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BERICHT/120: Gitterrost und Permafrost - Genaues weiß man eben nicht ... (SB)


Vom Verschwinden des Permafrosts

Wenn die Welt, wie wir sie kennen, ihren Halt verliert

Zur 11. Internationalen Permafrostkonferenz (ICOP), die das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meereswissenschaften (AWI) vom 20. bis 24. Juni 2016 in Potsdam organisiert hat


"Bis zum Jahr 2009 haben wir nicht einmal geahnt, dass wir so ein enormes Problem überhaupt haben - eine unheimliche Vorstellung!", sagte Antoni Lewkowicz, Präsident der IPA (International Permafrost Association), auf der 11. Internationalen Permafrostkonferenz in Potsdam laut dem Deutschlandfunk. [1] Der kanadische Geographieprofessor hob damit auf die Erkenntnis ab, daß in den heutigen Permafrostregionen rund 1.500 Gigatonnen Kohlenstoff gebunden sind, nahezu doppelt soviel wie in der Atmosphäre. Würde der Permafrost tauen und der Kohlenstoff freigesetzt werden, überträfe das alle anthropogenen Treibhausgasemissionen bei weitem und trüge zu einer enormen Erwärmung der Erde bei.


Prof. Lewkowicz beim Interview mit dem Schattenblick - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Ich glaube, daß es in den letzten zehn Jahren einen enormen Wandel gegeben hat. Man kann keinen Bericht über die Veränderungen in den arktischen Regionen und nicht einmal den Hochgebirgen veröffentlichen, ohne den Begriff 'tauender Permafrost' zu verwenden. Und ich hoffe, es wird immer 'tauender' und nicht etwa 'schmelzender' Permafrost heißen!"
(Prof. Antoni Lewkowicz, 23. Juni 2016, Potsdam)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Dennoch scheint man sich in der Wissenschaft mit der in den Medien gern verwendeten Analogie der "Zeitbombe Permafrost" nicht anzufreunden, obschon es die Wissenschaft selbst war, die dieses drastische Bild verbreitet hat und letztlich auf seinen medienwirksamen Gebrauch auch gar nicht verzichten will. [2] Demnach präsentiert sich die Permafrostforschung in der Öffentlichkeit mit zwei Gesichtern. Einerseits will man nicht den Eindruck erwecken, sensationsheischend zu sein, andererseits deutet man gerne das Katastrophenpotential an, das in einem Rückzug des Permafrosts steckt. Schließlich hat man berufsständische Interessen zu verfolgen und muß mit anderen Wissenschaftsrichtungen um die meist zu knappen Fördergelder konkurrieren. Also wird mit der potentiellen Gefahr kokettiert, daß im Zuge der globalen Erwärmung der Permafrostboden auftauen und den klimawirksamen Kohlenstoff an die Atmosphäre freigeben könnte.

Wer bei den Forschern genauer nachfragt, wird allerdings erfahren, daß aus ihrer Sicht das Bild der Zeitbombe deshalb nicht greift, weil die Prozesse im Permafrost sehr langsam ablaufen, und sie nicht mit seinem vollständigen Auftauen rechnen. Es existiert sogar heute noch Dauerfrostboden, der sich nicht während der letzten, sondern einer früheren Eiszeit gebildet hat und folglich mindestens eine Warmzeit überstanden haben muß.

Darüber hinaus ist unklar, wieviel Kohlenstoff überhaupt aus dem auftauenden Permafrostboden in die Atmosphäre gelangt, da abgesehen von jenen Bakterien, die das organische Material zersetzen und dabei den Kohlenstoff freisetzen, auch Bakterien existieren, die Kohlenstoff verstoffwechseln und beispielsweise Methan in Kohlenstoffdioxid (CO2) umwandeln. CO2 hat jedoch nur rund ein Zwanzigstel der Klimawirksamkeit von Methan (CH4). Es könnte also sein, daß im Zuge eines Rückzugs des Permafrosts in Folge der globalen Erwärmung der Kohlenstoff zwar freigesetzt, aber zugleich gebunden würde.

