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INTERVIEW/068: Fukushima - Gesichter des Widersinns, Gespräch mit dem japanischen Fotografen Tsukasa Yajima (SB)


Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima. Was bedeutet Fukushima 3/11?
Für die Menschen in Japan, die Bevölkerung des Planeten, und für globale Aufstände
Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung am 22. November 2013

Tsukasa Yajima über die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen in Japan seit dem 11. März 2011



Tsukasa Yajima wurde 1971 in Takasaki nordwestlich von Tokio geboren und ist dort aufgewachsen. Nach einem Studium der Geschichte in Waseda und Fotografie am Nippon Photography Institute in Tokio war er als Fotograf für Japans liberale Tageszeitung Asahi Shimbun in der Hauptstadt tätig. Seit 2006 lebt und arbeitet er als freier Fotograf und Journalist in Berlin. Seine thematischen Schwerpunkte sind Kriegsopfer und Menschenrechtspolitik. Mit seinen Arbeiten versucht er u.a. an der Aufarbeitung japanischer Menschenrechtsverletzungen an Koreanern beizutragen. Vor dem zweiten Weltkrieg waren viele als mehr oder weniger versklavte Arbeitskräfte ins Land geholt worden. Unter schweren Diskriminierungen und Mißbrauch hatten hier besonders die Frauen zu leiden. Für ihre Rechte engagiert er sich. Von 2003 bis 2006 lebte er mit verbliebenen Trostfrauen im "Haus des Teilens" (Heim für die Überlebenden des Mißbrauchs) in Südkorea zusammen, wo es ihm gelang, ein schlichtes und völlig unvoyeuristisches Porträt dieser Frauen mit Fotos und Gesang zu erstellen. [1]

In dem Jahr, in dem zwei Naturkatastrophen, d.h. ein Erdbeben und ein Tsunami und mehrere Kernschmelzen im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zusammentrafen, war Tsukasa Yajima zufällig gerade zeitgleich in Tokio tätig. Seither ist er nicht nur, wie er selbst ein wenig beschämt einlenkte, bekehrter Sympathisant der neuen japanischen Anti-Nuke-Bewegung, sondern unterstützt die Solidaritätsbekundungen für Fukushima der deutschen Atomkraftgegner aktiv. Darüber hinaus begleitet er mit seinen Fotodokumentationen auch Aktivitäten gegen Kernkraftwerkspläne in Korea oder in anderen Teilen der Welt, vor allem, wenn sie in Berlin geäußert werden. Aus diesem Grund war er zu der Einladung Dario Azzellinis zur Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung gefolgt, auf der Sabu Kohso über die sozialen Entwicklungen in Japan nach Fukushima 3/11 sprach, der ihn und Sigrid Oberer gemeinsam mit Marina Sitrin aufgrund ihres Sachverstands und ihrer Arbeiten zum Thema immer wieder in die anschließende Diskussion einbezog. [2]

Wie viele Japaner habe er in der Schule gelernt, Atomwaffen abzulehnen, aber zur reinen Energiegewinnung genutzte Kernkraft, nach dem bereits 1953 geprägten Motto des US-amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower "Atoms for Peace" (Atome für den Frieden), als "umweltfreundliche und energieeffiziente" Technologie zu schätzen.

Er schilderte den Spalt der Generationen, der sich seit der Reaktorkatastrophe in Japan vollzogen hat: einerseits die Schicksalsgläubigkeit der älteren Menschen vor Ort und ihre doppelbödige Moral, mit der die gleichen Menschen, die unweit von Fukushima die Auswirkung der Katastrophe totschweigen helfen, den Menschen, die aus Fukushima stammen, ein soziales Stigma anhängen, so daß sie keine Arbeit mehr finden und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Andererseits die jungen Leute, die sich gegen Atomkraft organisieren. Der größte Verrat geschähe aber derzeit an den Kindern, die man nicht rechtzeitig mit Jodtabletten versorgt habe und denen jetzt nicht nur die unbeschwerte Jugendzeit, sondern möglicherweise durch die Spätfolgen auch die Zukunft genommen werde. Bereits zwei Jahre nach der Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima läßt sich bei Kindern in Fukushima ein signifikanter Anstieg an potentiellen Veränderungen in der Schilddrüse feststellen, die von der Gesundheitsbehörde systematisch verschleiert und heruntergespielt werden sollen.

