Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/136: Das Ende der Natur - Korrekturnot der Agrarkultur ... (SB)




Autorin sitzt auf der Kante eines Sessels auf einer niedrigen Bühne und liest von einem DIN-A4-Manuskript ab - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dr. Susanne Dohrn liest aus ihrem Buch "Das Ende der Natur"
Foto: © 2018 by Schattenblick

Die langjährige Chefredakteurin der SPD-Zeitung "Vorwärts" Dr. Susanne Dohrn ist vor vier Jahren in Estland auf Wiesen, Weiden und Getreidefelder gestoßen, die voller Blütenpflanzen waren und genauso aussahen wie die Getreidefelder, die sie aus ihrer Kindheit kannte. In Deutschland dagegen gibt es sie nicht mehr. Was ist da nur geschehen?

Aus der Betroffenheit ob der Diskrepanz zu den hiesigen vollkommen blütenlosen, insektenbefreiten und auf stets die gleiche, kurzhalmige Wuchshöhe gezüchteten Getreidepflanzen oder umgekehrt auf Gardemaß getriebenen, ihre Licht- und Nährstoffkonkurrenz beseitigenden Maispflanzen heraus hat die promovierte Geschichtswissenschaftlerin und Journalistin begonnen, zu Landwirtschaft und Insektenschwund zu recherchieren. Dazu hat sie auch zahlreiche Fachleute befragt und im vergangenen Jahr ein Buch zu dem Thema veröffentlicht: "Das Ende der Natur. Die Landwirtschaft und das stille Sterben vor unserer Haustür". Es ist im Berliner Ch. Links Verlag erschienen und liegt inzwischen in zweiter Auflage vor. [1]

Am 14. März 2018 las die Autorin bei einer öffentlichen Veranstaltung der Naturschutzorganisation NABU in Hamburg aus ihrem Buch vor. Ergänzt wurde die 20minütige Lesung durch einen Vortrag Dohrns über "Eine Reise zu Klappertopf, Kaisermantel, Kaulquappe, Kibitz und Co", also zu Wildkräutern, Insekten, Amphibien und Feldvögeln, "weil diese Arten am dramatischsten zurückgehen". Abgerundet wurde der Abend mit einer Podiumsdiskussion mit der Autorin und den beiden NABU-Mitgliedern Oliver Schumacher vom Landesverband Hamburg und Sebastian Strumann vom Bundesverband in Berlin unter der Moderation von Alexander Porschke, dem Vorsitzenden des Hamburger Landesverbands des NABU.


Getreidefeld mit Ähren dicht an dicht und auf gleicher Wuchshöhe, ohne irgendeine Blütenpflanze, nicht einmal auf dem Randstreifen im Vordergrund des Bildes - Foto: © 2018 by Schattenblick

Agrarökonomisch-logische, jedoch insektenfreie Zone am Beispiel Getreideanbau in Dithmarschen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Das Ausmaß des Insektenschwunds hat selbst Fachleute erschreckt. War bisher vor allem vom Artensterben die Rede, so wurde inzwischen festgestellt, daß auch die Masse an Insekten verschwindet. Die Daten, die der Entomologische Verein Krefeld hierzu in Schutzgebieten von Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Rheinland-Pfalz gesammelt hat, weisen einen Biomasseverlust von Insekten von teils über 75 Prozent auf. [2]

Wenn die Insektenzahl zurückgeht, verschwinden auch die Vögel, weil ihnen die Nahrungsgrundlage fehlt. Da die meisten Obst- und Gemüsesorten auf Insektenbestäubung angewiesen sind, drohen auch dem Menschen erhebliche wirtschaftliche Verluste. Die Kritik Dohrns geht jedoch insofern auch darüber hinaus, als daß sie den Verlust der Natur, wie sie sie aus ihrer Kindheit kannte, anprangert. Davon betroffen sind eben auch andere Tier- und Pflanzenarten und man hat den Eindruck, als vermisse die Autorin eine bestimmte Lebensweise in und mit der Natur, welche die Kinder von heute nicht mehr erfahren. Beispielhaft kann hier durchaus Tornesch, die Heimatstadt Dohrns, genannt werden. Einst ein beschauliches Dorf, von Baumschulen, Wäldern, Weiden und Ackerflächen umgeben, wurde Tornesch von der immer mehr in ihr Umland expandierenden Stadt Hamburg eingeholt. Sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Nähe zur Autobahn A23 stark industriell orientiert, hat Tornesch eine Entwicklung von einem Dorf, das vor den Toren einer Großstadt liegt, zu einem ihrer kaum mehr von den umgebenden Siedlungsstrukturen zu unterscheidenden Vororte vollzogen.