Zu bedenken ist weiterhin, daß schon heute die vormaligen Permafrostregionen der Arktis grüner und grüner werden. Beim Pflanzenwachstum wird der Atmosphäre Kohlenstoff entzogen, weshalb die Arktis heute noch als Kohlenstoffsenke bezeichnet wird. Hatten vor fünf Jahren Wissenschaftler wie Prof. Kevin Schaefer vom National Snow and Ice Data Center in den Vereinigten Staaten noch angenommen, daß sich die Arktis etwa Mitte des nächsten Jahrzehnts in eine Kohlenstoffquelle wandelt, geht seine heutige Einschätzung dahin zu sagen, daß dies voraussichtlich erst im Zeitraum 2040, 2050 der Fall sein wird. [3]


Karte Nordamerikas, in denen die Vegetationszunahme als grünes und die -abnahme als braunes Pixel dargestellt ist - Abbildung: NASA's Goddard Space Flight Center/Cindy Starr

Die Auswertung von Aufnahmen aus dem Zeitraum 1984 - 2012 mit den Landsat-Satelliten der NASA zeigt, daß Nordamerika grüner geworden ist. Auf 29,4 % der Landfläche hat die Vegetation zugenommen (grün), auf 2,9 % abgenommen (braun).
Abbildung: NASA's Goddard Space Flight Center/Cindy Starr

Mit rund 800 Teilnehmenden war die Potsdamer Konferenz die weltweit bislang größte wissenschaftliche Tagung über Permafrost. Sie hat anschaulich gemacht, wie breit das Themenspektrum ist, das unter diesem Titel subsumiert wird. Die Erforschung des Dauerfrostbodens hat in den letzten Jahren einen gewaltigen Schub erfahren, und noch ist kein Ende des Trends in Sicht. Das bringt es mit sich, daß immer häufiger neue Fragestellungen aufgeworfen werden, die bislang kaum oder gar nicht näher beachtet wurden. Dazu zählt die Frage, wieviel Quecksilber eigentlich aus dem Permafrost entweicht, wenn sich die Arktis weiter erwärmt. Einer seiner Doktoranden arbeite derzeit an dieser Frage, sagte Prof. Duane Froese von der Universität von Alberta am Rande der Potsdamer Permafrostkonferenz gegenüber dem Schattenblick. [4]

Froeses Doktorand Sasiri Bandara hat gegenüber dem Deutschlandfunk berichtet, daß sie herausfinden wollten, welche Mengen dieses Umweltgifts im arktischen Permafrost deponiert sind. Sobald Quecksilber in Gewässer gelange, könne daraus Methylquecksilber entstehen: "In dieser chemischen Form reichert es sich in Lebewesen an und schließlich in der gesamten Nahrungskette bis hin zu Fischen. Wobei die Konzentrationen immer mehr zunehmen." [5]

Quecksilber ist ein hochwirksames Nervengift, das bei Zimmertemperatur verdunstet. Es besteht die Gefahr, daß es eingeatmet oder auf anderen Wegen inkorporiert wird. Es stammt sowohl aus natürlichen als auch industriellen Quellen. In einer ausgedehnten Moorlandschaft der Arktis könnten sicherlich "Tonnen" Quecksilber verborgen sein, vermuten die kanadischen Wissenschaftler. Das Arctic Monitoring and Assessment Programme (AMAP), das eine von sechs Working Groups des Arctic Council ist, schätzt, daß in der Arktis pro Jahr rund 200 Tonnen Quecksilber abgelagert werden. [6]

Ohne diese Angaben verharmlosen zu wollen, sei an dieser Stelle angemerkt, daß allein die deutschen Kohlekraftwerke jährlich rund sieben Tonnen Quecksilber ausstoßen. Davon erreicht vermutlich nur ein Bruchteil die Arktis, die weitaus größere Menge geht als Fallout in Deutschland und seinen Nachbarländern nieder. [7]


