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INTERVIEW/001: Dr. Matthias Lüdeke, Klimaforscher (SB)


Interview mit dem Klimaforscher Dr. Matthias Lüdeke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung


Auf der jüngst zu Ende gegangenen UN-Klimakonferenz in Kopenhagen wurden grundlegende Fragen zum Gewaltverhältnis der menschlichen Gesellschaft erfolgreich vermieden. Dieses auf den nicht zu übersehenden Nord-Süd-Konflikt zurückzuführen hieße allerdings, die innergesellschaftlichen Widersprüche beider Hemisphären zu ignorieren. Gäbe es keinen Klimawandel, würde er von den vorherrschenden Kräften erfunden werden, um die Menschen vor dem Hintergrund einer planetenumspannenden Bedrohung als globale Schicksalsgemeinschaft einzuschwören. Schließlich sollen mit solch ideologischem Kitt die Privilegien eines kleinen Teils der Menschheit zu Lasten der Mehrheit gesichert und für das 21. Jahrhundert unumstößlich befestigt werden.

Die Gefahr von vermehrten Dürren, Stürmen und Überschwemmungen, die den Mangel an Überlebensvoraussetzungen wie Trinkwasser, Getreide und Energie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten anwachsen lassen, wird von den dominierenden Interessen als Vorwand zur Einführung umfassender regulatorischer und ordnungspolitischer Zwangsmaßnahmen instrumentalisiert. Dabei haben die gleichen Staats- und Regierungschefs, die sich angeblich für den Klimaschutz einsetzen wollen, schon längst einen großen Teil der Menschheit abgeschrieben, wie nicht zuletzt die im Jahre 2000 beschlossenen Millenniumsziele beweisen. Die sehen eine Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 vor, was umgekehrt bedeutet, daß die internationale Staatengemeinschaft beschlossen hat, die andere Hälfte zu opfern. Im übrigen ist für heute mehr als eine Milliarde Hungernde in der Welt der Klimawandel eine Luxusbedrohung verglichen mit ihrer unmittelbaren Existenznot.

Gemessen an dem von den Regierungen zuvor formulierten Anspruch, entschiedene Maßnahmen gegen die weitere Erderwärmung ergreifen zu wollen, von der vor allem die ärmeren Länder betroffen sein werden, ist die Klimakonferenz von Kopenhagen gescheitert. Damit und in weiterer Hinsicht hat sie sich jedoch als zukunftsweisend herausgestellt. Während im Innern des Verhandlungsgebäudes die Delegierten versuchten, vorteilhafte Positionen für künftige Verteilungskämpfe zu erwirtschaften, wurde besorgten Bürgern, zivilgesellschaftlichen Gruppen, dem Staatsfernsehen und selbst den Präsidenten von Venezuela und Bolivien zu verstehen gegeben, daß nicht etwa mit ihnen, sondern über sie hinweg die Zukunft der Menschheit entschieden werden soll.

Zu einem besonders einprägsamen Vorgeschmack auf die sich verengenden globalgesellschaftlichen Verhältnisse verhalf die dänische Polizei jenen Zaungästen, die nicht nur Bittgesuche und Protestnoten, sondern auch ihre Empörung auf Demonstrationsmärschen an die Konferenzteilnehmer zu addressieren versuchten. Hunderte Demonstranten wurden willkürlich selektiert, gefesselt und anschließend mehrere Stunden lang in Reihen sitzend auf eiskaltem Asphalt zum Ausharren gezwungen. Jeweils ein Sack über dem Kopf hätte das Bild vervollständigt, denn Klimaschutzaktivisten werden in einigen EU-Ländern bereits nach der Terrorismusgesetzgebung abgeurteilt.

Der Schattenblick erhielt die Möglichkeit, am 2. Dezember 2009, also wenige Tage vor der UN-Klimakonferenz, im Anschluß an den Besuch der "Fachtagung WeltRisikoIndex. Katastrophenexposition - Vulnerabilität - Bewältigung - Anpassung" (*) des "Bündnis Entwicklung Hilft" in Berlin mit dem Klimaforscher Dr. Matthias Lüdeke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung über den WeltRisikoIndex, die Klimaentwicklung und die möglichen gesellschaftlichen Implikationen zu sprechen.

(*) Siehe UMWELT -> REPORT -> BERICHT/001: WeltRisikoIndex - Besuch einer Fachtagung (SB)


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Dr. Matthias Lüdeke beim Fachgespräch

Dr. Matthias Lüdeke beim Fachgespräch

Schattenblick: Ist es aus Ihrer Sicht problematisch, wie die verschiedenen Kriterien für den WeltRisikoIndex in Datensätze verpackt und gemeinsam eingedampft werden, nur um von da wiederum in die Regionen gehen zu müssen, also doch wieder zu differenzieren?

Dr. Matthias Lüdeke: Ja, wenn das Selbstzweck wäre, dann wäre das sicherlich problematisch. Aber es macht Sinn und ist nötig, das in der globalen Gesamtschau zu betrachten. Wir hatten schon für die lokale Analyse Indikatoren vorgeschlagen, die ein bißchen detaillierter waren. Darüber hatte Herr Birkmann [1] bereits berichtet. Einer meiner Vorschläge wäre gewesen, von da ausgehend zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene aggregierten Indikatoren die Details eigentlich hinreichend wiedergeben oder nicht. Darüber wurde auf der Fachtagung durchaus diskutiert.

SB: Dennoch meine Frage an Sie als Klimaforscher: Sie arbeiten mit riesigen Datensätzen, benötigen die größten Computer der Welt, um Ihre Klimasimulationen zu erstellen, und jetzt wird hier der Klimawandel als ein Faktor angenommen, der dann mit anderen korreliert und zu einer Aussage verdichtet wird. Dabei kommt dann ein Index heraus wie beispielsweise "El Salvador 1,3" oder "Somalia 1,7". Muß sich der Klimaforscher da nicht sagen, daß in dieser abstrakten Zahl große Mengen an Informationen verlorengehen, die sich aus ihr nicht mehr herauslesen lassen? Müßte man dann nicht sowieso wieder in die Statistik hineingehen und sich fragen: "Was ist da los? Ah ja, zehn Jahre hintereinander ist die Niederschlagsmenge geringer geworden - vielleicht plus El Niño- und El Niña-Ereignisse zwischendurch -, muß man nicht dann doch wiederum von dieser abstrakten Zahl regional differenzieren?

ML: Ja, das ist natürlich der Fall. Aber ich muß hier erst mal ein bißchen korrigieren. Womit ich mich im wesentlichen beschäftige, obwohl ich Physiker bin, ist nicht die Modellierung des Klimawandels, sondern die Auswirkung, die der Klimawandel hat. Von daher ist man genau in dieser Situation, daß zukünftige Auswirkungen des Klimawandels natürlich parallel gehen oder mit anderen Trends des globalen Wandels konkurrieren. Wenn wir in 2050 eine wärmere, an einigen Stellen auch trockenere Welt haben, dann wird das nicht das einzige sein, was sich bis dahin verändert haben wird. Das einfachste Beispiel dafür ist immer, daß sich die Bevölkerungsdichte verändert haben wird, die ökonomischen Bedingungen, die politischen vielleicht auch. Das ist sowieso immer mitzudenken in der Klimafolgenforschung. Daß man den Klimawandel als einen Aspekt von vielen sieht, ist uns nicht unvertraut.

Unser Transportmittel der Zukunft?

Unser Transportmittel der Zukunft?

SB: Welches Szenario würden Sie für die kommenden Jahre oder auch bis 2050 als am wahrscheinlichsten ansehen?

ML: Vielleicht kennen Sie ja die Szenarien, die für den IPCC 2001 [2] gemacht wurden ...

