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BERICHT/078: Kohle, Gifte, Emissionen - Industrie vor Menschenrecht, Teil 2 (SB)


Exkursion in ein Land ohne Zukunft

Ortsbegehung im Braunkohleabbaugebiet Garzweiler am 25. Mai 2014



Im ersten Teil des Berichts stand die Kohleförderung im Tagebau Garzweiler im Mittelpunkt der Betrachtung. Jetzt soll es um die Lebensräume gehen, die seiner weiteren Expansion weichen müssen.

Mit Wein überwachsene Hausfassade - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prachtvoll übergrüntes Ende einer langen Geschichte
Foto: © 2014 by Schattenblick

Borschemich - Erinnerungen am Rande des Vergessens

Über einen Schotter- und Sandweg, den für gewöhnlich Trecker und andere landwirtschaftliche Fahrzeuge nutzen und der einen PKW in der Tat auf seine hydraulischen Eigenschaften testet, gelangt man in westlicher Richtung nach einer Viertelstunde Fahrzeit entlang von Wirsing-, Mais- und Weizenfeldern nach Borschemich, das nach seiner Eingemeindung im Jahre 1972 als Stadtteil zu Erkelenz im Kreis Heinsberg gehört. Durch ein kleines Waldstück mit Laub- und Nadelbäumen fahrend, das die Straße säumt, erreichen wir den Ortseingang. Zwiespältige Gefühle beschleichen einen. Einerseits hat man im Kopf, daß mit der Umsiedlung eines Großteils der Einwohnerschaft des Orts bereits 2006 begonnen wurde, andererseits kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, in eine Geisterstadt zu fahren. Aus Wildwestklassikern kennt man solche Szenarien, aber jede Vorstellung und filmische Requisite wird von der Wirklichkeit in den Schatten gestellt, wenn die Distanz der Betrachtung fällt und man plötzlich mittendrin steht in einem Ort, der von Menschen nahezu entvölkert ist.

Man glaubt zunächst, auf jeden Eindruck vorbereitet zu sein, aber schon die ersten Häuser an der Eingangsstraße mit Brettern vor den Fenstern und Türen beweisen das Gegenteil. Als wir aussteigen, haben wir das Gefühl, die letzten Menschen auf der Welt zu sein. Was für ein befremdlicher Gegensatz: Gleißende Lichtstrahlen brechen sich am Turm der katholischen Pfarrkirche St. Martinus und fallen herab auf den 200jährigen Magnolienbaum vor dem Kirchplatz, aber der sonnige Maientag läßt kein Gesicht aufhellen. Niemand freut sich über den azurblauen Himmel. Die Sonne könnte auch die menschenleeren Gipfel des Himalaya bescheinen. Es wäre das gleiche. Die verstörende Empfindung von Einsamkeit begleitet unsere Schritte. Wohl hört man Vögel zwitschern, aber niemand lauscht ihrem Gesang.

Ein Geräusch von der Straße her reißt uns aus der Versunkenheit. Ein RWE-Wagen fährt Patrouille. Hinter den Scheiben heften sich argwöhnische Blicke auf uns. Der Wagen fährt hinter eine Biegung, aber bis zuletzt werden wir von den Augen des Sicherheitspersonals verfolgt. Besucher sind offenbar nicht willkommen. Fürchtet man Plünderer am hellichten Tag? Denn tatsächlich ist es so, daß Tag und Nacht an diesem Ort längst keine Rolle mehr spielen. Wir beschließen, St. Martinus näher in Augenschein zu nehmen. Einen Blick in die Kirche selbst können wir nicht werfen. Das Tor ist verschlossen. Im Herbst soll hier ein letzter Gottesdienst abgehalten werden. Danach schweigen die Glocken im dreigeschossigen Turm für immer.