Beim Interview mit dem Schattenblick - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Journalisten wollen immer wissen, wie viele Kilometer der Permafrost eigentlich zurückgeht. Vor einigen Wochen habe ich in einem Feature in der Helmholtz-Hauspostille auf diese Frage geantwortet, daß es Regionen gibt, in denen er in den letzten dreißig, vierzig Jahren schon um bis zu hundert Kilometer zurückgegangen ist. In dieser Größenordnung bewegt man sich also."
(Prof. Hans-Wolfgang Hubberten, 20. Juni 2016, Potsdam)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Es hat im Laufe der Erdgeschichte, soweit man sie mit Hilfe sogenannter Proxydaten rekonstruieren konnte, durchaus plötzliche Erwärmungsphasen gegeben. Nach geologischen Maßstäben bedeute "plötzlich", daß etwas in Tausenden oder Zehntausenden Jahren abläuft, sagte Schaefer bezogen auf den Permafrost. Klimaforscher hingegen sprechen manchmal von sehr viel kürzeren Fristen. Wobei ein grundsätzliches Problem von Klimaprojektionen darin besteht, daß Aussagen über zukünftige Entwicklungen in erheblichem Umfang aus der Vergangenheit hergeleitet werden. Deshalb wird sich die Stärke der Modellbildung spätestens dann als Schwäche herausstellen, wenn sich das Klima in einer Weise entwickelt, für die es kein Vorbild gibt. Das könnte beispielsweise passieren, wenn mehrere Faktoren zusammentreffen, die sich gegenseitig verstärken. Sollte der Permafrost tauen und die Arktis etwa zur Mitte dieses Jahrhunderts von einer Kohlenstoffsenke zu einer -quelle werden, dann wird das "positive Rückkopplung" genannt: Ein eingeleiteter Prozeß verstärkt sich selbst.

Beim Permafrost läuft so etwas sehr langsam ab, andere positive Rückkopplungen sind dagegen nicht so träge. Man spricht in der Klimaforschung beispielsweise von global wirksamen "tipping points", "Kippunkten" oder auch "Kippelementen", wenn nach Überschreiten einer Schwelle ein Natursystem eine nicht mehr aufzuhaltende Dynamik entfaltet, die erst dann zum Stillstand kommt, wenn es sich zu einem gänzlich neuen Zustand eingefunden hat. Wenn zum Beispiel im Rahmen des Klimawandels das arktische Meereis schmilzt, verringert sich die Albedo (Rückstrahlung) des Nordpolarmeers. Das heizt sich daraufhin auf und bringt noch mehr Eis zum Schmelzen, was wiederum die Albedo verringern würde, und so weiter.

Positive Rückkopplung und Kippelemente sind durchaus Gegenstand intensiver Erforschung. Allein in der Arktis werden mehrere solcher Kippelemente vermutet. Abgesehen vom Meereis beispielsweise auch der grönländische Eisschild: Wenn der rund 3000 Meter hohe Eispanzer schmilzt, wird er flacher und seine Oberfläche wandert dadurch immer mehr von einer höheren und daher kälteren zu einer tieferen, wärmeren Luftschicht, so daß das Abschmelzen verstärkt wird. Auch die im sibirischen Kontinentalschelf liegenden Methanhydrate könnten bei zunehmender Erwärmung verstärkt freigesetzt werden, dadurch die Erwärmung fördern und sich somit noch schneller als zuvor auflösen.

Die Wissenschaft begibt sich allerdings auf sehr dünnes Eis, wollte sie versuchen, den Einfluß aller Kippelemente, deren Dynamik gleichzeitig angeworfen werden könnte, zu simulieren und darauf ihre Modelle anzuwenden. Da sind so viele Unbekannte im Spiel, daß solche Simulationen naturgemäß spekulativ bleiben müssen. Woraus jedoch umgekehrt nicht der Schluß zu ziehen ist, daß nicht mit eben genau solch einer Entwicklung zu rechnen wäre: Durch das Überschreiten eines Kippelements, das zur globalen Erwärmung beiträgt, wird das nächste Kippelement um so schneller über die entscheidende Schwelle gebracht, so daß beide zusammen alle anderen beschleunigen.

Ein vergleichbarer physikalischer Effekt des Aufschaukelns, nur zugespitzt auf den Bruchteil einer Sekunde, wird im Zusammenhang mit einer Kernwaffenexplosion beschrieben: Die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen treffen auf Atome, die sich daraufhin spalten und weitere Spaltvorgänge auslösen: Es setzt eine positive Rückkopplung ein, bzw., wie die Physik es nennt, eine exponentiell anwachsende Kernspaltungs-Kettenreaktion.