Aus der Betroffenheit heraus eine Frage zu entwickeln und zu verfolgen gehört sicherlich zu den hehrsten Anliegen des Publizierens. Ganz im Sinne der Aussage, daß man nur schützen kann, was man kennt, führte Dohrn im Vortrag wie auch in den von ihr vorgelesenen Textpassagen einige "Fakten" der Entwicklung des Agrarraums an, die mit dem Insektenrückgang zu tun haben könnten. So hat sich die landwirtschaftliche Nutzfläche in Deutschland stark gewandelt. Heute gibt es viel mehr Ackerland und weniger Dauergrünland, was bedeutet, daß zur Verwertung vorgesehene Kulturpflanzen und nichts anderes das Landschaftsbild bestimmen. Auf den Äckern von früher stand das Getreide locker, der Boden war gut durchlüftet, und im Unterschied zu den vielen Maispflanzen, deren Anbau politisch massiv gefördert worden ist, gab es eine weniger hohe Bodenbedeckung. So konnten sich die Böden erwärmen, was die Insekten mögen. Dagegen wächst unterhalb von Mais fast nichts, da kann sich keine Vielfalt entwickeln, und Insekten haben keinen Lebensraum.

Laut dem Bundesumweltamt wurden im Jahr 2015 im Durchschnitt neun Kilogramm Pflanzenschutzmittel auf einen Hektar Ackerland ausgebracht. Dazu gehören auch die Insektizide der Klasse der Neonicotinoide, die seit Beginn der 1990er Jahre sowohl prophylaktisch als Beizmittel für die Saat eingesetzt als auch auf dem Feld versprüht werden. Ersteres ist besonders problematisch, da rund 90 Prozent der Neonics, wie sie verkürzt genannt werden, später gar nicht von der Pflanze aufgenommen werden, sondern im Boden bleiben und die dortige Fauna schädigen. Neonics wirken systemisch und können in sämtlichen Pflanzenbestandteilen nachgewiesen werden. Durch diese Insektizide werden nicht nur die Zielinsekten getroffen, sondern auch beispielsweise Bienen, Hummeln und andere Bestäuber, die den Pollen aufnehmen.

Die Autorin hat mit Prof. Christoph Leuschner von der Universität Göttingen gesprochen. Der Insektenexperte berichtete ihr, daß mit jeder Steigerung des Weizenertrags um eine Tonne pro Hektar ungefähr zehn Ackerwildkräuter verlorengehen. Bereits 1985 wurde in einem Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen festgestellt, daß mit jedem Ackerwildkraut, das verschwindet, durchschnittlich zwölf pflanzenfressende Tierarten, die von ihnen leben, verlorengehen. Und wiederum von diesen Tierarten hängen ebensoviele Tierarten ab, die diese fressen oder als Parasiten von ihnen leben. "Jeder Verlust einer Ackerwildkrautart setzt eine ganze Kaskade weiterer Verluste in Gang", gab Dohrn eine zentrale Beobachtung und Botschaft der Landschaftsökologie wieder.

Nicht nur die Äcker verzeichnen Verluste an Vielfalt. Auf einem Quadratmeter naturwüchsiger Wiese lassen sich gut und gerne 90 verschiedene Pflanzenarten finden. Heute dagegen beherrscht schnell wachsende Grassaat das Feld, das drei- bis sechsmal im Jahr geschnitten werden kann. Die Ertragssteigerung auf Äckern, Wiesen und Weiden sorgt für einen allmählichen Verlust der Artenvielfalt, denn die verbliebenen Wildkräuter werden gekappt, bevor sie Samen ausbilden können. Darüber hinaus verschwinden in Folge von Flurbereinigungsmaßnahmen die für Insekten, Wildkräuter und beispielsweise auch Rebhühner überaus lebenswichtigen Randstreifen.