SB: Ja. Die nach den jüngsten Studien überholt sind. Diese konnten in den früheren IPCC-Berichten noch nicht berücksichtigt werden.

ML: Die Frage ist, ob ein Szenario überholt sein kann. Ein Szenario ist keine Prognose, wie sich, sagen wir mal, CO2-Emissionen in der Zukunft verhalten werden. Explizit nicht. Und die Szenarien, die die Forscher damals gemacht haben, waren noch nicht einmal so gehalten, daß von einem wünschenswerten oder weniger wünschenswerten Szenario gesprochen wurde. Sondern es handelt sich um den Versuch, mögliche Zukünfte abzuscannen. Deswegen kann man nicht sagen, daß ein Szenario überholt ist. Es wäre natürlich schon schlecht, wenn das höchste Emissionsszenario, das damals angenommen wurde, jetzt von der Realität überholt wird. Das ist allerdings nicht so einfach, weil sich die Szenarien auf die nächsten hundert Jahre beziehen. Nichtsdestotrotz kann man sagen, daß man aus der heutigen Sicht mögliche Zukünfte vielleicht mit anderen Szenarien abscannen würde. Sie haben damals angenommen, daß es entweder eine Welt gibt, die sich globalisiert, oder eine, die sich weiter fragmentiert, oder im Extremfall eine "fortress world", das heißt ...

SB: ... eine mit globalen Zentren und der Rest sozusagen Wildnis ...

ML: Genau. Das war die eine Dimension, wie sie sich damals die mögliche Zukunft vorgestellt haben. Die andere Dimension war, ob das rein marktlich, kapitalistisch orientiert ist oder ob Regulationen in Hinblick auf zum Beispiel Nachhaltigkeit, Naturschutz und so weiter eine größere Rolle spielen. So kamen dann vier Positionen zustande. Auf dieser Basis wurde dann versucht, plausible CO2-Emissionen herzuleiten. Die Forscher haben sich explizit nicht darüber ausgelassen, ob sie das gut oder schlecht finden. Es ist sehr fragwürdig, ob eine fragmentierte Welt, in der dann durchaus lokal auf Nachhaltigkeit geachtet wird, einer globalisierten Welt vorzuziehen ist, in der auf Nachhaltigkeit geachtet wird und Technologien und Erfahrungen miteinander ausgetauscht werden. Das kann man gar nicht entscheiden.

CO2-Senke oder Wald - eine Frage des Standpunkts

CO2-Senke oder Wald - eine Frage des Standpunkts

SB: Ihr Kollege Hans-Joachim Schellnhuber [3] hat neulich in einem Zeitungsinterview das Stichwort "Kriegswirtschaft"aufgebracht. Er sagte, wenn die globale Durchschnittstemperatur mehr als zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter steigt, wird es so etwas wie eine Kriegswirtschaft geben. Ich finde, das ist eine sehr griffige Bezeichnung, die jetzt erstmal nicht näher definiert ist, aber bei der man schon ahnt, daß da doch erhebliche Einschnitte in die gewohnten Lebensverhältnisse kommen werden. Teilen Sie die Einschätzung Ihres Kollegen?

ML: Ich neige dazu zu sagen, daß Probleme in der natürlichen Ressourcenausstattung Kriegsgründe für Menschen sein können. Das hat man in der Vergangenheit gesehen. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß eine massive Klimaerwärmung an etlichen Stellen auf der Welt zu Problemen mit nachwachsenden Ressourcen - in der Landwirtschaft, besonders auch hinsichtlich der Wasserverfügbarkeit -, führen kann. Deswegen muß man diese Gefahr in Betracht ziehen.