Nur weil die Klimawissenschaft einen vergleichbarer Vorgang bislang nicht beschrieben hat, ist das kein Beweis dafür, daß er nicht eintreten könnte. Es bedarf nicht zwingend der Hinterlassenschaften erdgeschichtlicher Vorzeit als Vorbild, es kann auch ein anderer Planet sein. Beispielsweise muß mit dem Mars, der vormals Wasser geführt hat, etwas extrem Katastrophales passiert sein. Seine Oberflächenformen lassen auf die einstige Existenz von Flüssen, Seen und womöglich sogar eines Ozeans schließen. Sie sind verschwunden.

Ein Teil des Wassers ist möglicherweise in den Weltraum entwichen, ein anderer Teil liegt in Form von Eis am Südpol des Planeten vor. Es nimmt dort eine Fläche von fast der Größe Europas ein und hat vermutlich eine Tiefe von 1,6 Kilometern. Das am Marssüdpol in gefrorenen Schichten eingelagerte Wasser entspräche einer Menge, die im aufgetauten Zustand den gesamten Planeten mit einer elf Meter tiefen, flüssigen Schicht überziehen würde, berichtet die Europäische Weltraumagentur ESA. [8]


Foto: NASA on The Commons, freigegeben via Flickr

Diese Rinnen an der Wand eines kleineren Einschlagskraters innerhalb des riesigen Newton-Kraters auf dem Mars werden als Indiz für die Existenz von Wasser (und/oder Geröll) gedeutet. Berechnungen der Länge und Breite der Rinnen lassen die Vermutung zu, daß bei jedem Ereignis, das zu einer Rinne geführt hat, um die 2,5 Millionen Liter Wasser beteiligt gewesen sein könnten.
(Zusammenstellung von drei Bildern mit der Mars Orbiter Camera, die zwischen Januar und Mai 2000 aufgenommen wurden.
Foto: NASA on The Commons, freigegeben via Flickr

Der "Permafrostplanet" Mars als Vorbild für die Zukunft der Erde? Forscher wie Dr. Andreas Johnsson von der Universität Göteborg schließen das nicht aus. [9] Ebensowenig kann allerdings ausgeschlossen werden, daß ein anderer Nachbarplanet, die Venus, ein treffendes Vorbild für die Erde ist. Dort herrschen Oberflächentemperaturen zwischen 400 und 500 Grad Celsius, was nicht nur mit der größeren Nähe zur Sonne, sondern auch mit der hauptsächlich aus Kohlendioxid bestehenden Treibhausgasatmosphäre erklärt wird.

Die an der Permafrostforschung Beteiligten beobachten Entwicklungen, die auf lokaler, regionaler wie auch globaler Ebene problematisch sind oder werden könnten. So wurde vor kurzem aus Nordsibirien berichtet, daß ein Zwölfjähriger an Milzbrand (Anthrax) gestorben ist und Dutzende von Einwohnerinnen und Einwohnern untersucht oder medizinisch behandelt werden mußten. Mehr als 2300 Rentiere hat der Erreger getötet. Ungewöhnlich dauerhaft hohe Temperaturen selbst für den Monat Juli - 30 bis 35 Grad Celsius - hatten Schnee und Eis schmelzen lassen und den Boden aufgetaut. Es wird vermutet, daß das den Milzbrandausbruch ausgelöst hat. Die russische Regierung hat Soldaten entsandt, die darin ausgebildet sind, mit biologischen Waffen umzugehen, um das betroffene Gebiet unter Quarantäne zu stellen. Der letzte derartige Ausbruch in dieser Region fand 1941 statt.

Möglicherweise ausgehend von einem Tierkadaver seien die Bakterien (Bacillus anthracis) im Oberflächenwasser davongeschwemmt worden, so daß die Einwohner mit ihnen in Kontakt gerieten. Die Freisetzung gefährlicher Krankheitserreger aus der Dauerfrostregion im Verlauf des Klimawandels war bisher nur eine Möglichkeit, auf die in der Wissenschaft hingewiesen wurde. Jetzt ist dieses Szenario Realität. "Wir haben schon vor einigen Jahren davor gewarnt, daß so etwas passieren könne", sagte Vladimir Romanovsky, Klimaforscher an der University of Alaska-Fairbanks, gegenüber Eric Holthaus vom "Pacific Standard". Bevor man aber nichts Genaueres über den Ausbruch wisse, sei es bloße Spekulation, von einer zukünftigen Gefahr des Permafrosts zu sprechen. [10]