Nach der Veranstaltung erklärte er sich spontan bereit, dem Schattenblick noch einige Fragen über sein persönliches Verhältnis zu den Ereignissen in Fukushima zu beantworten.

Tsukasa Yajima wollte nicht photographiert werden, er photographiere lieber selbst. Das Beispiel seines photographischen Beitrags für Kriegsopfer soll für ihn selber sprechen. [1]

Schwarz-weiß Aufnahme von drei älteren Damen in T-Shirts vor einem Banner mit Schriftzeichen - Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

Wednesday Demonstration before Japanese Embassy, Korea
Mittwochs Demonstration vor der Japanischen Botschaft in Seoul, Korea
Überlebende Trostfrauen kämpfen immer noch um eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung durch die japanische Regierung, die ihnen jedoch bisher noch von jeder amtierenden Regierung verweigert worden ist, obgleich sie ihnen zustünde.
Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

Schattenblick (SB): Tsukasa, kannst du uns deine Arbeit einmal vorstellen?

Tsukasa Yajima (TY): Ich heiße Tsukasa Yajima und bin Berufsfotograf. 2006 bin ich nach Deutschland gekommen. Seit 2007 lebe ich in Berlin. Mein inhaltlicher Schwerpunkt sind Kriegsopfer und Menschenrechtspolitik. Der Fokus liegt auf den sogenannten Trostfrauen.

SB: Wer sind die Trostfrauen?

TY: Die Comfort Women waren eigentlich die Sex-Sklavinnen für die japanischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. 200.000 Frauen wurden vom japanischen Militär ausgenutzt. Ich habe in Südkorea in der Nähe von Seoul drei Jahre mit den überlebenden Trostfrauen zusammengelebt. Dort gibt es ein Wohnprojekt, das heißt "Das Haus des Teilens". Damals haben etwa zehn bis zwölf ehemalige Trostfrauen dort gewohnt. Zwischen 2003 und 2006 führte ich mit diesen Frauen zusammen ein Foto-Projekt durch. Eigentlich bin ich von dem Haus und dem dazugehörigen Museum damals als Geschichtswissenschaftler und Museumsführer angestellt gewesen, denn es kommt viel Besuch aus Japan, um diese Frauen zu treffen und ihre Geschichten direkt zu hören oder durch den Besuch des Museums ihre Leidensgeschichte kennen zu lernen. Für die Frauen ist es aber eigentlich unzumutbar mit diesen Besuchern japanisch sprechen zu müssen. Dafür wurde ich eingestellt.

Das ist ein Teil der japanischen Vergangenheitsbewältigung. Als eine meiner Aufgaben verstehe ich die Aufarbeitung dieser Vergangenheit, die zweite ist die, auf diese Frauen aufzupassen, mich um sie zu kümmern und die dritte, mit anderen Mitarbeitern zusammen mein Foto-Projekt zu machen.

SB: Hast du wegen dieser Arbeit über Trostfrauen nicht Schwierigkeiten bekommen, weil sie eigentlich in der japanischen Gesellschaft tabu sind? Gerade in jüngster Zeit wurde wieder behauptet, so etwas hätte es gar nicht gegeben.

TY: Eine kleine Korrektur: Trostfrauen sind heute kein Tabu mehr in Japan. Das liegt an der Entwicklung der Internet-Gesellschaft. Dadurch kennt auch die jüngere Generation inzwischen die Geschichte der Trostfrauen.

SB: Hat sich Deine Arbeit durch Fukushima geändert, einen zusätzlichen Aspekt bekommen?

TY: Am 11. März 2011, das war am Tage des GAUs von Fukushima, war ich zufällig in Tokio und habe dort die große Katastrophe vor Ort miterlebt. Und ich muß ehrlich zugeben, davor hatte ich fast kein Interesse für die Atompolitik oder die Anti-Atombewegung. Wir haben zwar auch in der Schule gelernt, daß Japan das Opferland der Atombombe ist und Radioaktivität gefährlich für Menschen, gesundheitlich, körperlich und auch psychologisch. Aber "Atom for peace" ist eigentlich in mein Bewußtsein eingepflanzt. Das heißt, ich habe schon verstanden, daß AKWs gefährlich sind, das war schon klar, vorher auch, aber persönlich hatte ich vielleicht irgendwie ein wenig diese AKW-Politik akzeptiert. Durch die direkte Erfahrung des GAUs von Fukushima bin ich aber nun komplett dagegen.

