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BERICHT/022: Bagger fressen Erde auf - Erkundungen in RWE-Land (SB)


Über Jahrtausende gewachsen, in Jahrzehnten verheizt

Das Rheinische Braunkohlerevier am 29. Juni 2012

Pumpe an Abbruchkante - Foto: © 2012 by Schattenblick

Am Rande einer Mondlandschaft
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schließt man die Augen, entfaltet sich ein phantastisches Szenario. Bis 2100 soll unweit des Rhein-Kreises Neuss eine beeindruckende Seenlandschaft von insgesamt 73 Quadratkilometern Größe entstehen - fast so groß wie der Chiemsee, der als drittgrößtes Gewässer in Deutschland knappe 80 Quadratkilometer Fläche zu bieten hat. Sind die drei gigantischen Löcher der Braunkohletagebaue Inden, Hambach und Garzweiler erst einmal mit Wasser gefüllt und zu "Restseen" geworden, hat der Bergbautreibende RWE etwas Imposantes geschaffen. Allein der See des Tagebaus Inden wäre mit seinen riesigen Ausmaßen von 1.100 Hektar und einem 14 Kilometer langen Uferstreifen dem Tegernsee ebenbürtig. Der Restsee des Tagebaus Hambach würde angesichts seiner enormen Tiefe von bis zu 450 Metern von der Wassermenge her in Deutschland nur vom Bodensee übertroffen.

Auf diese Weise entstünde ein weithin einzigartiges Naherholungsgebiet im bevölkerungsreichsten Bundesland, ein wahres Paradies für Sportler und Ausflügler, Pflanzen und Tiere. Zu Spaziergängern und Radfahrern gesellten sich Schwimmer, Taucher, Surfer und Angler, während Naturliebhaber angesichts der unmittelbar benachbarten Biotope für Wasservögel auf ihre Kosten kämen. Bereits bestehende kleinere Restseen und andere rekultivierte Tagebauflächen bildeten längst neue Lebensräume für mehr als 2.200 Tier- und Pflanzenarten, die sich dort angesiedelt hätten, einige wie Eisvogel, Hirschkäfer oder Haselmaus gehörten zu den gefährdeten Arten. Damit nicht genug, könnte aus diesem Vorhaben neben einem höchst attraktiven Freizeitgebiet auch in anderer Hinsicht ein vielfältiges Potential für die Region erwachsen, wären die Seen doch auch Anziehungspunkte für Industrie, Gewerbe und Dienstleister, wodurch die wirtschaftliche Entwicklung der Region gestärkt würde. [1]

RWE-Werbetafel 'Lebendige Landschaft erleben' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Verheißungsvoll in die Irre geführt ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dieses faszinierende Bild entwerfen lokale Medien, wenn sie in einer kruden Mixtur aus Neusprech und Lokalkolorit begeistert von "drei XXL-Seen" oder dem "Indeschen Ozean" fabulieren. Munitioniert von der PR-Maschinerie des Energieriesen kolportieren sie eilfertig und nahezu vorbehaltlos dessen Greenwashing, bei dem technischer Fortschritt, menschliche Regeneration und Artenvielfalt so nahtlos miteinander verschmelzen, als habe RWE den Naturschutz neu erfunden. Und weil Herkulesarbeit natürlich ihre Zeit braucht, nimmt man leichterdings in Kauf, daß kaum einer der heute Lebenden das gelobte Land der verheißenen Seenplatte je zu Gesicht bekäme. Die Flutung der Restseen begänne erst nach Ende des Tagebaus kurz vor der Jahrhundertwende und dauerte je nach Schätzung zwischen 40 und 60 Jahre.

Übersicht über ganze Ausdehnung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hambacher Loch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Bagger im Kohleflöz - Foto: © 2012 by Susanne Fasbender

Kohleabbau an der Sohle der Grube
Foto: © 2012 by Susanne Fasbender

Warum werden die gewaltigen Löcher nicht wieder mit Abraum verfüllt, wie es eigentlich gesetzlich vorgeschrieben ist? Dagegen spricht nicht nur der Umstand, daß das entnommene Raumvolumen der abgebauten Braunkohle kompensiert werden müßte, sondern schlichtweg das Kostenkalkül der RWE. Wie es heißt, spart der Konzern ca. 250 Millionen Euro, wenn er das auf Außenkippen abgelagerte Deckgebirge läßt, wo es ist, und die künftige Flutung der Gruben in Aussicht stellt. Da die Restseen keinen natürlichen Zu- und Abfluß besitzen, ist nach derzeitigem Kenntnisstand völlig ungewiß, ob es überhaupt gelänge, die dafür erforderlichen ungeheuren Wassermengen heranzuführen. Geplant ist in der Theorie, aufbereitetes Wasser aus Flüssen wie Rhein oder Rur über Stollen oder Pipelines zuzuleiten, wobei die Fremdwasserzufuhr auch nach Erreichen des gewünschten Seewasserspiegels noch mehrere Jahrhunderte lang fortgesetzt werden müßte, um den Abstrom auszugleichen. Was bei kleinen Gruben scheinbar erfolgreich gelungen ist, mutet angesichts des Mammutprojekts der Riesenseen mit seinen ungelösten technischen Problemen und gravierenden ökologischen Folgen wie skrupelloser Größenwahn an, den Energiepolitik und -wirtschaft einer ohnehin schon zerstörten Umwelt und geschädigten Bevölkerung zusätzlich aufbürden.

Ob diese Restseen jemals die ökologischen Funktionen eines naturnahen stehenden Gewässers voll erfüllen könnten, ist ungeklärt. Bedingt durch den Schadstoffaustrag der Kippe glichen die tieferen Schichten der Seen einem Säurebad, dessen Schadstoffe ungehindert in die Grundwasserleiter einsickern könnten. Da die ursprüngliche Schichtung im Boden durch die Gruben des Tagebaus und das Abpumpen des Grundwassers ohnehin unwiederbringlich zerstört wird, drohen im Rheinischen Braunkohlerevier unabsehbare und irreversible Folgen für die Trinkwasserversorgung, das ökologische Gefüge und das Regionalklima, vom CO2-Ausstoß der Braunkohleverstromung und dessen globalen Klimafolgen einmal ganz abgesehen.

Die naheliegende Frage, wie es möglich ist, trotz dieser und anderer Zerstörungen Tagebaue wie in Inden, Hambach und Garzweiler überhaupt zu genehmigen, beantwortet zumindest in juristischer Hinsicht ein Blick ins deutsche Bergrecht, nach dem das Bergwerkseigentum beim Staat, und nicht beim Grundeigentümer liegt. So heißt es in einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21.12.2007: "Die Zulassung des Rahmenbetriebsplans für den Braunkohlentagebau Garzweiler I/II, der mit der Umsiedlung zahlreicher Menschen verbunden ist, greift grundsätzlich nicht in den Schutzbereich des Artikels 11 Grundgesetz (GG) (Recht der Freizügigkeit) oder des Artikels 2 Absatz 2 GG (Freiheit der Person) ein; die Umsiedlung ist im Sinne von § 48 Absatz 2 Satz 1 Bundesberggesetz mit öffentlichen Interessen vereinbar." [2]

Großer Bagger beseitigt obere Erdschichten - Foto: © 2012 by Susanne Fasbender

Erde muß dem Griff nach der Kohle weichen
Foto: © 2012 by Susanne Fasbender

Das kann einem schon die Augen öffnen, und was sie sehen, wenn sich die Phantasmagorie der Seenlandschaft in Feinstaub auflöst, ist die monströse Hambacher Grube, die angesichts ihrer unabsehbaren Ausdehnung und ungeheuren Tiefe als eines der größten menschengemachten Löcher des Planeten bezeichnet wird. Schwindelerregend zieht einen der Abgrund an, während die Widerwärtigkeit des landschaftsverschlingenden Eingriffs zugleich abstößt. Als sei eine aggressive außerirdische Roboterzivilisation herabgestoßen, um die Erde aufzureißen und sich ihrer zu bemächtigen, hat das Zerstörungswerk eine tiefe Kerbe geschlagen, deren volle Ausmaße von keinem Standort aus abzusehen sind.

Spielzeugklein wirken die riesigen Bagger und Förderanlagen aus der Entfernung, bis in der menschenleeren Öde der Grube ein winzig anmutender Minivan der RWE auf Kontrollfahrt die tatsächlichen Größenverhältnisse ahnen läßt. In weiter Ferne unterstreichen die niemals endenden Dampfwolken über der kaum auszumachenden Silhouette eines Kohlekraftwerks, wie eng Abbau und Verstromung hier miteinander verzahnt sind. Rechts türmt sich in verschiedenfarbigen Hügeln der Abraum an der abgegrabenen Flanke eines Berges auf, dessen Gipfel die höchsten Gebäude und Türme von Menschenhand fast ausnahmslos überragte, stünden sie auf der Sohle der Grube. Ein Stück des Grubenrands entlang reiht sich Rohr an Rohr einer Anlage, die wie eine Schwadron überdimensionierter Sprinkleranlagen unablässig das Umfeld besprüht und damit den heranwehenden Staub binden soll. Überblickt man von höherer Warte aus diese Installation, mutet sie angesichts der überwältigenden Weite der Loches so hilflos wie ein Rasensprenger am Rande einer Wüste an.

Ferner Bagger hinter Sprinkleranlage - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tropfen auf den heißen Stein
Foto: © 2012 by Schattenblick

Kann man sich an den körperlich spürbaren Eindruck gewöhnen, daß an diesem Ort etwas Unerhörtes geschieht, das nie geschehen dürfte? Offensichtlich, denn wenn man Anwohnern aus der Gegend lauscht, die am Aussichtspunkt, beflügelt von einer erheblichen Prise Lokalpatriotismus, neugierige Fragen beantworten oder aufschlußreiche Details zum besten geben, ist es bei aller Ambivalenz doch gleichsam ihre Grube, in deren Geheimnisse sie Gäste bereitwillig einführen. So erfährt man beispielsweise, daß RWE an Tagen der offenen Tür Busfahrten in die Grube macht, wo man dann die gigantischen Maschinen ehrfürchtig anfassen darf. Oder daß die riesigen Bagger manchmal auf ihren eigenen Ketten im Zeitlupentempo fahrend über größere Strecken verlegt werden, was dann jedesmal zu einem kleinen Volksfest mit Buden und Bier Anlaß gibt.

Daß die Menschen nicht protestieren, sondern sich identifizieren, sofern sie nicht gerade selber zwangsumgesiedelt werden oder an der Abbruchkante leben, geschieht nicht von selbst. Wieviel RWE diesbezüglich investiert, zeigt sich hart an der Grube in aller Deutlichkeit. Der Konzern versteckt den Tagebau keineswegs vor neugierigen Blicken, er lockt ganz im Gegenteil sogar Besucher an. Unter dem Namen "Terra Nova", weisen Straßenschilder weithin den Weg zu der Fiktion, es werde ein Revier neuer Erde geschaffen. Verschleiert schon der trügerische Begriff "Rekultivierung" die Vernichtung uralter ökologischer Kulturen und sozialer Zusammenhänge mit dem Zerrbild einer notdürftigen Kippenbegrünung, so setzt RWE der in ihrer trügerischen Eigenschaft gar nicht erst den Versuch der Täuschung antretenden Errichtung Potemkinscher Dörfer hier die schönfärberische Krone auf.

Restaurant und Bar 'Terra Nova' - Foto: © 2012 by Schattenblick Restaurant und Bar 'Terra Nova' - Foto: © 2012 by Schattenblick Restaurant und Bar 'Terra Nova' - Foto: © 2012 by Schattenblick

In der schönen neuen Welt des Energiekolonialismus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als habe man ein Kapitel des Romans "Schöne neue Welt" zur Vorlage genommen, beglückt der Konzern Besucher aus nah und fern mit seinen trivialen Geschenken. Jede Straße ist als Privatweg ausgewiesen, Warn- und Verbotsschilder tragen die Insignien der RWE. In einem Restaurant am Ende der Welt hart an der Grubenkante, als Betonwürfel häßlich hingeklotzt, doch in den typischen erdfarbenen Tönen zwischen grau, braun und ocker, wie sie RWE Power zur Wiedererkennung verwendet, können die Gäste je nach Wetterlage drinnen oder draußen einen Imbiß zu sich nehmen und ihren Blick über die Grube schweifen lassen. Da nichts als Ödnis zu sehen ist, wirbt man vorerst mit einem Wüstenblick, woraus in einer ungewissen Zukunft ein Seeblick werden soll. Katastrophentourismus zur Großindustrie, Schnellimbißatmosphäre im Erlebnispaket, bedient "Terra Nova" die auf bescheidensten Konsum reduzierte Befriedigung mit Gratisgaben aus der Portokasse des Konzerns. Gleich nebenan ein von diesem gestifteter Fußballtennisplatz, auf dem erstaunlich viele Besucher jeden Alters, die meisten sogar im Trikot, den Ball über einen Parcours befördern dürfen. So liegt des anfänglichen Rätsels Lösung, wo all die Leute sein mögen, deren Autos man an diesem trüben bis regnerischen Freitagnachmittag auf dem Parkplatz stehen sieht, bald auf der Hand: Fußball, Bratwurst, Bier und Brause, fertig ist die schöne neue Erde, gespendet von RWE.

Folgt man dem Wegweiser der riesigen Dampfwolken zu einem der fünf Braunkohlekraftwerke im Revier, gelangt man nach Niederaußem. Wo das leistungsstärkste Kraftwerk seine Abgase in die Luft bläst, den Boden mit seinen Dampfwolken verschattet und die Anwohner mit Schadstoffen berieselt, ragen die mächtigen Blöcke, Kühltürme und Schornsteine unmittelbar am Ortsrand auf. Da die beiderseits ladengesäumte Durchgangsstraße bergab und direkt auf das Werksgelände zuführt, könnte der erste Eindruck befremdlicher kaum sein. Nicht die geringste Distanz gaukelt hier einen Sicherheitsabstand von der großindustriellen Zitadelle vor, die wie eine Trutzburg über der Ortschaft aufragt, die sich buchstäblich in ihren Schatten duckt. Verläßt man Niederaußem in nordöstlicher Richtung, entfaltet sich das Panorama einer Landschaft, deren Wolkenbildung weithin in ihrer tieferen Schicht aus vom Wind fortgetragenen Dampfschwaden besteht.

Mehrere Blöcke des Kraftwerks - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kohlekraftwerk Niederaußem vom Ort aus ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Rauchende Kühltürme - Foto: © 2012 by Schattenblick

... und von der Bundesstraße 477 aus
Foto: © 2012 by Schattenblick

In diesem Landstrich begegnet einem RWE auf Schritt und Tritt. Keine andere Gegend in Deutschland - von Vattenfalls Pendant in der Lausitz einmal abgesehen - dürfte Dorf für Dorf und Städtchen für Städtchen mit mehr aufgehübschten Straßenrändern, unzähligen natursteingesäumten Kreisverkehren, auf alt getrimmten modernen Passagen und diversen anderen tunlichst gut sichtbaren Gaben des Konzerns aufwarten. Feuerwehr, Kreishaus, Vereinsleben, ein Schwimmbad sogar können sich die Kommunen in Zeiten klammer Kassen kaum leisten, wenn ihnen nicht der starke Partner unter die Arme greift. Der reinvestiert so viel in die Region, aus deren Substanz er seine Profite nährt, daß er sie buchstäblich gekauft und in der Tasche hat. Ein System hochmodern aufgerüsteter Patronage verwandelt das Rheinische Braunkohlerevier in RWE-Land und bindet die ansässige Bevölkerung, die am unmittelbarsten unter Landraub, Vertreibung und Gesundheitsschäden zu leiden hat, eng an die Konzerninteressen. So bleibt im Schulterschluß von Politik und Ökonomie die weltumspannende Brisanz der Braunkohleverstromung befriedet unter dem Deckel vermeintlich nur regionaler Relevanz, die als Marginalie verkannt in einer breiteren Umweltdebatte bislang sträflich unterrepräsentiert ist.

Schild in freier Landschaft bei Niederaußem - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dokument des Landschaftsumbaus
Foto: © 2012 by Schattenblick

So geleckt und penibel das niederrheinische RWE-Biedermeier die Landschaft als Lehen des fossilen Kapitalismus ausweist, so sehr muß man in der Allgegenwart des Energiekonzerns nach den Orten suchen, an denen Zeichen des Widerstands gegen diese zum Kartell hypertrophierte Verfügungsgewalt gesetzt werden. Diverse, zum Teil bereits seit Jahrzehnten aktive Bürgerinitiativen fristeten bislang ein eher isoliertes Dasein, mangelte es doch an Initiativen zur übergeordneten Organisation. Mit der Formation einer internationalen Klimaschutzbewegung, in der meist junge Aktivistinnen und Aktivisten neue Formen der Mobilisierung und des Protestes erproben, bildeten sich auch im Rheinischen Braunkohlerevier neue Organisationsstrukturen heraus. So haben sich mit dem Netzwerk ausgeCO2hlt [3] und ihren Vorläuferinitiativen Strukturen gemeinsamen Handelns entwickelt, in deren Rahmen bereits erfolgreiche Aktionen wie die Proteste gegen die Jahreshauptversammlung von RWE am 19. April unter Beteiligung diverser Antikohlegruppen erfolgten. Was im Frühjahr unter dem Titel "RWE unplugged - Dem Energieriesen den Stecker ziehen" für Aufsehen sorgte, soll nun ein gerichtliches Nachspiel haben. Die Proteste zeigen Wirkung, wie Versuche belegen, ihre Ausweitung zu massenhaftem Widerstand mit Strafandrohungen und Einschüchterungsversuchen staatlicherseits entgegenzutreten.

Schild WAA - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

Zu den sich neu formierenden Keimen des Widerstands gegen Tagebau und Verstromung von Braunkohle gehört die Werkstatt für Aktionen und Alternativen (WAA) in Düren. Das Haus mit großem Garten wirkt nicht nur aufgrund der Arbeiten am Gebäude wie eine Baustelle, seine Bewohnerinnen und Bewohner befinden sich auch hinsichtlicher ihrer Zielsetzungen in einem Prozeß der Erkundung und Veränderung. Konzipiert als eine Art permanentes Camp soll dort die Praxis des Aktivismus mit der des Lebens in eins fallen. Sich nicht von oben aufoktroyierten Lösungen abhängig zu machen, sondern selbst in Aktion zu treten und für "ein ganz anderes Klima" zu streiten gilt nicht nur für den Widerstand gegen CO2-Schleudern, sondern auch für die Frage danach, wie der Mensch überhaupt in einer Welt begrenzter Ressourcen und einem Verwertungssystem, das den Mangel an Nahrung und Energie gegen die davon am meisten Betroffenen organisiert, weniger "über"-leben denn wirklich leben kann.

So widmen sich die Aktivistinnen und Aktivisten der WAA Fragen des Antifaschismus, Antirassismus und Antisexismus, ohne deren Entwicklung herrschaftsfreies Leben nicht möglich ist. Sie versuchen ausdrücklich, den Horizont des Antikohlewiderstands auf lebenspraktische wie soziale Fragen zu erweitern, wohl wissend, daß jeder Zukunftsentwurf nur so viel taugt wie die Menschen, die ihn verwirklichen, ohne sich dabei von den Belohnungs- und Bestrafungsregulativen der herrschenden Gesellschaftsordnung beeindrucken zu lassen. Selbstorganisation als Grundprinzip gemeinsamen Handelns emanzipiert davon, auf Antworten und Lösungen dafür angeblich zuständiger Instanzen zu warten.

WAA in Düren - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hausprojekt im Aufbau
Foto: © 2012 by Schattenblick

Bezeichnenderweise ist die darin aufscheinende Freiheit gerade nicht die Freiheit, die neoliberale Sozialingenieure meinen, wenn sie den "aktivierenden Sozialstaat" propagieren und "Eigenverantwortung" beschwören. Wo diese das Individuum als Marktsubjekt feiern und auf die Zwangsformen fremdbestimmter Verwertung zurichten, läuft die Verweigerung bürgerlicher Atomisierung und absatztreibenden Konsums, der Verschleuderung natürlicher Ressourcen und der Ausbeutung der Tiere auf den praktischen Bruch mit den Agenturen einer Sozialkontrolle hinaus, für die Menschen ausschließlich in den Kategorien der Kosten-Nutzen-Rechnungen, der Leistungsbereitschaft und Arbeitseffizienz Existenzrecht besitzen. Im Kleinen zu beginnen heißt nicht wirkungslos zu bleiben, sondern die Parameter einer ökonomischen und politischen Kultur der Evaluation zu bestreiten, die nichts anderes messen können als Verbrauch und Zerstörung.

