aber zu Recht sehr besorgt. Eine Ultraschalluntersuchung sollte wenigstens dreimal pro Jahr gemacht werden. Die ist nicht belastend, da gibt es keine Nachteile, die man befürchten muß. Es fehlt zwar auch an Untersuchungskapazitäten, aber vor allem fehlt es am Willen. Die Universitätsklinik in Fukushima lehnt es ab, die Untersuchung öfter zu machen als alle zwei Jahre. In der Kinderklinik dagegen können eigene Untersuchungen durchgeführt werden, deshalb unterstützen wir sie. Wir sammeln Spenden und machen Veranstaltungen, wo wir dann ebenfalls Spenden sammeln.

Ende August kommt wieder eine Delegation aus Japan nach Deutschland. Dann werden wir gemeinsam andere Gruppen besuchen und die Kontakte intensivieren. Wir arbeiten gemeinsam daran, den weltweiten Atomausstieg zu forcieren und daran mitzuwirken, daß eben nicht noch eine Reaktorkatastrophe passiert. Wir wollen gemeinsam Menschen überzeugen, sich dafür einzusetzen, daß es wichtig ist, sofort aus der Atomkraft auszusteigen.

SB: Kann es sein, daß es Japanern manchmal leichter fällt, sich mit ausländischen Besuchern über einige ihrer Probleme auszutauschen, weil es untereinander Tabus gibt?

KR: Das könnte eine Rolle spielen. Jedenfalls haben sie ein reges Interesse, daß man auch in Deutschland über die Probleme durch Fukushima berichtet. Dort ist es für die Anti-Akw-Bewegung schwierig, in den Medien Gehör zu finden. Zum Beispiel gehören viele Fernsehsender den Energieriesen. Da gibt es keine unabhängige Berichterstattung. Die Presse ist nicht frei. Vielleicht ist das ein Grund, weswegen bei ihnen so schnell der Gedanke einer länderübergreifenden Vernetzung entstanden ist. Sie wollten wissen, welche Probleme wir haben, welche Rolle wir im weltweiten Kontext der Atomkraft spielen und was sie von uns lernen können. Letzteres ist ein Satz, den wir dort sehr oft gehört haben. Wir haben darauf immer geantwortet, daß wir gar nicht in ihr Land gekommen sind, damit sie von uns lernen, sondern damit wir voneinander lernen können. Sie nähmen eigentlich für uns eine Vorbildfunktion ein, wie sie mit der Strahlung umgehen und würden gerne auch von ihnen etwas mitnehmen.

SB: Was habt ihr von den Menschen in Japan gelernt?

KR: Daß Solidarität sehr, sehr wichtig ist. Ich kenne das selber auch, ich bin oft sehr dankbar gewesen, daß man uns solidarisch begegnet ist. Wenn Castor-Transporte kamen, daß dann viele tausend Menschen zu uns gekommen sind. Ich lebe auch immer in dem Gefühl, daß wir etwas zurückgeben müssen.

Wir müssen unheimlich darum kämpfen, daß Deutschland schneller aus der Atomkraft aussteigt. Am liebsten sofort. Aber es ist eben auch genauso ein Bedürfnis und eine Verpflichtung, andere zu unterstützen, einfach im Gespräch zu sein, zu reflektieren, einander Tips zu geben und eben gemeinsam an einem weltweiten Atomausstieg zu stricken. Die Solidarität aus Japan ist da wirklich ein ganz probates Mittel.

SB: Hast du eine Rückmeldung darüber erhalten, was die Japaner vielleicht von euch gelernt haben?

KR: (lacht) Da könnte ich lustige Geschichten erzählen! Es geht dabei konkret um jenen Satz "wir können noch viel von euch lernen". Ich bin davon überzeugt, der hat in Japan eine andere Bedeutung als bei uns. Bei unserer zweiten Reise haben wir passend zum Gedenktag im August in Hiroshima an den Demonstrationen gegen den Atombombenabwurf teilgenommen. Auf dem Rückweg von Hiroshima kamen wir an der Insel Iwaishima vorbei, deren Bewohner sich seit über dreißig Jahren erfolgreich gegen den Bau eines Atomkraftwerks auf der gegenüberliegenden Landseite zur Wehr setzen.

Auf der Akw-Baustelle ist noch nicht viel geschehen. Es handelt sich um ein nicht-gesichertes Baugelände, das direkt am Meer liegt. Wir sind dort hingefahren, es waren 45 Grad im Schatten. Plötzlich tönte da ein Lautsprecher los, natürlich auf Japanisch: "Bitte betreten Sie nicht das Gelände! Verlassen Sie sofort das Gelände! Sie befinden sich auf Akw-Gelände!"

Unsere Übersetzer wollten schon wieder gehen, doch da waren keine Wachleute, und so haben wir gesagt: "Wißt ihr was, Leute, wir sind am Rande unserer Kräfte, es ist ja so furchtbar heiß heute. Wir springen mal kurz ins Meer." Wir haben dann unsere Sachen bis auf die Unterwäsche ausgezogen und sind im Meer schwimmen gegangen. Unsere Gastgeber standen ganz brav am Rand und haben uns bloß zugeschaut. Die wären im Leben nicht auf die Idee gekommen, mit uns ins Wasser zu gehen. Dann sagte unser Übersetzer: "Wir können noch viel von euch lernen." (lacht) Das war aber so gemeint wie: "Ihr seid total verrückt, was macht ihr da!"

SB: Vielen Dank, Kerstin, für das Gespräch.


Blick über eine malerische Buch auf die Insel - Foto: BrackWorry, freigegeben als public domain

Die weitgehend autonom lebenden Einwohner der Insel Iwaishima verhindern seit über dreißig Jahren, daß auf der Landseite ein Atomkraftwerk errichtet wird, durch das das Ökosystem Meer nachhaltig gestört würde. April 2009
Foto: BrackWorry, freigegeben als public domain


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

INTERVIEW/209: Profit aus Zerstörungskraft - so was wie Diabetes ...    Liudmila Marushkevich im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0209.html

INTERVIEW/210: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0210.html

INTERVIEW/211: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0211.html

INTERVIEW/212: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 3 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html

INTERVIEW/213: Profit aus Zerstörungskraft - die Faust des Bösen ...    Jonathan Frerichs im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0213.html

INTERVIEW/214: Profit aus Zerstörungskraft - den Finger in der Wunde ...    Dr. Ian Fairlie im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0214.html

INTERVIEW/215: Profit aus Zerstörungskraft - Augenwischerei ...    Mycle Schneider im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0215.html

22. April 2016


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