Kirchturm hinter ausladendem Baum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Pfarrkirche St. Martinus mit 200 Jahre alter Magnolie
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die dem Heiligen Martin, dem Nationalheiligen der Franken, geweihte Kirche existiert erst seit 1906, weil die wesentlich ältere Ortskirche für die Gottesdienste zu eng geworden war und daher durch einen spätgotischen Neubau an anderer Stelle durch den Kölner Diözesanbaumeister Heinrich Renard ersetzt werden mußte. Die alte Kirche in Randlage von Borschemich ging auf eine Kapelle in fränkischer Zeit aus dem 12. Jahrhundert zurück. Von ihr ist bis auf die Fundamente im Erdreich nichts übriggeblieben. Renard hatte in der Tat mit der einschiffigen Backsteinkirche ein Meisterwerk vollbracht. Nun sind auch ihre Tage gezählt. Spätestens 2017 wird St. Martinus nur noch auf Photographien zu bewundern sein. Denkmalpflege ist im Rheinischen Kohlerevier ein unbeständiges Wort. Wir steigen eine Anhöhe mit Parkanlage hinauf, die Lourdes-, Kalvarien- und Kriegerehrenmal-Grotten beherbergt. Allein wir kommen zu spät. Nur noch leere Sockel künden von den Heiligenfiguren, die hier noch vor kurzem standen. Die Grotten tragen ein müdes, verwittertes Gesicht. Unkraut nistet in den Gesteinsfurchen.

Grotte aus Naturstein mit leerem Podest - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nach dem Auszug der Heiligen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Etwa hundert Meter gegenüber dem Kirchenportal, eine Seitengasse hinauf, betreten wir den Friedhof und ehemaligen Standort des alten Gotteshauses. Beim Rundgang über den Friedhof wird der Schritt unwillkürlich langsamer, denn noch liegen hier die Gebeine der Toten unter der Erde. Einige Gräber sind leer und nach Neu-Borschemich in Erkelenz-Nord umgebettet worden. Selbst die Toten müssen umziehen, wenn die Bagger kommen. Man findet noch alte Grabsteine aus dem 17. Jahrhundert, weswegen der Friedhof als Denkmal geschützt war, jedenfalls solange, bis die ganze Region der bergbaulichen Inanspruchnahme, wie es im Bürokratendeutsch verklausuliert für Enteignung und Zwangsumsiedlung heißt, durch RWE Power geopfert wurde. Dieser energiepolitische Irrsinn hat dennoch Methode, angeblich, um Arbeitsplätze zu sichern und den Industriestandort Deutschland von ausländischen Energieträgerimporten unabhängig zu machen, obwohl die fossile Stromgewinnung in Zeiten des Klimawandels überkommen sein soll.

Kreuzweghäuschen mit Detailaufnahmen - Foto: © 2014 by Schattenblick Kreuzweghäuschen mit Detailaufnahmen - Foto: © 2014 by Schattenblick Kreuzweghäuschen mit Detailaufnahmen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Schmerzhafter Abschied
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Wir umrunden den Friedhof, hier und da verwelken Blumen auf Gräbern, und gehen die 13 Stationen der in die Umfassungsmauer eingelassenen, spitzgiebligen Kreuzweghäuschen mit Muschelkalkreliefs ab, die nach 1850 angelegt wurden. Kleindenkmäler, die, als zu gering verworfen, bald schon unter lärmenden Preßlufthämmern das Zeitliche segnen werden, wie überhaupt alles hier, was über Jahrhunderte Kultur- und Menschengeschichte geschrieben hat, ins Dunkel der Vergessenheit fallen wird, denn vor den Toren wartet schon die Apokalypse in Gestalt eines westwärts ziehenden Riesenlochs, das Ton-, Kies- und Sanddünen vor sich herschiebt. Ehe wir in den Wagen klettern, um in den Stadtkern zu fahren, sehen wir noch, wie ein älteres Ehepaar aus einem Auto mit Kasseler Kennzeichen steigt und den Treppenaufgang zum Friedhof hinaufgeht. Wollen sie die verstorbenen Eltern noch einmal dort ehren, wo sie bestattet wurden?

Bemoostes Kreuz zwischen Sträuchern - Foto: © 2014 by Schattenblick

Wildnis trotzt Zivilisierung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Nicht minder verlassen als der Platz um die Kirche herum wirkt das Zentrum von Borschemich. Der Blick wirft sich entlang verlassener Häuserreihen, die sich trotzig in die Gehwege hineinbeißen. Die Rolläden sind zumeist heruntergelassen, und wo nicht, sind die Fensterscheiben blind von Staub und Regen. Verwilderte Vorgärten, von braunem Moos überzogene Hauszufahrten, vergilbter, abblätternder Putz oder Halden achtlos liegengelassenen Schuttes, Häuser, die von Weinranken und Efeu fast vollständig überwachsen sind, überall Zeugnisse von Verfall und Wildnis. Und weit und breit kein menschliches Leben. Oder doch? Borschemich ist offenbar noch nicht ganz verlassen. Am Ende der Straße zupft eine Frau mittleren Alters tatsächlich Unkraut unter der Buchsbaumhecke, als wollte sie mit ihrem Ordnungssinn verzweifelt gegen das absehbare Schwinden des Ortes ankämpfen.

