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BERICHT/024: Down to Earth - Kongreßlotsen (SB)


IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln

Auftaktbericht zur Pressekonferenz

Organisatoren, Referenten und Medienvertreter sitzen einander an einem langen Tisch gegenüber - Foto: © 2012 by Schattenblick

Pressefrühstück auf dem IGC 2012
Foto: © 2012 by Schattenblick

Seit Beginn des neuen Jahrtausends häufen sich die Nachrichten über krisenhafte Entwicklungen des Erdklimas, der Wasserversorgung, der Erdölförderung sowie der Nahrungsmittelproduktion der Menschheit, um nur einige Schwerpunkte zu nennen. Was vor zehn Jahren in wissenschaftlichen Klimasimulationen noch als Worst-case-Szenarien angenommen wurde, wird von der Wirklichkeit längst überholt. Darüber hinaus verschwinden unzählige Tier- und Pflanzenarten aus unseren Ökosystemen in einer Geschwindigkeit, die im Vergleich zum wiederholten Massenaussterben im Laufe der Erdgeschichte einzigartig ist; gleiches gilt offenbar auch für die Geschwindigkeit, mit der gegenwärtig die Ozeane versauern und deren Bewohner keine Zeit zur Anpassung an das sich verändernde Umgebungsmilieu lassen.

Rund eine Milliarde Menschen leidet chronisch Hunger, eine weitere Milliarde hat ebenfalls nicht ausreichend zu essen. Gleichzeitig legen Industriestaaten und wirtschaftlich aufstrebende Schwellenländer Agrospritziele fest, welche die Versorgungslage der Menschen verschärfen, da Nahrungs- und Futtermittel schlicht verbrannt werden oder aber potentiell für die Hungerbekämpfung nutzbare landwirtschaftliche Fläche anderweitig gebraucht wird. Ob Eisregen in China, Überschwemmungen in Pakistan, Waldbrände in Rußland oder Dürre in Nordamerika - im vorherrschenden Wirtschaftssystem sind solche Katastrophen aus Sicht der Börsenspekulanten sogar vortreffliche Nachrichten, da der Mangel - in diesem Fall von Nahrung - den Wert ihrer Investitionen steigen läßt.

Zugleich werden auf der ganzen Welt Zäune gezogen, gewaltige Hightech-Grenzanlagen, welche die krassen sozialen Unterschiede manifest werden lassen und dauerhaft sichern sollen. Die Europäische Union hat mit Frontex eine eigene Behörde zur Koordination der Bewachung und Sicherung der See- und Landgrenzen geschaffen. Die reichen USA errichten gegen das ärmere Mexiko eine technologisch ausgeklügelte Grenzanlage. Das diamantenreiche Botswana versucht, mit einem rund 500 Kilometer langen Zaun das Ausbreiten von Viehseuchen aus Simbabwe zu verhindern und - selbstverständlich rein zufällig - werden dabei auch die Armutsflüchtlinge aus dem Nachbarland am Überschreiten der Grenze gehindert. China hat einen Zaun gegen Nordkorea und Indien gegen Bangladesh aufgebaut. Reich versus arm, wohin das Auge blickt. Marginalisierung scheint die Antwort des wohlhabenden Teils der Menschheit auf die Armutsproduktion zu sein, die von jenen krisenhaften Entwicklungen noch forciert wird. Diese vermeintlichen "Lösungen" für die existentiellen Nöte eines erheblichen Teils der Menschheit scheinen die Lebensverhältnisse viel stärker zu bestimmen als die vagen Verheißungen internationaler Klimaschutzverhandlungen, von UN-Nachhaltigkeitsgipfeln, Entschuldungsprogrammen oder wirtschaftlichen "Partner"schaftsabkommen.

Wohl keine andere Wissenschaft ist in diesem Spannungsfeld zwischen natürlichen Prozessen und menschlichem bzw. gesellschaftlichen Verhalten, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften breiter aufgestellt als die Geografie. Trotz der ungeheuren Ausdifferenzierung dieser Disziplin ist in ihr noch etwas von dem bewahrt geblieben, was früher einmal das Universalgelehrtentum genannt wurde. Ein Forschungsreisender wie Alexander von Humboldt (1769 - 1859) betrieb Feldforschung auf so verschiedenen Gebieten wie Geologie, Zoologie, Botanik, Klimatologie, Ethnologie, Demographie und vielem mehr und tauschte sich regelmäßig mit Experten dieser und weiterer Disziplinen aus. Die Natur zu verstehen und auch die Antwort des Menschen auf die Natur zu erfassen und daraus sowohl Erkenntnisse allgemeiner Art wie auch konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten, gehört von jeher zum Selbstverständnis der Geografie.

Eine Erdölgesellschaft, die nach neuen Lagerstätten fahndet, wird vermutlich keinen Geografen einstellen, sondern einen Geologen; ein Biotechkonzern würde auf der Suche nach neuen Wirkstoffen keinen Geographen zu den eisfreien Küsten der Antarktis entsenden, sondern einen Botaniker; die Administration einer regelmäßig von Überschwemmungen heimgesuchten Metropole wird keinen Geografen beauftragen, um dem Problem Herr zu werden, sondern einen Ingenieur. Aber die Frage, welche Folgen die Exploration des Erdöls, das industriell organisierte Einsammeln von Flechten vom südpolaren Kontinent oder das Errichten von Flutmauern auf Umwelt und Mensch haben, werden Fachexperten womöglich erst im zweiten oder dritten Rang stellen, für Geografen hingegen stellt sie sich sofort. Er kann gar nicht anders, als die Frage nach übergreifenden Wirkzusammenhängen zu stellen, sie liegt ihm quasi im Forscherblut.

Heutezutage ist der Universalgelehrte nicht mehr gefragt und anscheinend ebensowenig der Geograf. In Deutschland, Frankreich und anscheinend vielen anderen Ländern gehört das Unterrichtsfach Geografie zu den ersten, die dem Rotstift zum Opfer fallen, wenn Schulen Einsparungen vornehmen müssen. Diesen deutlichen Eindruck hinterließ der von den Mainstream-Medien weitgehend ignorierte Weltgeografenkongreß, der International Geographical Congress (IGC), der vom 26. bis 30. August an der Universität Köln abgehalten wurde. Nach über 100 Jahren fand er erstmals wieder in Deutschland statt, und (fast) niemanden hat's interessiert. Dabei waren mehr als 2300 Wissenschaftler aus über 85 Nationen in die Domstadt gereist, um weit über 400 Vorträgen zu lauschen, an Exkursionen in die Stadt und Umgebung teilzunehmen und sich am Rande der offiziellen Programmpunkte mit Geografinnen und Geografen im regen Gespräch auszutauschen.

Engagierte Präsentation des Weltgeographiekongresses - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Frauke Kraas
Foto: © 2012 by Schattenblick

Am Montag, dem zweiten Tag des Kongresses, hatten die Veranstalter zu einem Pressefrühstück geladen. Dessen Zweck bestand darin, die Geografie im allgemeinen wie auch den Weltkongreß im besonderen zu präsentieren. Das Motto "Down to Earth", vereine laut Prof. Dr. Frauke Kraas, mehrere Ansätze wie die naheliegende Konzentration auf die Kernthemen der Menschheit (1. Demographischer Wandel und Urbanisierung, 2. Globalisierung und Global Change, 3. Risiken und Konflikte, 4. Gesellschaft und Umwelt). Zum zweiten sollten auch junge Geografinnen und Geografen aus den Schwellen- und Entwicklungsländern angesprochen werden. Deshalb sei die finanzielle Belastung, verglichen mit anderen Kongressen dieses Kalibers, möglichst gering gehalten worden. Drittens wollten die Veranstalter den Kongreß wieder zu den akademischen Wurzeln bringen, also in die Universität gehen, wo die Geografie gelehrt wird.

Dieses etwas "waghalsige" Konzept sei aufgegangen, erklärte Kraas im nicht minder gewagten Vorgriff auf die noch bevorstehenden vier Tage, also auf den Hauptteil des Kongresses. Eine Einschätzung, die sich allerdings als zutreffend erweisen sollte. Der IGC 2012 wirkte perfekt vorbereitet, nicht im Sinne des perfekt Abgeschlossenen und Erstarrten, sondern im Sinne des möglichen Aufbruchs. Weil die Teilnehmer beispielsweise keine unnötige Zeit mit dem Aufsuchen der von ihnen gewählten Vortragsorte verschwenden mußten - es wäre allerdings auch peinlich gewesen, wenn ausgerechnet auf einem Geografiekongreß Orientierungsnot geherrscht hätte ... - und an zahlreichen Stellen für Speisen und Getränke gesorgt wurde, traf man sich und kam ohne weiteres ins Gespräch. So entstand eine intensive Atmosphäre des Kennenlernens, des Austausches, oftmals auch des aufgeschlossenen Debattierens mit Menschen, denen man nie zuvor begegnet war, die jedoch von gleichen oder ähnlichen Fragen, mit den sich das Geografenherz herumschlägt, getrieben werden.

Drei junge Kongreßteilnehmer miteinander im Gespräch auf einem belebten Flur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine Momentaufnahme ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Freiwillige Helferinnen und Helfer beim Kaffee-Ausschank - Foto: © 2012 by Schattenblick

... immer Zeit für ein Lächeln
Foto: © 2012 by Schattenblick

Hier fand im konstruktivsten Sinne ein Austausch statt, der in seiner Bedeutung für die Geografie dem bloßen Wissenstransfer durch die Fachvorträge gewiß in nichts nachstand. Ein weiterer Faktor, der maßgeblich zum Gelingen des IGC 2012 beigetragen hat, sollte an dieser frühen Stelle der Berichterstattung nicht unerwähnt bleiben: Die freiwilligen Helferinnen und Helfer. Sie sorgten dafür, daß die Veranstaltung wie am Schnürchen lief. Das ist keine Formalität, sondern eine inhaltliche Frage, denn auch dadurch wurden innerhalb des gesamten Getriebes, die solch eine mehrtägige Veranstaltung mit sich bringt, jene Flächen zur Besinnung und Reflektion freigehalten, daß sich die Besucher um so mehr den inhaltlichen Fragen, um die es ja eigentlich gehen soll, widmen konnten.

Das war zwar nicht die wörtliche Aussage von Prof. Dr. Ronald Abler, Präsident der International Geographical Union (IGU), der als weiterer Experte beim Pressefrühstück für Fragen zur Verfügung stand, aber es deckt sich vollumfänglich mit seiner Einstiegserklärung. Der Kongreß sei absolut entscheidend für die geografische Forschung, bekannte Abler. Schon im Jahr 1871 habe es einen Geografenkongreß gegeben, also mehr als fünfzig Jahre vor Gründung der Internationalen Geografischen Union im Jahr 1922. In der Zwischenzeit seien weitere neun Kongresse abgehalten worden, auf denen sich Geografen aller Welt austauschen konnten. Solche Treffen seien insbesondere für die Humangeographie wichtig, weil sich die Sichtweisen auf menschliche Probleme unterschieden. Von daher sei ein Austausch wie auch der Vergleich von Methoden und Verfahrenstechniken von großer Bedeutung und ein Kongreß wie dieser essentiell wichtig für die Forschung.

IGU-Präsident beantwortet Fragen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Ron Abler - ein sachkundiger Vertreter der Geografie
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die IGU, der Dachverband der nationalen geografischen Vereinigungen, war im Jahr 2000 erstmals von einer Frau geleitet worden. Prof. Anne Buttimer aus Irland hatte das Amt vier Jahre lang inne. Auch sie war zu dem Kölner Kongreß angereist und nahm als Referentin am Pressefrühstück teil. Die einflußreiche Humangeografin brachte hierbei wie auch beim anschließenden Programmpunkt, ihrer Keynote (Schlüsselrede), einen Aspekt der sogenannten Nachhaltigkeit ein, der in der geografischen Forschung wie auch der Wissenschaft allgemein kaum behandelt wird. Da laut Buttimer die Nachhaltigkeitsdebatte zu negativ geprägt ist und ihrer Meinung nach oftmals gesagt wird, es sei schwierig oder unmöglich, die verschiedenen Interessen inbesondere von Ökonomie und Ökologie unter einen Hut zu bringen, habe sie gemeinsam mit der Academy of Europe und anderen Körperschaften gezielt nach sogenannten Erfolgs-Stories gesucht und diese auch gefunden.

Positive Entwicklungen gebe es in allen Ländern der Welt. Der Grund für den jeweiligen Erfolg lasse sich in keinem der Fälle wissenschaftlich erklären, sagte die Referentin und behauptete, daß dabei Elemente eine Rolle spielten, die nicht mit wissenschaftlichen Methoden meßbar sind. Buttimer umriß eher die Gründe für eine erfolgreiche Nachhaltigkeit, denn daß sie eine gestochen scharfe Faktoranalyse vorlegte, und sagte, es sei oftmals eine Frage der Führung, eine Frage der beteiligten Emotionen, eine Frage der Identität, eine Frage der Freiwilligkeit, die den Erfolg ausmachten. All das lasse sich nicht so leicht bemessen, aber das wäre etwas, auf das man sich konzentrieren sollte.

Mit der Aussage, daß sie es als zwingend notwendig erachte, die weltweite Forschung an einer Alternative zur augenblicklich global vorherrschenden, kapitalistisch orientierten, freien Marktwirtschaft zu fördern, zog Buttimer die Grenzen der Geographie quer durch das Feld der Politikwissenschaft. Dort schien sie sich durchaus zu Hause zu fühlen, denn sie erläuterte etwas konkreter, was sie unter "Alternativen" versteht. Die Aufgabe der Angewandten Geographie besteht für sie weniger in der wissenschaftliche Beratung von Regierungen als vielmehr darin, für eine ausreichende Bildung zu sorgen, durch die Gemeinschaften in die Lage versetzt werden, Verantwortung selbst zu übernehmen. Unter Gemeinschaft (community) verstehe sie Gruppen unterschiedlichster Größenordnung, die Menschen aus allen Lebensbereichen einbeziehen, die die Verantwortung für ihr direktes, regionales Umfeld übernehmen. Um das zu erreichen, müßten die bestehenden Gesetze und Regelungen, die fast ein ganzes Jahrhundert Gültigkeit besäßen, durch gründliche internationale und interdisziplinäre Analysen in Frage gestellt werden.

Referentin beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Anne Buttimer - man muß über Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft nachdenken
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als vierter Experte des Pressefrühstücks stand mit Prof. Dr. Klaus Töpfer ein Nicht-Geograph den Medienvertretern Rede und Antwort. Der frühere Umweltminister und Direktor des UN-Umweltprogramms leitet heute das Institute for Advanced Sustainable Studies in Potsdam, das sich mit Klimawandel, Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit befaßt. Töpfer gehörte bis vor kurzem auch der Ethikkommission an, welche im Auftrag der Bundesregierung die Energiewende gestalten sollte, und ist Vizepräsident der Welthungerhilfe. Er sprach über das sogenannte Anthropozän, das auch Thema seiner Keynote am selben Tag werden sollte. Mit diesem seit einigen Jahren vermehrt in die Fachdebatte eingebrachten Begriff ist gemeint, daß der Mensch so sehr Luft, Boden, Wasser und alles, was darauf und darin kreucht und fleucht, beeinflußt, daß sich dies erkennbar als geologische Epoche niederschlagen wird.

Als Beispiel für einen seine Umwelt maßgeblich gestaltenden Einfluß des Menschen wählte Töpfer den Rhein, dessen Verlauf massiv verändert worden sei. Schon im Jahr 1817 habe Johann Gottfried Tulla (1770 - 1828) den Strom um 60 Kilometer gekürzt. Das trug dazu bei, daß der Pegel bei Hochwasser schnell steigt und der Fluß über seiner Ufer tritt. Zu seiner Zeit als Minister in Rheinland-Pfalz sei das Konzept von Poldern - Hochwasser-Ausgleichsflächen - im Gespräch gewesen, allerdings sei es wegen der dichten Besiedlung des Rheinufers insofern nie funktionsfähig verwirklicht worden, weil die Polderflächen anderweitig genutzt wurden. Das könne jedoch geändert werden, meinte Töpfer, der anscheinend eine besondere Beziehung zum größten deutschen Strom hat. Schon 1988 sorgte er mit der Durchquerung des Rheins etwa in Höhe des Stromkilometers 495 für Medienaufmerksamkeit. Der damalige Bundesumweltminister hatte mit dieser sportlichen Aktion nicht demonstrieren wollen, daß ein Schwimmer der durch Flußbegradigungen und Ausbaggerung beschleunigten Strömung widerstehen kann, sondern er wollte damit eine Wette einlösen und demonstrieren, daß die Umweltschutzmaßnahmen der Kohl-Regierung gegriffen haben.

Referent am Tisch sitzend erläutert seinen Standpunkt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Klaus Töpfer - Wir stehen am Beginn des Anthropozäns
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die hier notwendigerweise gekürzt wiedergegebenen Einstiegsbemerkungen der Expertinnen und Experten lassen bereits die Breite des Themenspektrums, mit dem sich die Geografie befaßt und das auf dem Kongreß zur Sprache kommen sollte, ahnen. Die Fragen der Medienvertreter erweiterten die Spanne nochmals. So erkundigte sich eine Vertreterin des Blogs Arbeitswelt der Geografie nach der Bedeutung der Partizipation, die ihrer Recherche nach in nur sehr wenigen unter den vielen Vorträgen angesprochen werde. Dem entgegnete Kraas, daß bereits weit im Vorfeld des Kongresses über Partizipation gesprochen worden sei. Auch habe man zuvor zwei große Workshops mit jeweils achtzig Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Bereich abgehalten und die Ergebnisse in die Vorbereitungen eingebracht. Partizipation sei eigentlich überall fest verankert. Auf Nachfrage, ob es da länderspezifische Unterschiede gibt, erklärte die Kongreßorganisatorin, daß dazu in der Tat sehr verschiedene Ansichten vorherrschten. Kürzlich sei auf einer internationalen Konferenz zur Stadtentwicklung eine Vizebürgermeisterin gefragt worden, wie sie es eigentlich mit der Partizipation halte, worauf sie erwiderte: "Oh, wir haben gerade ein Museum für Stadtentwicklung eingeweiht. Unsere Partizipation steht an erster Stelle."

Das dürften die Bürgerinnen und Bürger jener Stadt anders sehen. Für Klaus Töpfer war die Frage nach der Partizipation offenbar eine Steilvorlage. Er erklärte, in Deutschland herrsche ein Defizit an Bürgerbeteiligung. Interdisziplinäre Aktivitäten genügten nicht, wichtig sei es, transdisziplinär vorzugehen. Die Zivilgesellschaft müsse in die Entwicklung von Wissenschaft integriert werden. Es sei die Aufgabe seines Institutes in Potsdam, herauszufinden, inwieweit sich Menschen an der Entwicklung von Wissenschaft beteiligen lassen.

Der Schattenblick fragte die Runde, inwiefern das Interesse vor allem jüngerer Generationen an gesellschaftlich umstrittenen Umweltthemen wie Klimawandel, CCS (Kohlendioxidabscheidung und -speicherung), Atomkraft, Fracking, etc. Einfluß auf die Geographie genommen und das Engagement der jungen Leute bereits das Gesicht der Geographie verändert habe. Kraas beantwortete diese Frage auf zwei Ebenen, der des Kongresses und der in der Geografie allgemein: Mit dem Young Researchers' Forum wurde am ersten Tag des Kongresses noch vor Beginn der Sessions (Vortragsreihen) Workshops von jungen Wissenschaftlern abgehalten. Außerdem hat das Organisationsteam "eine Art Vorkaufsrecht für die jungen Wissenschaftler", so Kraas, eingeräumt, auch wenn nicht alle Abstracts so gut gewesen seien. Mit Blick allgemein auf die Geografie an der Universität Köln erklärte sie, daß innovative Gedanken der jüngeren Generation in mehreren Verbundprojekten und Programmen aufgegriffen werden; zudem würden Doktorandensymposien abgehalten, um solche innovativen Gedanken aufzugreifen. Insgesamt führe das zu einer stärkeren Institutionalisierung dieser Themen bzw. Fragen in der Wissenschaft.

Nachdem Klaus Töpfer in seinem Redebeitrag zum Anthropozän angedeutet hatte, daß der Einfluß des Menschen auf seine Umgebung bereits so weit fortgeschritten ist, daß Regen gemacht wird und sich die Frage der Verteilung stellt, wollte eine Medienvertreterin von ihm wissen, worauf er seine Aussage stütze, wo doch ein einziger Vulkanausbruch bereits die Welt durcheinander brächte. Woher nähme er die Gewißheit, daß die Menschen die Welt regulieren könnten.

Darauf ruderte Töpfer zunächst etwas zurück, indem er einräumte, daß er keine Gewißheit darüber habe, nur um anschließend mit erneutem Schwung in vertrautes Fahrwasser zu lenken: Der Titel seiner Keynote laute "On the way to the anthropocene", auf dem Weg ins Anthropozän. Er sei also eigentlich viel vorsichtiger mit seiner Einschätzung als etwa die Stratigraphic Commission (ICS - International Commission on Stratigraphy; z. dt.: Internationale Kommission für Stratigraphie), die schon 2008 darauf hingewiesen habe, daß man sich intensiver mit dem Anthropozän befassen sollte. Töpfer erklärte, daß die Chinesen bereits Regen machten - auch wenn das "keine Technik von der Stange" sei -, und daß im Zusammenhang mit Climate Engineering auch an seinem Institut über "forced adaptation" und wie diese "erzwungene Anpassung" an den Klimawandel gestaltet werden sollte, nachgedacht wird.

Synchronübersetzerin hinter Referentin und Referent - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Buttimer und Prof. Abler lauschen der Synchronübersetzerin
Foto: © 2012 by Schattenblick

Hinsichtlich der Debatte über das Anthropozän sagte Frauke Kraas, daß die Diskussion durch Schwierigkeiten in der Wissenschaftssprache geprägt werde und die Polarität zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ein Problem darstelle. Es bestünde zuviel Konkurrenz unter den wissenschaftlichen Disziplinen, um in Hinblick auf Problemlösungen oder das Anthropozän wirklich interdisziplinär oder transdisziplinäre Arbeit zu leisten.

Eine letzte Frage kam von einer Vertreterin der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). Sie wollte wissen, wie sich Geographen gegenüber Politikern mehr Gehör verschaffen wollen und ob die Ergebnisse des Kongresses den Politikern zu Ohren kommen. IGU-Präsident Ronald Abler erwiderte darauf, daß es keinen spezifischen Plan der Weiterverarbeitung gibt. Die Nationen seien sehr verschieden, jede Regierung bedürfe eine andere Form der Wissensübermittlung. Generell empfahl er, daß Wissenschaftler lernen, ihre Kenntnisse in einer Weise vorzutragen, daß dies bei den Politikern ankommt. Beispielsweise sollten Wissenschaftler nicht wie gewöhnlich mit der totalen Finsternis anfangen, die sie separieren, um dann allmählich Licht in die Dunkelheit zu bringen, sondern sie müßten das Pferd von hinten aufzäumen und den Politikern ihre Schlußfolgerungen schon im ersten Satz liefern. Buttimer ergänzte, daß das Regierungsinteresse oftmals nur von einer Wahl zur nächsten reiche, aber die Geografie dürfe nicht aufhören, sich um die Vermittlung ihrer Erkenntnisse zu bemühen.

Für den Schattenblick stellt sich hingegen weniger die Frage, wie sich die Geographen mehr Gehör bei den Politikern verschaffen können, sondern was dabei vermittelt werden soll. Was hat die Geografie den Politikern zu sagen? Ginge es lediglich um ein Mehr an gesellschaftlichem Einfluß, nicht aber um Inhalte, würde die Geografie möglicherweise nicht mit den die gesamte Menschheit betreffenden Fragen, sondern mit Fragen der Vorherrschaft des eigenen Staates oder der eigenen Kultur ringen. Denn es sollte nicht vergessen werden, daß die großen Forschungsreisenden von einst, deren Namen heute Straßen, Plätze und Institute zieren, Wegbereiter für spätere Eroberungen jener "weißen Flecken" auf der Landkarte waren, die sie zuvor neugierigen Blicks erkundet hatten. Die Nachricht von "Primitiven" (subtextual: waffentechnisch unterlegenen, also unterwerfbaren Menschen), von Tierherden bis zum Horizont, von unbewohnten Inseln oder Goldschätzen waren in den westlichen Metropolen auf (wiß-)begierige Ohren gestoßen.

Ebenfalls nicht vergessen werden sollte, daß die Geographie auch in der Betrachtung des Raums als Lebensraum, beispielsweise durch den Begründer der Anthropogeographie Friedrich Ratzel (1844 - 1904), wurzelt und in der Interpretation durch Karl Ernst Haushofer (1869 - 1946) unter anderem den ideologischen Nährboden für den Imperialismus des Deutschen Reichs lieferte. Wie jede andere Wissenschaft war und ist also auch die Geografie in jeder Generation nicht wertfrei, sondern Ausdruck einer bestimmten Sichtweise und folglich Vehikel für politische Entscheidungsträger und gesellschaftliche Funktionseliten, der interessengestützten Sichtweise Taten folgen zu lassen.

Alle vier zum Pressefrühstück eingeladenen Experten äußerten jeweils auf ihre Weise den Wunsch nach mehr Einfluß auf die Politik. Aber meinten die vier das gleiche? Inwiefern teilt beispielsweise ein Klaus Töpfer die Forderung Anne Buttimers, über Alternativen zur kapitalistisch orientierten Marktwirtschaft nachzudenken? Und würde eine Frauke Kraas mit Ronald Abler übereinstimmen, daß mit der "IGU Planet and Humanity medal", die dieses Jahr an Lester R. Brown vom Earth Policy Institute in Washington geht, Menschen geehrt werden, die zwar keine Geografen sind, aber "die, soweit es die Umwelt betrifft, Gottes Werk tun"?

Den Kopf und den Spickzettel voller Fragen begab sich die Schattenblick-Redaktion in die nächsten vier Tage auf eine Forschungsreise der eigenen Art durch den Internationalen Geografischen Kongreß 2012 in Köln.

Graffiti auf Betonwand 'Bildung darf kein Privileg sein!' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Keine abgehobene Wissenschaftssprache ... na bitte, geht doch!
Foto: © 2012 by Schattenblick

11. September 2012