SB: Da stellt sich die Frage, ob auf dem Weg dahin nicht auch schon ähnliche, vielleicht nicht kriegswirtschaftliche Verhältnisse, aber gesellschaftlich gesehen doch schon sehr, sehr reduzierte Verhältnisse einkehren müßten, damit der Energieverbrauch extrem reduziert wird, um überhaupt dieses Ziel "zwei Grad" oder bis 2050 global höchsten 750 Gigatonnen Kohlendioxidemissionen zu erreichen. Geht dies ohne massive Einschränkungen der bisherigen Lebensverhältnisse in Deutschland wie auch anderen Ländern? Halten Sie das für realistisch?

ML: Es wird diskutiert, ob die Energiewende möglich ist. Es gibt Ökonomen, die sagen sogar, daß das für einige Staaten vorteilhaft sein kann, für andere vielleicht eher neutral. Es ist nicht so einfach zu sagen, ob das letztlich zu massiven Einschnitten am Wohlstand der Gesellschaften führen wird.

Ökologischer Fußabdruck für diese Waldbewohner zu vernachlässigen

Ökologischer Fußabdruck für diese
Waldbewohner zu vernachlässigen

SB: Können Sie sich vorstellen, daß es tatsächlich eine Chance gibt, die Durchschnittstemperatur bei diesen zwei Grad zu halten, wenn jetzt viele Staaten den Anteil an erneuerbaren Energien kräftig erhöhen und andere nachziehen?

ML: Nun, die Ziele orientieren sich ungefähr daran, daß etwas in dieser Größenordnung - ich will mich jetzt nicht drauf festlegen, ob das 2,5 Grad werden, da liegen Unsicherheiten drin - zu erreichen ist. Die Frage ist, ob die Industrieländer möglicherweise noch stärker vorangehen müßten als das, was die EU jetzt ankündigt. Sie kennen ja die Diskussionen, ob man Entwicklungsländern Entwicklungsphasen lassen will oder nicht. Auch über einen Technologietransfer wird diskutiert.

SB: Ja, wobei jüngst bekannt wurde, daß die Europäische Union aus dem Entwurf, der in Kopenhagen vorgelegt wird, den Passus rausgestrichen hat, daß finanzielle Hilfe für den Klimawandel zusätzlich zur Entwicklungshilfe geleistet werden soll. Wenn die Hilfe gegen den Klimawandel von der Entwicklungshilfe abgezogen würde, wäre das natürlich nur ein Verschiebebahnhof.

ML: Ja.

SB: Werden solche Maßnahmen, Entscheidungen oder politischen Richtungen in Ihrem Institut diskutiert?

ML: Im wesentlichen wird diskutiert, was es für Notwendigkeiten gibt und vor allem, was für Schäden zu erwarten sind, wenn man nichts tut. Dann wird auch ein bißchen darüber diskutiert, wie sich Partikularinteressen, die auf der Welt natürlich unterschiedlich sind, möglicherweise arrangieren könnten, so daß es eben doch zu einer hinreichenden Reduktion von Treibhausgasen kommt. Das wird schon diskutiert.

SB: Gibt es Überlegungen in der Wissenschaft oder in der Politik, was mit Staaten, die ihre Klimaschutzziele nicht einhalten, geschehen soll? Wie soll es durchgesetzt werden, wenn ein Staat sagt: "Nein, ich habe das zwar unterzeichnet - nehmen wir einmal an: das Kopenhagen-Protokoll -, aber ich halte mich nicht daran, weil das sonst unsere Wirtschaft schwer schädigen würde?

ML: Wie das eben im internationalen Recht, beispielsweise mit Fischereiquoten, gehandhabt wird. Es gibt natürlich keinen Weltpolizisten, und deswegen müssen die gegenseitigen Interessenlagen so fein austariert werden, daß es möglicherweise für jemanden, der sich einer solchen Koalition angeschlossen hat, nützlicher ist, drin zu bleiben als rauszugehen. Wenn sich jemand an das internationale Vertragswerk nicht hält, können wir natürlich immer sagen, daß er dann nicht mehr dazu gehört. Das wäre die einzige Drohung.

SB: Das wurde in den USA zur Zeit von Präsident Bush, aber damals auch in Kanada und Australien, bezogen auf das Kyoto-Protokoll so praktiziert ...

ML: Letztere sind dann noch dazugestoßen.

SB: Es war ja heute auch schon spannend zu sehen, daß beim Korruptionsindex bereits wesentlich härtere Bandagen angelegt werden. Wenn Länder den Standard nicht erfüllen, wird überlegt, ob nicht Sanktionen verhängt werden sollen. Aber auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie kleinere Nationen wie die Pazifikinselstaaten Druck auf die großen Emittenten wie USA, China, Europäische Union ausüben können.

ML: Die kleineren Staaten sind nicht die einzigen betroffenen, auch wenn es sie vielleicht am extremsten trifft. Aber natürlich sind auch diese großen Emittenten in gewisser Weise von den Folgen des Klimawandels betroffen. Entweder durch direkte Einwirkungen, die natürlich in Industrienationen geringer sind als in ärmeren Nationen, oder durch vermittelte Auswirkungen. Das heißt, es kann zu Umweltflüchtlingen kommen, Instabilitäten, Verlust an stabilen Märkten auch in den Entwicklungsländern, und so weiter.

SB: Ohne jetzt den Anspruch zu haben, daß das wissenschaftlich fundiert sein muß, aber was glauben Sie persönlich, welches Ergebnis wird bei Kopenhagen herauskommen? Ich gebe zu, das ist die Frage nach den nächsten Lottozahlen ...

ML: Das kann ich nicht sagen, aber ich sehe in dem Gesamtprozeß eine für mich fast erstaunliche Persistenz. Man könnte sich ja fast mehr fragen, wie es eigentlich kommt, daß das Thema Klimaschutz so lange in der öffentlichen und politischen Debatte bleibt. Das erfüllt mich ein kleines bißchen mit Hoffnung, ohne daß ich verstehen würde, wie es in der üblichen Gemengelage von Interessen eigentlich dazu gekommen ist. Nach meiner Einschätzung wird das alles nicht von heute auf morgen passieren, aber mittelfristig sehe ich da schon Chancen. Sehr interessant wird eben sein, wie es gelingt, Schwellenländer wie China oder Entwicklungsländer wie Indien einzubinden. Indien hat mehr Zeit, die sind also noch weit unter den Emissionen, die sie erreichen dürften, wenn man sagt, jeder auf der Erde soll gleich viel emittieren dürfen. China ist schon drüber.

SB: China ist drüber. Pro Kopf sind die Chinesen natürlich weit unterhalb der Industriestaaten ...

ML: Nein, nein, ich meine diese zwei Tonnen pro Jahr. Dahinter steckt die Idee, daß jeder Mensch auf der Erde gleich viel emittieren darf, um das Klimaschutzziel zu erreichen. Da ist China schon drüber, und Indien ist bei der Hälfte. Und jetzt hat China zumindest zugestimmt, die CO2-Intensität des Wirtschaftswachstums zu begrenzen.

Energieträger der Armen - bald durch EU-Ökodesign-Richtlinie 2005/32/EG limitiert

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2005/32/EG limitiert

SB: Halten Sie das für einen machbaren Weg?

ML: Das ist der Weg, den etwas entwickeltere Industrienationen alle gegangen sind. Möglicherweise ja. Ich halte das nicht für völlig unwahrscheinlich. Ob das reicht, das Zwei-Grad-Ziel zu halten, müssen Sie die Leute fragen, die das dann schnell ausrechnen können. Das hängt dann sehr vom Wirtschaftswachstum Chinas ab.