Vernagelte Häuserfronten in menschenleeren Straßen - Foto: © 2014 by Schattenblick Vernagelte Häuserfronten in menschenleeren Straßen - Foto: © 2014 by Schattenblick Vernagelte Häuserfronten in menschenleeren Straßen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Verlassenheit in den Gesichtern der Häuser
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Wir machen uns auf den Weg zum Haus Paland, das in alter Zeit einmal eine Wasserburg war. Die Gräben, die früher von der Köhm gespeist wurden, sind nur noch in Resten erhalten. Wer in den Büchern nachschaut, wird finden, daß dies einst der Stammsitz eines Rittergeschlechts war und später von rheinischen Landadligen erworben wurde, auf die der Name der Burg zurückgeht, ehe das Haus 1837 in den bürgerlichen Besitz der Familie Lörkens überging. Auf dem Friedhof finden sich noch die Grabstelen dieser Familie, die bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückdatieren. Die Jahrhunderte und Zerstörungen durch Kriege haben immer wieder Umbauten erforderlich gemacht. Bis heute erhalten sind das zweigeschossige Hauptwohngebäude mit geschweiften Giebeln und einem Eckturm sowie ein Torhaus und ein kleineres, noch vor 1600 errichtetes Wohnhaus mit Treppengiebel. Auch diese historischen Mauern sind eigentlich denkmalgeschützt, was in Borschemich jedoch nichts anderes bedeutet, als eine Galgenfrist zu haben bis 2017, wenn die Abrißbirne in Schutt und Asche legt, was über eine lange Ahnenreihe gepflegt und behütet wurde.

Ein Besuch bei der Gärtnerei Meier, deren Besitzer im Rechtsstreit mit RWE liegen, komplettiert die Impressionen aus Borschemich. Das Gespräch, zu dem sich Joachim Meier bereiterklärt, wird aufgrund seiner Länge als eigenständiges Interview im Rahmen der weiteren Berichterstattung des Schattenblicks zur Situation rund um die Tagebaue Hambach und Garzweiler veröffentlicht werden.

Beratungsbüro Immerath mit Umsiedlungsbeauftragten in ehemaliger Bäckerei - Foto: © 2014 by Schattenblick Beratungsbüro Immerath mit Umsiedlungsbeauftragten in ehemaliger Bäckerei - Foto: © 2014 by Schattenblick

Vom Lebensmittelhandel zur Umsiedlungsberatung
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Immerath - Warten auf die Bagger

Die nächste Station dieser Exkursion in die Abrißzone Garzweiler II ist Immerath. Schon von weitem kann man als sichtbare Landmarke die beiden Türme von St. Lambertus erkennen. Auch dieses Dorf ist seit 1972 ein eingemeindeter Stadtteil von Erkelenz. Erstmals urkundliche Erwähnung findet es 1144, es dürfte aber wesentlich älter sein. Wie sich doch die sterbenden Orte gleichen! Auch hier umfängt uns wie in Borschemich gespenstische Stille. Die eigene Stimme trägt weit, denn die Gehwege sind verlassen, die Straßen leer, kein Verkehrslärm oder Kindergeschrei stört den Frieden der steinernen Fassaden und verwinkelten Gassen. Wir stehen vor der katholischen Pfarrkirche St. Lambertus. Aus der Nähe nötigt sie einem Ehrfurcht ab. Selbst ein Atheist wäre beeindruckt von der architektonischen Schönheit dieses Gotteshauses, eines Schmucksteins neuromanischer Baukunst, das von 1888 bis 1891 nach Plänen und Entwürfen des Kölner Baumeisters Erasmus Schüller errichtet wurde.