SB: Und das hat dich inhaltlich auf andere Ideen gebracht?

TY: Mit Sigrid Oberer zusammen habe ich sechs Monate nach dem GAU im AKW Fukushima Japan besucht. Im September und Oktober 2011 trafen wir in Tokio japanische Anti-AKW-Aktivisten und -Aktivistinnen, machten Interviews und filmten. Sigi hat ein Schilddrüsen-Problem. Sie durfte nicht mit mir zusammen Fukushima besuchen, was ich deswegen alleine unternahm. Dort traf ich dann auch Nicht-Aktivisten und normale Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Fukushima und der Stadt Minamisoma. Ein Teil von Minamisoma liegt am Rande der Sperrzone des AKW Fukushima. Damals konnte ich mich bis zu 20 Kilometer vor dem Reaktor aufhalten. Dann gab es Police-Checkpoints, weiter durfte ich nicht hineingehen. Dort habe ich Interviews gemacht, fotografiert und gefilmt.

SB: Wie würdest du die Stimmung unter den Menschen in Fukushima beschreiben? Du bist ja relativ kurz nach dem Beginn des Unglücks dort gewesen.

TY: Sie ist unterschiedlich zwischen Tokio und Fukushima. Damals habe ich auch meine Familie besucht. Sie wohnt jetzt in der Präfektur Gunma, ungefähr 100 Kilometer von Tokio und nur 200 Kilometer vom Fukushima-Reaktor entfernt. Und bereits kurz nach der Katastrophe waren in meiner Heimat beispielsweise Wasser, Gemüse oder Flußfische höher bestrahlt oder kontaminiert als davor. Mein Vater hat zum Beispiel dennoch immer das Fenster in seinem Zimmer aufgelassen, immer auf. Und ich habe ihn gefragt 'wieso machst du das, da kommen doch Radiopartikel herein', aber er hat gesagt, das sei nur eine Demagogie der Linken. Er ist sehr konservativ, war früher Polizist. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Worte, das zu beschreiben.

Oder in Tokio - meistens haben wir AktivistenInnen in Tokio getroffen. Sie setzen sich stark gegen die AKW-Politik ein, aber die allgemeine Stimmung, zum Beispiel in der U-Bahn oder auf der Straße, in Restaurants, Cafés oder so, ist immer die gleiche: Es ist geschehen. Es schien wieder das ganz normale Leben eingekehrt zu sein. Nur sechs Monate später!

In Fukushima ist es ein bißchen anders. Ich habe dort nicht nur AktivistenInnen, sondern auch BewohnerInnen getroffen und interviewt. Sie erzählten mir, daß die Familienstruktur kaputtgegangen ist. Zum Beispiel habe ich zufällig einen Mann an der Bushaltestelle nach seiner Erfahrung gefragt. Er hatte vor dem GAU schon alleine in Tokio gearbeitet und seine Familie lebte in der Stadt Fukushima. Jedes Wochenende hat er seine Familie in Fukushima besucht, das war sein normales Leben. Aber nach dem GAU hat er seiner Familie vorgeschlagen, mit ihm zusammen in Tokio zu leben. Seine Frau und ihre Familie waren jedoch dagegen. Und sechs Monate lang hat er dann jedes Wochenende wie früher seine Familie in Fukushima besucht und versucht sie zu überzeugen, aber sie waren immer weiter dagegen. So fing er mit der Familie zusammen an, über eine Ehescheidung zu sprechen. Diese Geschichte habe ich direkt von ihm gehört.

SB: Es ist wohl kein Einzelfall, daß es nicht nur ein physikalischer GAU war, sondern auch ein sozialer. Was die Diskriminierung von Leuten betrifft, die aus Fukushima kommen, haben wir gehört, daß Ehen zerbrechen oder Verlobungen nicht mehr zustande kommen, weil die Familien den aus Fukushima stammenden Partner nicht mehr für "passend" oder "angemessen" ansehen, weil er in ihren Augen verstrahlt ist und vielleicht mißgebildete Kinder bekommen wird.