SB: In Großbritannien ist eine auf Studien gestützte Entwicklung zu beobachten, nach der der persönliche CO2-Verbrauch gemessen wird. Jedes Individuum soll einen CO2-Bonus erhalten, was bedeutet, daß es sich von vornherein als CO2-Emittent schuldig gemacht hat. Wenn jemand unterhalb des Bonus bleibt, kann er mit den individuellen CO2-Rechten Handel treiben. Wenn er oberhalb bleibt, wird ihm, vereinfacht gesagt, der Strom abgestellt, weil er zuviel Energie verbraucht, bzw. er müßte dann Rechte dazukaufen. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

ML: Dem Emissionshandel, runtergebrochen auf Individuen, stehe ich relativ neutral gegenüber. Gesellschaften, die das mögen, neben ihrem Geldkonto auch noch ein CO2-Konto zu führen, sollen das tun. Wenn das zur Folge hat, daß bestimmte Leute eher bereit sind, das Relevante daran zu akzeptieren - denn es heißt ja "cap and trade" und "cap" bedeutet, die Summe festzulegen, die emittiert wird und die dann auch noch abnimmt -, wenn das mehr Leute dazu bringt zuzugestehen, daß man solches "cap" rein regulatorisch, rein politisch vorgibt, und sich dann daran halten, soll mir das recht sein. Ich bin da neutral. Auch hinsichtlich der Ebene, solche Incentive [4] von Marktregelungen einzuführen oder auch nur intelligente Regulationen. Im Umweltbereich hat sich beides im Prinzip als möglich erwiesen. Das halte ich für zweitrangig.

Ökologisch mobil - aber nur für urbane Räume geeignet

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SB: Es gibt Organisationen oder Personen vor allem in den USA, wo es eine klimawandelkritische Bewegung selbst innerhalb der Wissenschaft gibt, die genau das als Anlaß nehmen, um zu sagen, daß da mittels Sanktionen auf individueller oder auch staatlicher Ebene ein diktatorisches, repressives Umweltregime errichtet werden soll.

ML: Ja, das sind Marktradikale, die nicht akzeptieren, daß aufgrund der unterschiedlichen Zeitskalen in der Entwicklung der Nationen, des Profitstreben sowie der Umweltproblematik und ihrer Rückwirkung, das marktwirtschaftlich einfach nicht zu lösen ist. Die wird es wohl immer geben, aber ich habe das Gefühl, es werden weniger.

SB: In Deutschland ist diese Bewegung nicht so angekommen ...

ML: Es wird ein bißchen in diese Richtung argumentiert, aber mehrheitlich wird akzeptiert, daß man beispielsweise seinen Heizkessel irgendwann wegen der Emissionsschutzverordnung auswechseln muß. Da gibt es keine größeren Aufstände, das ist ein regulatorisches Instrument, das ganz gut funktioniert. Wenn man sieht, wie die Emissionen aus Heizungen in Deutschland zurückgegangen sind, war das ein sehr erfolgreiches Instrument.

SB: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz gilt als Exportschlager.

ML: Genau. Dann kann man fragen, wer das bezahlen soll, nicht wahr. In dem Fall wurde ein Kompromiß eingegangen.

SB: Angesichts dessen, daß nach Einschätzung von Wissenschaftlern der Klimawandel schwerwiegende Folgen für viele Millionen, Milliarden Menschen nach sich ziehen wird, ist die Frage des Bezahlens schon ziemlich zynisch. Selbstverständlich stellt sich irgendwann auch diese Frage, aber ...

ML: Die stellt sich viel detaillierter: Ob die Stromkunden das zahlen oder ob das aus Steuermitteln bezahlt wird beispielsweise.

SB: Herzlichen Dank, Herr Doktor Lüdeke, daß Sie uns nach dieser Fachtagung noch die Zeit für ein Interview gegeben haben.

Dr. Matthias Lüdeke im Gespräch mit SB-Redakteur

Dr. Matthias Lüdeke im Gespräch mit SB-Redakteur

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Anmerkungen:

[1] Dr. Jörn Birkmann, United Nations University Bonn

[2] IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat)

[3] Hans-Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung

[4] Incentive - engl. "Anreiz"

21. Dezember 2009