Transparent 'Wald statt Kohle' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Weithin sichtbares Zeichen der Waldbesetzung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Es hat schon wegen kleinerer Anlässe der Naturzerstörung heftige Auseinandersetzungen gegeben. Wo in Städten bereits der Kampf um den Erhalt kleinerer Baumbestände - so etwa im etwa Stuttgarter Schloßpark beim Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt S21 - für landesweite Aufmerksamkeit sorgen kann, verschwinden in ländlichen Regionen bisweilen ganze Wälder, ohne daß davon besondere Notiz genommen würde. Der Hambacher Forst war eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Nordrhein-Westfalens und wurde zugunsten der Interessen der RWE Power AG und des Vorläufers Rheinbraun AG bereits erheblich dezimiert. Während sich das Hambacher Loch zum größten Tagebau Europas ausweitete, schrumpfte der mit außergewöhnlichem Baumbestand aus zum Teil mehrhundertjährigen Eichen, Buchen und Linden bewachsene Forst auf ein immer noch sehr großes Reststück, daß jedoch den Plänen des Energiekonzerns gemäß vollends gerodet werden soll.

Gerodetes Stück Forst - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gerodet für die nachfolgenden Bagger
Foto: © 2012 by Schattenblick

Um die verbliebenen gut 600.000 Bäume wie die in diesem Wald heimische Tier- und Pflanzenwelt zu retten und gleichzeitig gegen die Expansion einer massiv klimaschädlichen Technologie zur Energieerzeugung zu protestieren, wurde der Forst am 14. April 2012 von einigen Aktivistinnen und Aktivisten des Antikohlewiderstands besetzt. Die von ihnen auf ihrer Webseite dazu veröffentlichte Erklärung gibt zu verstehen, daß es den Besetzerinnen und Besetzern nicht nur um eine Aktion des Klima- und Naturschutzes geht, sondern um eine grundlegende Form basisdemokratischer Intervention in ein System tradierter Herrschaftsstrukturen, deren Ausbeutungs- und Unterdrückungspraktiken so oder so zu überwinden sind. Der Wald als herrschaftsfreier Ort für all diejenigen, die ihn betreten, als "Keimzelle einer neuen Welt im Herzen des fossil-nuklearen Kapitalismus" - wer keine unbescheidenen Ziele formuliert, verbleibt im Reservat des gerade noch Zugestandenen, mithin für herrschende Interessen Harmlosen.

Hütte mit gespendeten Bedarfsartikeln - Foto: © 2012 by Schattenblick

Umsonst-Laden für gelebten Antikapitalismus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Besuchern des mittlerweile gut ausgebauten Camps begegnen die Aktivistinnen und Aktivisten so freundlich und bestimmt, wie ihnen entgegengetreten wird. Zweifellos ist die Situation, sich mit neugierigen Gästen konfrontiert zu sehen, nicht immer angenehm, aber die Bewohnerinnen und Bewohner meistern diese Begegnungen mit Geduld und Bravour, bedarf das gemeinsame Anliegen doch auch einer gewissen Öffentlichkeitsarbeit. Wenn auch nicht akut, so doch potentiell von einer Räumung bedroht lassen sich keine langfristigen Pläne schmieden. Doch auch Nomaden richten sich, und sei es nur für eine Nacht, so gemütlich und häuslich ein, als bleibe man eine Ewigkeit. Dies ist keiner versponnenen Romantik nichtseßhafter Lebensformen, sondern der naheliegenden Einsicht geschuldet, daß es immer bessere Gelegenheiten gibt, auf die zu warten man sein ganzes Leben verschwenden kann.

Abgestellte Fahrräder lehnen an einem Baum mit Wegweiser zur Waldbesetzung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wegweiser nicht nur für Radfahrer
Foto: © 2012 by Schattenblick

So befriedigen die Besetzerinnen und Besetzer ihre Grundbedürfnisse nach bestem Vermögen auf eine den Wald wie sich selbst schonende Weise, um praktische Erfahrungen für eine klimagerechte Zukunft zu sammeln, die nur vor dem Hintergrund arrivierter Lebensstile in hochproduktiven Metropolengesellschaften primitiv und archaisch erscheinen mögen. Allein das Essen auf einem Feuer aus wenigen Holzscheiten zu kochen stellt Menschen etwa in den verödeten Wüstenregionen der Sahelzone schon vor erhebliche Probleme, ist der Brennstoff dort doch so knapp, wie er in einem Forst wie diesem in Überfülle vorhanden zu sein scheint.