TY: Ich habe die Geschichte eines Mannes in Fukushima gehört, dem Mitarbeiter einer Meßstation. Kurz nach dem GAU ist der wegen seiner Arbeit in andere japanische Orte gefahren und hat sich vor einem Spätkauf angestellt, um etwas zu kaufen. Aber jemand auf der Straße hat seine Autonummer gesehen. Darauf steht "Fukushima". Die Leute sind zu ihm gekommen und haben ganz laut zu ihm gesagt: "Oh, du kommst aus Fukushima. Euretwegen haben wir jetzt große Probleme. Get out of here! Geh raus hier!

Er sagte mir, daß er eigentlich vorgehabt hatte, seinen Sohn auf dieser Fahrt mitzunehmen, und froh war, daß ihm diese Erfahrung erspart geblieben ist. Denn diese Diskriminierung hätte ihn noch tiefer verletzt und die Kinder leiden ohnehin schon sehr unter diesen Verhältnissen. Solche Geschichten haben mir die Menschen dort erzählt. Japaner diskriminieren andere Japaner wegen Fukushima.

SB: Die Folgen der Bombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki besonders bei den Opfern wurden früher stark tabuisiert, weil sie mit Diskriminierungen verbunden waren. Hat sich da bezogen auf Fukushima heute schon etwas geändert?

TY: Wie gesagt, es gibt zwei Anwendungen von Kernkraft, die in Japan ganz unterschiedlich aufgefaßt werden. Die eine betrifft die Atomwaffen und dagegen sind alle: die Bevölkerung, die Anti-AKW-Bewegung und sogar die Regierung. Die zweite ist "Atoms for peace", die friedliche Kernkraftnutzung. Diese zweite haben wir alle noch lange akzeptiert. Traditionell haben sich daraus zwei große Anti-Nuke-Organisationen in Japan herausgebildet. Jede für sich ist sehr groß. Diese beiden Organisationen haben sich bisher für die Abschaffung von Atomwaffen "Atoms for Weapon" ausgesprochen, haben aber die friedliche Nutzung nicht in Frage gesellt. Kernkraftnutzung zur Energiegewinnung war in ihren Augen okay, und so haben wir eigentlich alle gedacht. Aber beide Organisationen sind inzwischen auch gegen die AKW-Politik der Regierung. Mit anderen Worten es hat schon ein großes Umdenken stattgefunden.

SB: Wie bewertest du das Anliegen von Sabu Kohso, er hat ja von internationaler Verbindung gesprochen oder den Wunsch sich zu vernetzen, und letztlich besteht sein Ziel darin, Japan sozusagen als Nationalstaat abzuschaffen, wenn ich das richtig verstanden habe. Wie stehst du zu diesem Anliegen einer anarchistischen Graswurzelbewegung, wenn ich das richtig verstehe?

TY: Okay, ich bin auch anarchistisch orientiert, aber leider gibt es in Japan ganz wenige Anarchisten. Deswegen, ehrlich gesagt, erwarte ich nicht zuviel davon.

Wie Sabu erzählt hat, haben ganz unpolitische Menschen eine Bewegung angefangen, die eine politische Änderung in der Bevölkerung deutlich macht. Allerdings gab es bei den letzten Wahlen eine mysteriöse Erscheinung, daß die Gegner der Kernkraft, die in Japan eigentlich sehr stark sind, im Wahlergebnis kaum vorkommen. Das Ergebnis der Wahl ist daher für uns sehr enttäuschend.

SB: Gibt es Hinweise auf politische Manipulationen?

TY: Die Informationen, die Tepco und die japanische Regierung uns gegeben haben, sind, wie man sagt, manipuliert. So wird die Strahlungsbelastung immer wesentlich niedriger angegeben als die tatsächlichen Werte. Die Gefahr wird von offizieller Seite heruntergespielt. Der Direktor eines medizinischen Teams in Fukushima, an der medizinischen Universität, ein Bewohner des Atomdorfs, hat zum Beispiel etwas sehr Komisches, sehr, sehr Unwissenschaftliches gesagt, wenn man viel lächelt, schaden die Strahlen einem nicht. Habt ihr diese Geschichte gehört? [3]

Ein Strand, an dem Menschen sommerlichen Vergnügungen nachgehen, nur liegt das Stück an der Pazifikküste, wo kontinuierlich jeden Tag Tonnen radioaktiv kontaminierten Wassers ins Meer fließen. - Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

'Wenn man viel lächelt, schaden die Strahlen nicht' - Lachende Badende an der verstrahlten Küste von Fukushima.
Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

SB: Wir haben die Geschichte gehört, ja.

TY: Durch die Blog-Bewegungen schreiben viele Leute über Radioaktivität, aber sie sind keine Profis. Wenn Experten diese Informationen sehen, finden sie viele, viele Fehler. Das ist ein Problem. Ich finde, Information muß immer richtig sein. Deswegen glaube ich, professioneller Journalismus ist auf jeden Fall notwendig. Aber diese Profi-Journalisten in Japan waren auch früher Mitbewohner vom Atom-Dorf. Sie haben Geld von Tepco bekommen oder andere Zuwendungen als Werbung und so. Deswegen ist das Vertrauen zu den japanischen Profi-Medien oder Großmedien ehrlich gesagt verloren gegangen. Es ist also sehr, sehr schwierig für Japaner, herauszufinden, welche Informationen richtig sind. Wir können nicht mehr den Informationen der Regierung oder Tepco vertrauen, gar nicht. Aber andererseits sind auch die Information der AKW-Gegner problematisch. Deswegen ist es die erste Aufgabe und sehr notwendig in Japan, glaube ich, korrekte, unbeeinflußte Informationen zu finden.

Zum Beispiel gibt es in Deutschland viele Institute oder NGOs gegen AKWs, die auch gutes Hintergrundwissen haben. Es wäre wichtig, das in japanisch zu übersetzen und ins Internet zu stellen. Aber nicht nur Deutschland, sondern sogar die USA oder andere Länder könnten dazu beitragen. Auf diese Weise kann man Netzwerke knüpfen und solidarisch global die Bewegungen zusammenbinden, das ist natürlich auch eine Möglichkeit.

Gestern abend gab es beispielsweise die Vorführung eines sehr guten Dokumentarfilms an der Freien Universität Berlin. Diese Film wurde von einem amerikanischen Filmemacher in Tokio zum Thema Kinder in Fukushima gemacht. Die Kinder bekommen alle Schilddrüsen-Krebs.

Während der Veranstaltung vorhin wurde schon über die Geiger-Zähler gesprochen, die sich japanische Bürger selbst anschaffen, weil den öffentlichen Meßangaben nicht zu trauen ist. Aber die Qualität dieser verfügbaren Geiger-Zähler ist durchaus zweifelhaft. Es gibt natürlich gute, hochwertige. Aber die Geiger-Zähler, von denen im Film die Rede war und welche die Mütter häufig benutzten, um ihre Kinder vor kontaminierter Nahrung zu schützen, waren nicht gut genug. Das waren ganz kleine, einfache Geräte, und man sollte die Frauen zumindest dahingehend unterstützen, daß man ihnen zumindest Geiger-Zähler gibt, mit denen sie zuverlässige Meßergebnisse erzielen können.

SB: Wir haben davon erfahren, daß die Meßstationen fast immer nur die Hälfte von dem anzeigen, was real gemessen werden könnte, obwohl sie angeblich auf die Strahlung von Cäsium-134 oder Cäsium-137 kalibriert wurden. Es gibt Bilder, auf denen ein korrekt kalibriertes Instrument daneben gehalten wurde. Es war tatsächlich so. Darüber hinaus wird die Strahlung von Plutonium und Uran überhaupt nicht detektiert. Auch das wurde vorhin diskutiert. Ein deutscher Umweltjournalist, Alexander Neureuter, hat auf offener Straße in Minamisoma sogenannten "Schwarzen Staub" gefunden, der mit Uran und Plutonium kontaminiert war, der vermutlich bei der Kernschmelze in Fukushima aus den Brennstäben freigesetzt worden ist [3]. Er war den Hinweisen eines buddhistischen Mönchs aus der Gegend nachgegangen, der inzwischen als verschollen gilt. Hast du von dem Mönch gehört, von dem man nicht mehr weiß, wo er geblieben ist? Er hatte vor der Strahlung gewarnt?