Romanovsky spekulierte indes selber, daß die Kombination aus Erosion und tauendem Permafrost dazu beigetragen haben könnte, abgesonderte Milzbranderreger zu mobilisieren, so daß sie in die örtlichen Gewässer gelangt sind. Obwohl dieser Ausbruch in einer außergewöhnlich warmen Periode stattgefunden habe, könne das Auftauen des Permafrosts, wenn es in Zukunft wärmer werde - und es habe den Anschein, daß das geschehe - "massiv" sein, erklärte Romanovsky. Ein fortgesetztes Verschwinden des Permafrosts schüfe mehr Gelegenheiten der Ausbreitung solcher Mikroben. Das sei "Neuland" für menschliche Erfahrungen.


ICOP 2016 in Potsdam - Prof. Romanovsky hinter Stehpult auf einer großen Bühne. Auf eine Leinwand hinter ihm sind die Namen der Verstorbenen sowie das Jahr ihres Ablebens und ihr Herkunftsland projiziert - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Vladimir Romanovsky gedenkt gemeinsam mit den
Konferenzteilnehmenden der seit der letzten ICOP
verstorbenen Kolleginnen und Kollegen.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Eispanzer Grönlands zählt zwar nicht zur Permafrostregion, aber auch dort könnten die höheren Temperaturen etwas freilegen, von dem eine potentielle Gefahr ausgeht: Der ehemalige Militärstützpunkt "Camp Century", den die USA 1959 auf Grönland errichteten und der derzeit von 35 Meter mächtigem Eis bedeckt ist. In dem Stützpunkt, der mit Erlaubnis Dänemarks rund zehn Jahre lang auf dem Eis betrieben wurde, befinden sich jede Menge Schadstoffe: 200.000 Liter Dieseltreibstoff, 240.000 Liter Abwasser - inklusive schwach radioaktivem Kühlwasser eines Atomreaktors -, PCBs und andere Umweltgifte. [11] Wenn die Arktis wärmer wird, und das wird sie gegenwärtig mit rund doppelt so hoher Geschwindigkeit wie der Rest der Welt, könnte noch so manche unliebsame Überraschung an die Oberfläche gelangen.

Methan ist etwa 20mal klimawirksamer als CO2. Doch Methan ist harmlos verglichen mit Lachgas (Distickstoffoxid; N2O), das ebenfalls aus dem auftauenden Permafrost entweicht. Das gilt besonders dann, wenn der aufgetaute Permafrostboden von Schmelzwasser durchtränkt wird. Das meldeten vor sechs Jahren Bo Elberling und seine Kollegen von der Universität Kopenhagen nach ihren Experimenten auf einer grönländischen Forschungsstation. Lachgas ist 300mal klimawirksamer als CO2. [12]

Der Wechsel des Aggregatzustands des Wassers von fest zu flüssig und umgekehrt löst dramatische Veränderungen in der Landschaft aus, wie die Ökologin Merritt Turetsky von der kanadischen Universität von Guelph und der Universität von Alaska-Fairbanks, USA, berichtete. [13] Wird die Verringerung des Permafrosts auch global dramatische Veränderungen auslösen? Für sich betrachtet anscheinend nicht, dafür taut er zu langsam auf, auch wenn sich sein Rückzug in die Hohen Breiten und Gipfelregionen der Hochgebirge in den letzten Jahren beschleunigt hat. Das Problem ist allerdings, daß der auftauende Permafrost selbstverständlich kein isoliertes Phänomen ist.