Nachempfunden einer einschiffigen romanischen Anlage aus dem 12. Jahrhundert sollte sie dem Sitz der Pfarre Immerath und ihres Patrons St. Lambertus einen würdigen Rahmen verleihen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert reichte die alte Dorfkirche aus Backstein nicht mehr zur Repräsentanz des Reichtums ihrer Bürger aus. Auch war das bisherige Gotteshaus für die 1200-Seelen-Pfarrgemeinde zu klein geworden. Immerath liegt auf der Hauptterrasse der fruchtbaren Erkelenzer Börde, deren Lößboden reiche Bauern hervorbrachte. Sie wollten sich selbst ein Zeichen setzen mit der neoromanischen Basilika aus mit Tuffstein verblendeten Ziegelsteinen und zwei dreigeschossigen Türmen, die spitzgiebelig als Rhombenhelme auslaufen. Ein Großteil der Kosten für den Kircheneubau wurde durch Spenden aufgebracht.

Neben dem Hofschmied wurden in Immerath die Handwerksberufe des Essers, Stellmachers, Wagen- und Radbauers, des Hammachers oder Sattlers und des Küpers, Böttchers oder Faßbinders ausgeübt. Im 19. Jahrhundert stellte das Handwerk neben der Landwirtschaft und Hausweberei den drittgrößten Wirtschaftsfaktor des Dorfes dar. Die Hausweber arbeiteten für die Verlagsgeschäfte oder Manufakturen in den benachbarten Industrieorten, bis der mechanische Webstuhl in den Fabriken zum Ende des Jahrhunderts den Handwebstuhl verdrängte und die Immerather Hausweber zwang, ihre Arbeitskraft in den Textilbetrieben von Wickrath, Odenkirchen, Mönchengladbach und Rheydt zu verdingen.

Immerath war einst auch berühmt für seine vielen Hausbrauereien und ein Exportbier, das der auswärtigen Konkurrenz Kummer bereitete. Nirgends schmeckte das Bier so gut wie dort, wo bereits im Jahre 1288 ein Brauer das durstlöschende Getränk herstellte. Erst die 1675 eingeführte allgemeine Biersteuer senkte den Bierkonsum und traf die Einwohner von Immerath an einer besonders empfindlichen Stelle. Dennoch trank man in den Nachbarorten auch weiterhin reichlich Immerather Bier, so in Keyenberg, wo der Pastor die Handwerker, die an der Kirche, Schule und am Pastorat arbeiteten, mit diesem Getränk versorgte.

Sakrales Bauwerk im neoromanischen Stil - Foto: © 2014 by Schattenblick Sakrales Bauwerk im neoromanischen Stil - Foto: © 2014 by Schattenblick Sakrales Bauwerk im neoromanischen Stil - Foto: © 2014 by Schattenblick

Immerather Dom St. Lambertus
Fotos: © 2014 by Schattenblick

St. Lambertus ist die einzige Kirche im Kreis Heinsberg mit einer Doppelturmfassade. Die Leute nennen ihr Gotteshaus mit den beiden Türmen, die weithin ihr Dorf überragen, stolz und selbstbewußt "Immerather Dom". Es ist in der Tat ein prächtiges Gebäude mit einer gotischen Fensterrosette über dem Eingang, einem Boden aus wertvollen Kacheln und bunten Scheiben. Am nördlichen Zugang stößt man auf die in Sandstein gearbeitete Figur der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind im Arm. Über dem ausladenden Hauptportal mit Säulenkapitellen ist ein Tympanon in Stein gehauen, das Christus als thronenden Weltherrscher zeigt sowie Maria und Johannes, die an seinem Kreuze standen, und den Erzengel Michael.

Schüller selbst konnte die Einweihung der Kirche nicht mehr miterleben, da er im Jahr vor der Fertigstellung verstarb. Der Kölner Theodor Roß übernahm darauf die Bauleitung. Am 9. Juli 1891 erfolgte die Weihe der Kirche. Selbst die schweren Kriegsschäden im Februar 1945 konnten ihr dank umfangreicher Reparaturen und Renovierungen nichts anhaben. Nun ist sie dem Abriß geweiht. Der Wohlstand, den die Immerather seit Jahrhunderten dem Ackerboden abgerungen hatten, wurde durch ein noch reicheres Vorkommen tief in der Erde, das die Begehrlichkeit Rheinbrauns weckte, zu ihren Lasten übertrumpft. Nun muß der Dom samt Ortschaft weichen und Platz schaffen für die gefräßigen Bagger. In diesem ungleichen Kampf gegen den Goliath aus Staat und Kapital hatte David ohne seine Steinschleuder keine Chance. Seit dem Aussegnungsgottesdienst am 13. Oktober 2013 ist St. Lambertus kein heiliger Boden mehr und kann abgerissen werden.

Seine Türme dienen nur mehr Tauben zum Nistplatz. Seit April 2014 gehört die Kirche dem neuen Eigentümer RWE Power. Die Holzbänke, die Orgel und die Beichtstühle sind verkauft, das letzte Geläut verhallt. Im Kirchturm hängen noch sechs Glocken. Drei von ihnen, die Lambertusglocke von 1496, die Marienglocke von 1512 und eine Glocke von 1670, sollen, wenn die Kirche im Umsiedlungsort Immerath (neu) fertiggestellt ist, wieder läuten dürfen. Auch das Missionskreuz aus dem 14. Jahrhundert, die Madonna und das Taufbecken sollen mitgehen wie auch geplant ist, die beiden kleinen Fenster am Eingang in der neuen Kapelle einzubauen, sofern sie mit dem modernen Stil des neues Domizils in Einklang zu bringen sind. Die beiden Kreuze auf den Kirchturmspitzen sollen den Eingang zum Parkgelände zieren, dessen Namensgebung - "Luna" - einen fast subversiven Blick auf die Mondlandschaften wirft, die sich des ursprünglichen Immeraths bemächtigen werden.

Menschenleere Straßen und vernagelte Fassaden - Foto: © 2014 by Schattenblick Menschenleere Straßen und vernagelte Fassaden - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ordentlich zum Abriß bereit
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Hin und wieder zieht es Radler und Passanten aus den umliegenden Dörfern nach Immerath. Selbst aus Köln ist eine dreiköpfige Studentenschar auf Motorrädern hierher gefahren, um sich im Schatten der alten Bäume niederzusetzen. Wir kommen ins Gespräch. Weshalb sie hier sind? fragen wir. Hier ist es ruhig, lautet die Antwort, aber in der Stimme drängen Erinnerungen an die Oberfläche. Er habe einst eine Freundin aus diesem Ort gehabt, sagt einer der Ausflügler. Nach dem Abriß wird diese Erinnerung nur noch in seinem Kopf weiterexistieren können.

In dem Gewinkel der Innenstadt treffen wir auf zwei Frauen. Wir brauchen sie nicht zu fragen, ob sie von hier kommen. Die ältere Dame lächelt etwas gequält und erklärt, daß sie in Immerath geboren und großgeworden, aber vor 15 Jahren nach Aachen gezogen sei. Ihre Blicke schweifen über die Hausfassaden, als wollte sie sich jedes Gebäude noch einmal einprägen. Sie sei mit ihrer Tochter gekommen, um ihr noch einmal ihr Geburtshaus zu zeigen. Ja, es sei schlimm, was RWE mache, aber was soll man gegen einen Konzern auch ausrichten können? Ungeduldig zieht es sie weiter, als fürchte sie, im nächsten Augenblick könnte ein Trupp Bauarbeiter um die Ecke biegen und alles in Schutt und Asche legen, bevor sie das Haus ihrer Geburt noch einmal gesehen hat. In Immerath leben noch ein paar Menschen, vor allem ältere, die ausharren, weil sie vielleicht noch keine neue Bleibe gefunden haben oder darauf hoffen, vor dem letzten Verfallsdatum dieses Ortes spätestens 2017 hier, wo ihr Leben begonnen hat, in Frieden zu sterben. Es klingt makaber, aber dann hätte RWE nur einen Teilsieg errungen und nicht alle Menschen aus diesem Dorf vertreiben können.

Zerfallende Klinik, Abriß eines Wohnhauses in Immerath - Foto: © 2014 by Schattenblick Zerfallende Klinik, Abriß eines Wohnhauses in Immerath - Foto: © 2014 by Schattenblick

Metamorphosen der Zerstörung
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Einige Häuser sind schon abgerissen. Schuttberge türmen sich hoch hinter Drahtzäunen. Der Anfang ist gemacht, bald folgt der Rest des Dorfes. Was am meisten verstört, ist die penible Reinlichkeit. Nirgends verweht Laub aus dem vergangenen Herbst, die Gehwege und Straßen sind sauber, keine Cola-Dose liegt im Schatten der Trauerweide, keine herrenlose Plastiktüte geistert durch die Gassen, es ist, als seien alle Dorfbewohner in ein Nachbarstädtchen zu irgendeiner Prozession oder Feier aufgebrochen und müßten jeden Augenblick wieder zurückkehren. Man wünscht sich, das Hupen eines Reisebusses würde die Stille unterbrechen, um die Immerather auszuladen, als sei die Ankündigung des Abrisses nur ein haltloses Gerücht gewesen, von RWE in die Welt gesetzt, mehr um zu drohen als es wahrzumachen. Doch der Reisebus kommt nicht und Immerath bleibt von Menschen verwaist. Da nähert sich auf einem Feldweg eine mehrköpfige Menschengruppe. Wir sind gespannt und warten. Mutter, Tochter, Schwiegersohn und Kind beim sonntäglichen Spaziergang. Der Bitte um ein kurzes Interview gibt Sabine Verbocket statt.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Sabine Verbocket
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Kommen Sie aus der Umgebung?

Sabine Verbocket: Ja, wir wohnen in Erkelenz, der nächstgrößeren Stadt.

SB: Ist auch Erkelenz vom Abriß bedroht?

SV: Nein.

SB: Welchen Eindruck macht es auf Sie, durch einen halb verlassenen Ort zu gehen?

SV: Wir wußten schon aus den Medien, daß Immerath 2015 vollständig abgerissen wird, aber daß es hier so erschreckend ist, haben wir nicht geahnt. Es sieht auch ein bißchen geplündert aus. An der Kirche sind Scheiben eingeworfen worden. Die Stimmung ist schon ziemlich bedrückend mit all den verfallenen Häusern und geschlossenen Fenstern.

SB: Was hat Sie hierher getrieben?

SV: Die Neugier. Es tut schon weh, ein menschenleeres Dorf zu sehen. Ab und zu fahren Radler oder Autos durch den Ort. Am schlimmsten ist, welche Werte verlorengehen und was die Menschen, die früher hier wohnten, alles zurückgelassen haben. Es geht ja nicht nur um ein paar Blümchen oder eine Gardine. Hier haben überwiegend ältere Menschen gelebt, wer weiß, wo sie in ihrem Alter hin sind.

SB: Selbst wenn sie ersatzweise ein schönes Häuschen bekommen, bleibt doch die Frage, ob sie dort ein neues Leben anfangen können?

SV: Gut, einen Teil des Eigentums kann man mitnehmen, aber eben nicht alles. Man läßt viel zurück, vor allem Werte und Erinnerungen. Das gilt insbesondere für die soziale Kontakte, der Nachbar, mit dem man über den Gartenzaun hinweg plaudern konnte, ohne daß man sich vorher verabreden mußte. Wir haben auch Neu-Immerath gesehen. Anders als hier ist dort alles sehr modern, aber irgendwie auch einsam. Dort stehen überwiegend Einfamilienhäuser. Flair und Stimmung, die das alte Immerath ausgezeichnet hatten, kann man nicht ersetzen ebensowenig wie die Kirche hier in diesem Ort, die die Menschen mit einer jahrhundertealten Geschichte verbunden hat.

Turmwindmühle auf Hügel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Historisches Zeugnis landwirtschaftlichen Reichtums
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Familie geht weiter, und auch wir machen uns auf den Weg zu der Turmwindmühle, die zwischen Immerath und Jackerath liegt. Nahe einem Wäldchen aus Buchen- und Ahornbäumen stoßen wir auf das 1780 errichtete Bauwerk. Sie steht auf einem Hügel und wird von Fliederbäumen gesäumt. Als die Franzosen, die im Zuge der napoleonischen Kriege diese Gegend beherrschten, 1802 den Mühlenbann aufhoben, ging sie im folgenden Jahr in den Besitz von Heinrich Lauterbom aus Jackerath über. Einige Jahrzehnte später erwarb die Familie Schurf die Mühle, die bis 1930 in Betrieb blieb. Die Kriegswirren forderten ihren Tribut. 1944 zerstörte eine Brandbombe die Turmhaube und ließ mehr oder weniger eine Ruine zurück. Doch 1954 kaufte die Gemeinde Immerath die Mühle und ließ sie restaurieren. Abgesehen von der Erkelenzer Blancken-Mühle ist sie die einzige erhaltene historische Windmühle im Erkelenzer Land. Das Flügelwerk sieht ein wenig ramponiert aus und auch einen neuen Anstrich könnte die Mühle gebrauchen, aber ansonsten ist sie gut erhalten. Eine Zeitlang wurde diskutiert, das historische Bauwerk in die neue Umsiedlungsstätte zu verlegen, aber daraus dürfte wohl nichts werden. Die verbleibende Mühle in Erkelenz hat dann den zweifelhaften Ruhm, als einzige Historienmühle dieser Region übriggeblieben zu sein.

Trümmerfeld hinter Lattenzaun - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nur der Zaun verrät, daß hier einst ein Dorf stand
Foto: © 2014 by Schattenblick

Pesch - Nur noch ein Trümmerfeld

Pesch liegt ganz in der Nähe, nur wenige Autominuten entfernt, und doch kommen wir vier Wochen zu spät. Die letzten stehenden Häuser waren im April 2014 dem Erdboden gleichgemacht worden. Wo über 200 Menschen lebten, ist nur noch ein Schotterfeld aus Ziegelsteinen und herausgebrochenen Wänden übriggeblieben. Pesch, das einst als Straßendorf entlang des Weges von Immerath nach Garzweiler entstanden war, existiert nicht mehr. Nur noch ein Holzzaun erinnert daran, daß hier einmal die Notwendigkeit der Umfriedung eines Geländes bestand. Nicht mehr zu erkennen im Schutt ist die historische Hofanlage eines alten Rittersitzes mit Tor- und Herrenhaus. Die Menschen waren schon 2012 geflohen, weil sie den Lärm und die Staubbelastung in der Luft durch das herannahende Grubenloch nicht mehr aushielten.

Abgeschlagene Stämme, Stümpfe und aufgeschichtetes Gestrüpp - Foto: © 2014 by Schattenblick Abgeschlagene Stämme, Stümpfe und aufgeschichtetes Gestrüpp - Foto: © 2014 by Schattenblick Abgeschlagene Stämme, Stümpfe und aufgeschichtetes Gestrüpp - Foto: © 2014 by Schattenblick

Einst haben sie Pesch belaubt und beschattet
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Inzwischen hat sich die Abbruchkante des Tagebaus bis an Pesch herangefressen. Dahinter fällt die Welt über hundert Meter in die Tiefe. Betroffen vom Vernichtungswerk ist auch das nahe Waldstück. Wie die abgebrochenen Zähne eines Riesen stechen Baumstümpfe aus dem Boden hervor. Hier ist ein Wald regelrecht massakriert worden. Aufgeschichtet zu hohen Hügeln lagern Baumstämme und Wurzelgestrüpp wild durcheinander. Man könnte einwenden, daß die Rodung von Bäumen eben ein solches Bild der Verwüstung erzeugt, und doch bleiben Zweifel ob dieser nüchternen Sicht. An diesem Ort wird nicht Forstwirtschaft betrieben oder Brennholz geschlagen für einen harten Winter. Hier werden weite Landschaften und darin eingebettete Lebensstrukturen quasi als Begleitmusik zu einer viel größeren Zerstörung regelrecht in die Mülltonne getreten, weil sie der Unersättlichkeit des fossilen Kapitalismus schlicht im Wege stehen.

(wird fortgesetzt)


Aktuelle Beiträge zu den Tagebauen im Rheinischen Braunkohlerevier und dem dagegen gerichteten Widerstand im Schattenblick unter
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BERICHT/075: Kohle, Gifte, Emissionen - Kontroversen, Bündnisse, Teil 1 (SB)
BERICHT/076: Kohle, Gifte, Emissionen - Kontroversen, Bündnisse, Teil 2 (SB)
BERICHT/077: Kohle, Gifte, Emissionen - Industrie vor Menschenrecht, Teil 1 (SB)

7. Juni 2014