Feuerstelle mit Kochgerät - Foto: © 2012 by Schattenblick

Leibliches Wohl ohne Tierausbeutung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Da dieser Wald zum Abriß vorgesehen ist, wäre es allerdings besonders bösartigem Zynismus geschuldet, seinen neuen Bewohnerinnen und Bewohnern die Verwendung dort liegenden Holzes zur Feuerung vorzuhalten. Tatsächlich stammt das Bauholz für Hütten und Baumhäuser aus Spenden der umliegenden Bevölkerung, unter der durchaus Sympathie für den praktischen Antikohlewiderstand herrscht. Wasser heranzuschaffen kostet einige Mühe, und auch wenn mit dem Containern eine kostenlose Nahrungsquelle zur Verfügung steht, so muß diese immer wieder neu erschlossen werden. Doch die Mühe ist nicht vergebens, wie allein der kurze Gang an die Abrißkante des Hambacher Lochs zeigt.

Dort kann der Vormarsch der tief in die Erde fräsenden Schaufelräder auch ohne direkte Anwesenheit eines der gigantischen Baggerungetüme in seiner ganzen zerstörerischen Gewalt bezeugt werden. Anders als bei einer Waldrodung, mit der landwirtschaftliche Flächen freigesetzt werden, wird hier das Innere der Erde nach außen gekehrt. Die im Zyklus von Abbauentsorgung und Kohleförderung zerstörten Formationen über Jahrmillionen sedimentierter Erdschichten und dadurch gebildeter Aquifere sind, anders als es der Euphemismus "Rekultivierung" verheißt, nicht wiederherzustellen. Wo der organische Aufbau verschiedenster Gesteinsschichten bis zum fruchbaren Humus der Erdoberfläche natürliche Regulative des Stoffwechsels von Luft, Wasser, Pflanzen, Biorganismen und Erde in ungeheurer Formenvielfalt hat entstehen lassen, verbleiben biotechnologische Artefakte einer kompensatorischen Form des Geoengineering, die in ihrer reißbrettartigen Eintönigkeit eher an die Besiedlung fremder Planeten als die Erschaffung natürlicher Habitate denken läßt.

Baumhaus gut versteckt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hochfliegende Träume werden wahr
Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Anliegen der WAA wie der Waldbesetzung im Hambacher Forst, in einer offenen Struktur selbstbestimmt zu lernen und zu leben, um auf andere Felder des Aktivismus übergreifende Wirkung gegen die Destruktivität herrschender Verhältnisse zu entfachen, steht in einer reichen Tradition historischer Versuche, die Utopie zu leben. Was bei dem Versuch, menschenwürdige Ideale in Labors kollektiver Lebenspraxis zu verwirklichen, immer wieder scheiterte, soll auch heute durch die Widrigkeiten kapitalistischer Vergesellschaftung verhindert werden. Die Vereinnahmung möglicher Alternativen und antagonistischer Strömungen für den Primat der Verwertung um jeden Preis ist eine Stärke dieses Systems, die es nicht zu unterschätzen gilt. Dennoch eine Zukunft zu schmieden, die nicht jenseits des damit üblicherweise bezeichneten Zeithorizonts liegt, sondern sich durch das Gelingen vermeintlich unmöglicher Sozial- und Lebenspraktiken als solche qualifiziert, ist zweifellos die Mühe wert. Schließlich geht es um nichts geringeres, als den verheißungsvollen Konzepten des Grünen Kapitalismus den Rang einer Widerspruchsfreiheit abzulaufen, die nicht aus wachsweichen Kompromissen resultiert, sondern in der Einseitigkeit der Parteinahme für all die Wesen, denen in dieser Ordnung weder Existenz noch Stimme zugebilligt wird, wirksam wird.



Fußnoten:
[1] http://www.ngz-online.de/rhein-kreis/nachrichten/seenlandschaft-wird-die-region-praegen-1.2823260

[2] http://g-o.de/dossier-detail-450-8.html

[3] http://www.ausgeco2hlt.de/

[4] http://waa.blogsport.de/

[5] http://hambacherforst.blogsport.de/infos-zum-wald/

Soliaktion Das gelbe Band - Foto: © 2012 by Schattenblick Bäume mit gelbem Band - Foto: © 2012 by Schattenblick

Solidarität ...
... tut auch dem Wald gut
Foto: © 2012 by Schattenblick

24. Juli 2012