Gegenwärtig sind weltweit Entwicklungen angelaufen, von denen einige in Wechselwirkung miteinander stehen und sich gegenseitig verstärken oder auch scheinbar unbeeinflußt nebeneinander herlaufen, sei es der Rückzug des arktischen Meereises (Rekord im Monat Juni), die globale Erwärmung (Rekord in der ersten Jahreshälfte 2016) mit ihren vielfältigen Klimafolgen, die ungebrochene Zunahme der anthropogenen CO2-Emissionen (Rekord in diesem Jahr), der Schnee- und Gletscherschwund in den Hochgebirgen, der wohl nicht mehr zu stoppende Kollaps der Westantarktischen Gletscher, die Zerrüttung des grönländischen Eisschilds (2016 wurden auf Grönland Rekordtemperaturen gemessen), die Geschwindigkeit der Ozeanversauerung (gegenwärtig schneller als in den letzten drei Millionen Jahren), der Verlust an Artenvielfalt (übertrifft erdgeschichtliche Massensterben an Tempo), das Sinken der Grundwasserhorizonte, das Wachstum der toten Zonen der Ozeane (denen nicht nur der Sauerstoff, sondern auch der Stickstoff abhanden kommt), die zwar verlangsamten, aber noch immer nicht gestoppten weltweiten Waldverluste, der allgemeine Verlust an organischem Material von landwirtschaftlichen Flächen, die Abschwächung des Erdmagnetfelds (was die CO2-Absorbtionseigenschaft der Ozeane verringert), die sich anbahnenden, diversen Veränderungen im Erdmagnetismus, die offenbar auf eine Polumkehr hinauslaufen, die signifikante Zunahme an extrem starken Erdbeben in den letzten 15 Jahren - von den 17 stärksten Erdbeben, die zwischen 1900 und 2014 auftraten, entfallen allein sechs auf die Zeit ab dem Jahr 2000. Vor allem die Indische Platte drückt aufs Tempo, stößt gegen das Himalaya-Massiv und wird aufgerissen.

Den Erdbeben kommt eine unmittelbare Bedeutung im Zusammenhang mit Permafrost zu. Wo sich dieser in Richtung Hochgebirgsgipfel zurückzieht und seinen eisigen Klammergriff auf das Felsgestein löst, wird ein Rütteln und Schütteln der Berge die Häufigkeit und Intensität von Geröll- und Schneelawinen deutlich verstärken. Auch das war ein Thema, über das in Potsdam referiert wurde.

Was wie eine endzeitvisionäre Zusammenstellung anmutet, ist im Detail wissenschaftlich nachgewiesen und jeweils als Einzelfaktor Gegenstand der Forschung. An einer Gesamtschau dieser Entwicklungen dürfte indes jede Simulation scheitern. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bemühen sich zwar erkennbar, über den Tellerrand der eigenen Forschungsrichtung hinauszublicken und sich mit anderen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen - die mehrtägige Konferenz ist dafür das beste Beispiel -, aber man könnte die Frage aufwerfen, ob nicht derjenige, der über den eigenen Tellerrand hinausschaut, notwendigerweise dafür dessen Horizont braucht und sich daran orientiert.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Standpunkt vernünftig, ja geradezu alternativlos. Man gibt den Tellerrandblick nicht auf, das heißt, man verläßt nicht den vertrauten Boden dessen, was man als gesichert zu haben glaubt. Es sieht so aus, als bliebe der Menschheit nichts anderes als die Wissenschaft, da sie sich plausibler als beispielsweise die Religion oder Ökonomie mit den Zukunftsfragen der Menschheit auseinandersetzt und dabei Unsicherheiten zuläßt. So gibt die Wissenschaft strenggenommen keine Prognosen ab, sondern sie entwirft Projektionen. Eine typische Aussage aus einer Permafroststudie wäre demnach, daß laut der Simulation eine 60prozentige Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß das Hochland von Tibet gegen Mitte des Jahrhunderts permafrostfrei sein wird.

Unbenommen ihrer Themenvielfalt vermochte die Potsdamer Permafrostkonferenz jedoch nicht den Eindruck zu entkräften, daß die Mittel und Methoden der Wissenschaft ungenügend bleiben, um die Geschwindigkeiten, mit denen die oben erwähnten globalen Entwicklungen in die Wege geleitet werden oder bereits angelaufen sind, schnell genug und adäquat im Sinne ihrer letztendlichen Bewältigung zu erfassen.


Von einer Polygonstruktur geprägte Permafrost-Küstenlandschaft, von der Erdmassen ins Meer stürzen - Foto: Mandy Lindeberg und ShoreZone, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

Wenn sich die Erde erwärmt, taut der Permafrost und der Meeresspiegel steigt. Beide Folgen des Klimawandels zusammen verstärken die Erosion an den Küsten in der Arktis.
Beaufortsee, 7. August 2012
Foto: Mandy Lindeberg und ShoreZone, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/permafrost-auf-duennem-eis.740.de.html?dram:article_id=361564

[2] Näheres dazu im Interview mit Prof. Hans-Wolfgang Hubberten, Permafrostexperte beim AWI (Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meereswissenschaften), das die Konferenz organisiert hat.
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0227.html

[3] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0246.html

[4] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0238.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/permafrostboeden-giftiges-quecksilber-wird-in-der-arktis.676.de.html?dram:article_id=359470

[6] http://www.amap.no/documents/download/174

[7] Würden hierzulande dieselben Grenzwerte für Quecksilberemissionen wie in den USA gelten, müßten 52 von insgesamt 53 deutschen Kohlekraftwerken vom Netz gehen. Somit tragen Kohlekraftwerke aufgrund ihrer Emissionen nicht nur zur globalen Erwärmung bei, sondern auch zur Umweltbelastung mit dem Nervengift. Wie gesagt, das relativiert nicht das Vorkommen von Quecksilber in der Arktis, das beim Auftauen des Permafrosts freigesetzt werden könnte und vielleicht irgendwann im Speisefisch zu uns zurückkommt.
http://www.oekopol.de/archiv/material/622-19_%C3%96KOPOL_Quecksilber-aus-Kohlekraftwerken_V5.pdf

[8] http://www.esa.int/ger/ESA_in_your_country/Germany/Mars_Express-Radar_misst_Wassermenge_am_Marssuedpol

[9] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0242.html

[10] https://psmag.com/for-climate-scientists-the-siberian-anthrax-outbreak-is-a-sign-of-whats-to-come-5b73e88cdf12#.pvw94btpy

[11] http://www.spektrum.de/news/eisschmelze-koennte-schadstoffe-aus-dem-kalten-krieg-auftauen/1418981

[12] http://www.spektrum.de/news/mehr-lachgas-aus-permafrostgebieten/1028281

[13] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0241.html


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Permafrostkonferenz in Potsdam erschienen:

INTERVIEW/227: Gitterrost und Permafrost - Zahlenspiele, Umweltziele ...    Prof. Hans-Wolfgang Hubberten im Gespräch (SB)
INTERVIEW/228: Gitterrost und Permafrost - Schrittmacher Menschenhand ...    Prof. Guido Grosse im Gespräch (SB)
INTERVIEW/229: Gitterrost und Permafrost - bedingt prognosesicher ...    Prof. Antoni Lewkowicz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/230: Gitterrost und Permafrost - zivile Katastrophen ...    Dr. Tingjun Zhang im Gespräch (SB)
INTERVIEW/234: Gitterrost und Permafrost - Flirt mit Ideen, Karriere mit konservativen Methoden ...    Dr. Anne Morgenstern im Gespräch (SB)
INTERVIEW/235: Gitterrost und Permafrost - nicht hören, nicht sehen ...    Dr. Torre Jorgenson im Gespräch (SB)
INTERVIEW/238: Gitterrost und Permafrost - maßstabslos ...    Prof. Duane Froese im Gespräch (SB)
INTERVIEW/239: Gitterrost und Permafrost - Pragmatik trifft Unberechenbarkeit ...    Prof. emer. Wilfried Haeberli im Gespräch (SB)
INTERVIEW/241: Gitterrost und Permafrost - terrestrische Wandlungen ...    Dr. Merritt Turetsky im Gespräch (SB)
INTERVIEW/242: Gitterrost und Permafrost - Am Beispiel Mars ...    Dr. Andreas Johnsson im Gespräch (SB)
INTERVIEW/244: Gitterrost und Permafrost - den Elementen Zivilisation abgewinnen ...    Dr. Nikolay Shiklomanov im Gespräch (SB)
INTERVIEW/245: Gitterrost und Permafrost - CO2 und Wiederkehr ...    Dr. Peter Köhler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/246: Gitterrost und Permafrost - Emissionsanstieg CO2 absehbar ...    Prof. Kevin Schaefer im Gespräch (SB)


12. August 2016


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