Prospektständer des NABU mit Broschüren, dahinter eine Wand mit Schautafeln heimischer Tierarten - Foto: © 2018 by Schattenblick

Der Naturschutzbund Deutschland widmet sich den "Randstreifenbewohnern"
Foto: © 2018 by Schattenblick

"Worauf warten wir noch?" fragt Susanne Dohrn am Ende ihres Vortrags. Sie selbst hat nicht nur recherchiert, sondern selbst angefangen, in einem Teil ihres Gartens Wildblumen wachsen zu lassen. Das schildert sie auch in ihrem Buch und beschreibt, welche Besucher von der Blütenvielfalt angelockt werden. Außerdem hat sie als Ratsmitglied von Tornesch mit daran gewirkt, daß dort mehr Blumenbeete als Straßenrandstreifen angelegt werden.

Das genüge aber nicht, sagt Dohrn und fordert eine andere Landwirtschaft. Beispielsweise sollten Bauern von der Europäischen Union Geld dafür erhalten, daß sie Naturschutzflächen schaffen. Eine Ansicht, der sich auch die beiden NABU-Referenten beim Podiumsgespräch anschlossen. Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen, so Sebastian Strumann, der ein flammendes Plädoyer für die Europapolitik hielt und das Publikum aufforderte, sich an seine Europaparlamentarier zu wenden und auf sie einzuwirken, damit sie etwas für eine insektenfreundlichere Landwirtschaft machen. "Auf europäischer Ebene können wir dagegen ankämpfen!"

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) verteile jedes Jahr 60 Mrd. Euro. Davon erhalte Deutschland sechs Mrd., und für einen Hektar bekomme der Landwirt knapp 300 Euro pro Jahr, erklärte er. Es sei jedoch nicht festgelegt, wie die Fläche bewirtschaftet wird, sähe man davon ab, daß kleinere Auflagen (Cross Compliance) eingehalten werden müßten. Wiederholt forderte Strumann dazu auf: "Sprechen Sie mit Ihren Europapolitikern!"

Einen solchen Optimismus teilte nicht jeder aus dem Publikum. In einem sehr emotionalen, aber deswegen keineswegs geringzuschätzenden Redebeitrag erklärte eine Frau: "Wir kappen die Evolution" und, auf einen Artikel zum Klimawandel bei Zeit online (18. September 2017) Bezug nehmend: "Wir schweigen uns zu Tode." In ihren Worten drückte sich Fassungslosigkeit aus, die sich nicht so leicht durch schnelle Antworten beheben ließ. Und Antworten auf die drängenden Probleme sollten an diesem Abend viele gegeben werden, vielleicht sogar zu viele, um jene Verzweiflung zu erreichen. Denn wenn das Problem des Insektenschwunds einfach zu lösen wäre oder, allgemeiner gesagt, wenn vom "Ende der Natur" gesprochen wird, muß man sich da nicht unwillkürlich fragen: Ja, wenn es darauf Antworten gibt, wie konnte es überhaupt dazu kommen?


Blick über fünf dicht besetzte Stuhlreihen auf die Bühne mit Autorin und den NABU-Experten - Foto: © 2018 by Schattenblick

Rege Debatte aller Beteiligten zu einem dicht heranrückenden Thema
(von links) Oliver Schumacher, Dr. Susanne Dohrn und Sebastian Strumann
Foto: © 2018 by Schattenblick

Der diplomierte Landschaftsökologe Oliver Schumacher berichtete, daß in der Europäischen Union noch bis zum Jahr 2007 extensive Landwirtschaft betrieben wurde. Zehn Prozent der Fläche seien damals aus der Nutzung herausgenommen worden, was sich positiv auf die Artenvielfalt ausgewirkt hat. In Deutschland waren das über 800.000 Hektar. Doch von 2007 auf 2008 wurde der Energiepflanzenanbau auf Brachflächen abgesegnet. Selbst die Grünen haben ihr Okay dazu gegeben. Die Folge: 50 Prozent dieser Flächen gingen wieder in Nutzung. "400.000 Hektar mit einem Federstrich verloren!" Diese dramatische Entwicklung habe sich fortgesetzt.