TY: Ich kenne seit 2000 einen buddhistischen Mönch aus Hokkaido, der dieses Jahr in Berlin gewesen ist. Er führt jetzt ein Evakuierung-Projekt für die Leute in Fukushima nach Hokkaido durch. Aber sein Projekt hat finanzielle Probleme. Bisher gab es von der Stadt Fukushima oder staatliche finanzielle Unterstützung, aber dieses Jahr nicht mehr. Er muß das Geld mit Hilfe von Spenden zusammenbekommen. Damit versucht er, in diesem Sommer Kinder von Fukushima nach Hokkaido zu schicken, die dann ungefähr zwei Monate - nicht so lang, aber besser als nichts - dort bleiben können.

SB: Einfach mal aus Fukushima, aus der Strahlungs-Region, weg. Solche Projekte gab es auch für die Kinder aus Tschernobyl, die nach Deutschland gekommen sind. Es ist inzwischen bekannt, daß die Kinder zum Teil Verhaltensstörungen bekommen, weil sie nicht mehr nach draußen gehen und spielen bzw. ihre normalen sozialen Kontakte pflegen können, weil die Eltern sie lieber im Haus halten. Außer den Schilddrüsenerkrankungen, der Gefahr der Kontamination, werden die Kinder nun fettleibig, weil sie nicht genug Bewegung bekommen. Es kommen also andere, weitere gesundheitliche Probleme hinzu.

Abgetragene Erde, vier Arbeitskräfte in unterschiedlicher, auf keinen Fall vorschriftsmäßiger Bekleidung für die radioaktive Dekontamination. Keiner trägt einen Ganzkörper-Schutzanzug. - Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

Kontaminierende Dekontaminations-Erdarbeiten auf dem Schulhof einer Schule in Fukushima.
Foto: © 2013 by Tsukasa Yajima

TY: Ja. Die Kinder haben es am schwersten. In dem Film, von dem ich sprach, wurde auch gezeigt, daß in den Schulen zwar eine Dekontamination durchgeführt wurde. Aber bereits auf der anderen Seite des Zaunes hinter dem Schulhof, wo die Kinder täglich jeden Tag zur Schule und nach Hause gehen, wurde überhaupt keine Dekontamination gemacht. Es wurde gezeigt, wie unterschiedlich das Kontaminierungsniveau auf der Seite der Schule und auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist. Das war gravierend. Doch der Schulleiter hat dafür jede Verantwortung abgelehnt. Sie hätten alles gemacht, was ihnen das Bildungsministerium oder der Staat vorgeschrieben habe, hieß es. Zwar würden die LehrerInnen gerne aus eigener Initiative mehr für die Kinder tun, aber der Schulleiter möchte nicht für etwaige Folgen, den Kopf hinhalten müssen.

Das heißt aber, die Opfer einer gesellschaftlichen Struktur, die die Verantwortung einfach darauf abschiebt, daß gesagt wird, das ist ein "Befehl der Regierung", sind die Kinder.

SB: Vielen Dank, Tsukasa Yajima, für dieses aufschlußreiche Gespräch.

Anmerkung:

[1] Bilder und weitere Projekte des Fotografen finden Sie hier:
www.tsukasayajima.com

[2] Berichterstattung zum Vortrag von Sabu Kohso im Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung am 22. November 2013, "Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima. Was bedeutet Fukushima 3/11? - Für die Menschen in Japan, die Bevölkerung des Planeten, und für globale Aufstände?"
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0060.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0061.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0064.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0065.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0066.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0067.html

[3] Nähere Informationen zu Verschleierungstaktiken der japanischen Regierung auch in den folgenden Berichten:
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0059.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0060.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0061.html
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0062.html

Aktuelle Beiträge zu technischen, umweltrelevanten und gesellschaftlichen Katastrophenfolgen der seit dem 11. März 2011 entufernden Kernschmelzen im AKW Fukushima Daiichi finden Sie auch in den folgenden Rubriken:
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18. Dezember 2013