Der Insektenrückgang ist allerdings selbst auf den 500 Hektar Landfläche in der Elbtalaue, die der NABU über einen Zeitraum von 45 Jahren zusammengekauft hat, zu beobachten. Im Unterschied zu den Folgen des Klimawandels tue es niemandem weh, wenn Arten verschwinden, bot Schumacher einen Erklärungsversuch dafür, daß bis jetzt so wenig zum Erhalt der Insekten getan wurde.

Wenn schon der Tierfilmer Heinz Sielmann in den 1950er Jahren vor dem Artensterben gewarnt hat, wie aus dem Publikum angemerkt wurde, und wenn laut Dohrn der Sachverständigenrat für Umweltfragen 1985 ebenfalls vor dem Artensterben gewarnt hat, haben das dann die von Strumann so hochgelobten Europaabgeordneten nicht mitbekommen? Haben sie nicht einst einer Agrarpolitik ihren Segen gegeben, die den Insektenschwund und nicht den Erhalt der Insekten fördert? Müßte man nicht annehmen, daß im Europaparlament ganz andere Interessen die politische Entscheidungsfindung dominieren als die des Naturschutzes?

Mit diesen Fragen soll der Vorschlag des NABU-Mitglieds nicht zur Gänze verworfen werden. Angesichts des Ausmaßes und der Geschwindigkeit des Insektenrückgangs und seiner Bedeutung für die Menschen und ihre Mit- und Umwelt sollte man sicherlich keine Mühe scheuen und auf keine einzige Maßnahme verzichten, mag sie auch noch so unbedeutend erscheinen, um dem Trend entgegenzuwirken. Doch als zentrale Botschaft, mit Europapolitikern zu sprechen? Da scheint dann doch zu sehr der persönliche Blick des Mitglieds in leitender Funktion einer Naturschutzorganisation, die ihre Ziele häufig in Kooperation mit und nicht so sehr in Konfrontation zu politischen Entscheidungsträgern zu erreichen versucht, Ratgeber gewesen zu sein.

Der Einband zu ihrem Buch sei absichtlich wie eine Todesanzeige gestaltet, sagte Dohrn und fügte an: "Aber wir wollten Sie nicht mit dieser deprimierenden Nachricht entlassen." Deshalb seien da zwei bunte Schmetterlinge abgebildet, ein Bläuling und ein Feuerfalter. Daß diese Botschaft der Hoffnung durchaus ankommt, wurde in mehreren Wortbeiträgen des interessierten und engagiert diskutierenden Publikums deutlich. Abschließend möchte man dem Buch wünschen, daß es niemals, unter gar keinen Umständen, eine Fortsetzung erfahren wird ... indes gibt es bis jetzt so gut wie keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich die Notwendigkeit, das Phänomen Insektenschwund auch mit den Mitteln der schreibenden Zunft in Angriff zu nehmen, in absehbarer Zeit erübrigt.


Verkaufstisch mit mehreren Stapeln des Buchs 'Das Ende der Natur' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Vom Ende der Natur zwischen zwei Buchdeckeln
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:


[1]
Susanne Dohrn
Das Ende der Natur. Die Landwirtschaft und das stille Sterben vor unserer Haustür
Ch. Links Verlag
2. Auflage, Dezember 2017
272 Seiten
18,- Euro
ISBN: 978-3-86153-960-5

[2] Vor kurzem fand in Münster eine Tagung zum Insektenrückgang statt, an der die Untersuchungsergebnisse des Entomologischen Vereins Krefeld an prominenter Stelle besprochen wurden. Die Berichterstattung des Schattenblick zu der Tagung finden Sie unter UMWELT → REPORT → BERICHT und UMWELT → REPORT → INTERVIEW:

BERICHT/133: Insektenschwund - Politik zu träge ... (1) (SB)
BERICHT/134: Insektenschwund - Politik zu träge ... (2) (SB)
BERICHT/135: Insektenschwund - Politik zu träge ... (3) (SB)

INTERVIEW/268: Insektenschwund - Aufgabenvielfalt unterschätzt ...     Prof. Dr. Christoph Scherber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/269: Insektenschwund - schon länger in der Peilung ...     Marie Thöne im Gespräch (SB)
INTERVIEW/270: Insektenschwund - Interessengegensätze ...     Prof. Dr. Werner Kratz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/271: Insektenschwund - saubere Wissenschaft und konsequenter Naturschutz ...     Dr. Martin Sorg im Gespräch (SB)


20. März 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang