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BERICHT/013: IPPNW hinterfragt Tsunami-Legende - Erdbeben löste Fukushima-GAU aus (SB)


IPPNW und der Fukushima-GAU - eine kritische Analyse

Aus Anlaß der IPPNW-Pressekonferenz "Fukushima - was wirklich geschah" am 6. März in Berlin

Angelika Wilmen, Dr. Angelika Claußen und Henrik Paulitz sitzend hinter langem Tisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das IPPNW-Team
Foto: © 2012 by Schattenblick

Vor gut einem Jahr kam es in drei Reaktoren des japanischen Atomkraftwerks Fukushima Daiichi zu einer Kernschmelze. Ausgelöst durch ein schweres Erdbeben, verstärkt durch den anschließenden Tsunami, gelangten bei diesem "größten anzunehmenden Unfall" (GAU) gewaltige Mengen von radioaktiven Substanzen in die Umwelt. Hatten die Atomenergie-Lobbyisten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mit Beginn der Nutzbarmachung der Spaltung des Atomkerns noch behauptet, daß ein GAU nur einmal in 100.000 Jahren eintreten werde, die Technologie mithin kontrollierbar sei, so war die mehrfache Kernschmelze in Japan bereits das zweite Ereignis dieser Art innerhalb von nur 25 Jahren nach der Explosion des Akw Tschernobyl in der Ukraine am 26. April 1986.

Je nach Windrichtung zogen vom Akw Fukushima Daiichi aus Strahlenwolken über Land und Meer und machten auch vor nationalen Grenzen nicht Halt. In den Stunden und Tagen nach dem ersten Erdstoß am 11. März 2011 um 14.46 Uhr Ortszeit sollten sich in mehreren Reaktoren Explosionen ereignen, wodurch zusätzlich größere Mengen an radioaktiven Partikeln freigesetzt wurden.

Die Einwohner Japans wußten vor Verzweiflung weder ein noch aus. Selbst das schwerste Erdbeben in der Geschichte des Landes und die Folgen der Verwüstung durch einen Tsunami auf 600 Kilometer Küstenlänge waren etwas, das trotz seiner erdrückenden Monstrosität für sie noch irgendwie begreiflich war - die Strahlung hingegen nicht. Radioaktivität schmeckt, sieht, riecht und fühlt man nicht. Doch sie wirkt zellzersetzend und zerstört physiologische Abläufe.

Den Einwohnern Japans dürften wohl immer die gleichen, drängenden Fragen durch den Kopf gegangen sein und bis in ihre Albträume verfolgt haben: Wurde durch den Kraftwerksunfall Radioaktivität freigesetzt? Trägt der Wind Strahlenpartikel herüber? Müßte man nicht fliehen, notfalls außer Landes? Hätten die Kinder nicht zu ihrer Sicherheit längst Jod-Tabletten einnehmen müssen? Ist der Regen, der soeben herunterfällt, radioaktiv kontaminiert oder kann man schnell noch einmal einkaufen gehen? Was ist mit dem Trinkwasser, dem Obst und Gemüse - können sie unbedenklich verzehrt werden oder wird man sich damit vergiften? Können wir weiter zur Arbeit fahren, was erwartet uns unterwegs? Dürfen wir den Schutt anfassen und wegräumen?

Ein feindlicher Angriff könnte kaum heimtückischer ausgeführt werden als mittels Radioaktivität: Menschen haben schlicht keine Sinne für Strahlung, sie sind ihr weitgehend schutzlos ausgeliefert. Erst wenn es viel zu spät ist und beispielsweise die Leber versagt oder Krebs entsteht, kann im nachhinein vermutet, aber nicht einmal beweiskräftig gesagt werden, daß die Krankheit von einer Strahlenbelastung in der Vergangenheit ausgelöst wurde.

Was also blieb den besorgten Menschen, die wissen wollten, welche Konsequenzen sie aufgrund der Lage im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi ziehen müssen? Die wichtigste Quelle für Informationen, wie es vor Ort aussah und wie darauf zu reagieren sei, bildete eigentlich die Regierung. Doch der schien mehr an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als an der Bewahrung der Gesundheit der Bevölkerung gelegen. Es dauerte Wochen, bis die Einwohner allmählich realisierten, daß die gewählten Volksvertreter ein Club sind, der sich längst vom Souverän abgewendet hat und Machtinteressen verfolgt. Die japanische Regierung gab immer nur so viele Informationen preis, wie sie mußte, da sie sowieso nicht mehr zu verheimlichen waren. Die meisten amtlichen Aussagen über Ausmaß und Gefährlichkeit der Strahlenbelastung waren irreführend und vage; Entscheidendes blieb unerwähnt.


Verraten, verkauft, verstrahlt - die Einwohner Fukushimas und anderer radioaktiver Fallout-Gebiete

Die Erklärungen, die zumeist von Regierungssprecher Yukio Edano abgegeben wurden, liefen nach einem propagandistischen Schema ab, das in etwa so funktionierte: Das eigentliche Ereignis - eine Explosion in einem der Reaktoren - wird hinter Aussagen versteckt wie, daß anschließend in der Stadt Fukushima keine erhöhten Radioaktivitätswerte gemessen worden seien. Das suggeriert eine Harmlosigkeit des Vorfalls. Ginge man der Aussage des Regierungssprecher auf den Grund, so stellte sich womöglich heraus, daß a) keine erhöhten Strahlenwerte gemessen wurden, weil gar keine Messungen vorgenommen wurden, oder b) der Wind sowieso in eine andere Richtung geweht hatte oder c) sich die Strahlung in der Stadt Fukushima bereits auf einem lebensgefährlich hohen Niveau befand, das nicht zusätzlich erhöht wurde. Edano pflegte auch zu sagen, daß keine unmittelbaren Gesundheitsgefahren bestehen. Übersetzt bedeutete das: Keine unmittelbaren, aber sehr wohl mittelbare Gefahren. Tatsächlich rechnete die Regierung bereits wenige Stunden nach dem Alarm im Akw Fukushima Daiichi mit einer Kernschmelze und gefährlichen Strahlenfreisetzungen, wie die "New York Times" kürzlich berichtete. [1]

Aber erst mehr als einen Monat später gestand die japanische Regierung ein, daß eine Kernschmelze eingetreten war. Ein Beamter des Handelsministeriums, der als Regierungssprecher fungierte und bereits am 12. März die Möglichkeit einer Kernschmelze angedeutet hatte, war prompt ersetzt worden. Die Bevölkerung sollte nicht aufgeklärt, sondern getäuscht werden. Wohingegen Yukio Edano, der mit einer Arbeiterjacke Modell "Der Macher" bekleidet vor die Mikrofone trat und seinen Propaganda-Job besser machte, heute Industrieminister ist.

In vielen Fällen hat die Regierung nicht direkt gelogen, aber sie hat auch ihre eigentliche Aufgabe, die Menschen angemessen zu informieren und vor Schaden zu bewahren, nicht erfüllt. Der Anspruch der Einwohner auf Unversehrtheit ihrer Gesundheit und der ihrer Familien wurde und wird unvermindert aufs gröbste mißachtet. So haben die 300.000 Einwohner der Stadt Fukushima mit Wissen der Regierung mindestens eine Woche lang hochverstrahlte Nahrung zu sich genommen. Auch heute noch liegt die Strahlenbelastung in der Stadt teils höher als in der 20-Kilometer-Sperrzone, die um das zerstörte Atomkraftwerk gezogen wurde.

Eigentlich hätten sofort nach Beginn des Nuklearunfalls weite Landesteile evakuiert werden müssen, allen damit verbundenen Schwierigkeiten zum Trotz. Rußland hatte angeboten, Einwohner Japans dürften sich dauerhaft auf seinem Territorium ansiedeln - ob die japanische Regierung diese Option überhaupt ernsthaft geprüft hat, ist nicht bekannt. Wohl aber weiß man, daß die Evakuierungen aus den verstrahlten Gebieten entweder gar nicht oder viel zu spät erfolgten und daß die Menschen in Fukushima und anderen kontaminierten Gebieten heute noch unter Strahlenbelastungen von außen und, vermittelt über die Nahrung, von innen leben, die sich nicht sofort, aber in einigen Jahren in einer erhöhten Krankheitsrate niederschlagen dürfte.

Ein Jahr ist seit Beginn der längst nicht bewältigten nuklearen Katastrophe vergangen. In der radioaktiv verstrahlten 20-km-Sperrzone um das Akw herum wird seit Monaten wieder Industriearbeit verrichtet, weil sie "drinnen" stattfindet. Daß die Arbeiterinnen und Arbeiter durch verstrahlte Gebiete anreisen müssen und sich Strahlung sowieso nicht ausreichend eindämmen läßt, wird ignoriert. Die Wirtschaft hat Vorfahrt, der Mensch dagegen ist austauschbar. Wie es in den havarierten Reaktoren aussieht, weiß man nicht. Wahrscheinlich hat sich die Kernschmelze durch die Schutzhülle in den Boden durchgefressen, möglicherweise wütet dort unten noch immer das atomare Feuer. Radioaktive Partikel werden weiterhin an Luft, Boden und Wasser abgegeben, auch wenn die Strahlenwerte vielerorts zurückgegangen sind.

Dr. Angelika Claußen nimmt Stellung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Engagierte Stellungnahme zu einem bedrückenden Thema
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dennoch: Ein einziges inkorporiertes Strahlenteilchen kann Krebs auslösen. Regelmäßig dunstet radioaktiv verseuchtes Meerwasser nach dem Rückzug der Flut an der Küste ab, der Sand trocknet aus, Strahlenpartikel werden vom Wind aufgegriffen und in Umlauf gebracht. Auch die Gischt ist nicht frei von Radioaktivität. So kann es geschehen, daß zuvor als strahlungsfrei ausgewiesene Gebiete plötzlich doch wieder kontaminiert werden. Es mangelt vielerorts an Meßgeräten. Mit einer zehn Fußballfelder großen, dicken Betonplatte will TEPCO (Tokyo Electric Power Company), die Betreibergesellschaft des Akw Fukushima, den Meeresboden vor dem havarierten Akw zudecken. Der Effekt dürfte hinsichtlich der Verteilung von Radionukleotiden bescheiden bleiben, im Alltagssprachgebrauch nennt man eine solche Maßnahme auch "unter den Teppich kehren".

Nur weil die Grenzwerte für eine radioaktive Belastung beispielsweise der Nahrung auf einem relativ hohen Niveau festgelegt sind - zwischen 200 und 500 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg), was in etwa den Grenzwerten der EU entspricht -, entsteht der Eindruck, allmählich kehre Normalität im Alltag ein. Das täuscht. So fordert die atomkritische Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.), den Grenzwert bei 4 bis 8 Bq/kg Nahrung festzulegen. Das seien niedrige Leitwerte, aber sie seien an der Gesundheit orientiert, erklärte Dr. Angelika Claußen von der IPPNW am Dienstag, den 6. März, auf einer Pressekonferenz unter dem Titel "Fukushima - was wirklich geschah" im Hotel Albrechtshof in Berlin.


Strahlengrenzwerte - Kein Schutz, sondern Festlegung der tolerierten Zahl an geschädigten Menschen

In einem vierseitigen Informationsblatt ippnw aktuell (Nr. 25, Februar 2012) heißt es treffend, daß "jede noch so geringe radioaktive Strahlung ein gesundheitliches Risiko darstellt und schwere Erkrankungen wie Krebs auslösen" kann. Und weiter:

"Jede Grenzwertfestlegung ist lediglich eine Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen. Nach den Berechnungen der Internationalen Strahlenschutzkommission akzeptiert die EU mit ihren aktuell sehr hohen Grenzwerten allein für Deutschland jährlich mindestens 7.700 zusätzliche Todesfälle, selbst wenn nur fünf Prozent des Grenzwertes ausgeschöpft würden."

Hätten Bundesregierung und Wirtschaft einst bei der Einführung der Atomtechnologie in Deutschland der Bevölkerung mitgeteilt, daß der Preis in einem Massensterben bestünde und Jahr für Jahr eine Kleinstadt mit 7.700 Einwohnern dahingerafft werde, wäre wahrscheinlich beträchtlicher Widerstand gegen diese Menschenvernichtungstechnologie aufgekommen. Durch die Explosion der Atombombe 1945 über Hiroshima kamen auf einen Schlag schätzungsweise 90.000 Einwohner ums Leben - die gleiche Opferzahl verzeichnet Deutschland in gut zwölf Jahren "ziviler" Atomenergienutzung. Von anderen Ländern mit Atomtechnologie ganz zu schweigen. In sogenannten Friedenszeiten, die offensichtlich keine sind, erleiden weltweit zehntausende Menschen einen strahlenbedingt vorzeitigen Tod. Wüßte man vorher namentlich, wen es am Ende eines Jahres getroffen hat, müßten sich die Betreiber von Kernkraftwerken wegen Mordes vor Gericht verantworten. Der strahlenbedingte frühzeitige Tod wird jedoch durch die Statistik verschleiert.

Ein Jahr nach Beginn der Katastrophe scheinen sich die Einwohner von Fukushima und anderen radioaktiv kontaminierten Gebieten mit ihrer Lage zu arrangieren. Das vermeintliche Arrangement erfolgt jedoch nicht freiwillig, vielmehr ist es Ergebnis einer nicht zuletzt ökonomisch begründeten Zwangslage sowie propagandistischer Dauerbeschwichtigung. Aus eigenen Stücken das Land zu verlassen, ist vielen Bewohnern verstrahlter Gebiete nicht möglich. Die evakuierten Personen haben erst Wochen nach dem Umzug von TEPCO eine Entschädigung in Höhe von umgerechnet rund 10.000 Euro erhalten. Damit kann sich niemand eine neue Existenz aufbauen. Auch müssen viele Menschen um eine Entschädigung kämpfen. So kann es geschehen, daß ein Hausbesitzer wegzieht und entschädigt wird, weil auf seinem Grundstück erhöhte Strahlenwerte gemessen wurden, sein Nachbar jedoch kein Geld erhält, da die Radioaktivität bei ihm unter dem Grenzwert bleibt. [2]

Solange die Regierung einen Exodus aus den gefährdeten Regionen nicht am tatsächlichen Bedarf der Menschen orientiert unterstützt, werden diese auf ihre Ängste und schlußendlich auf die bloße Hoffnung zurückgeworfen, daß es alles wohl doch nicht so schlimm sein kann - womöglich bis sie eines Schlechteren belehrt werden, aber dann ist es zu spät.



Der Tsunami-Legende auf den Zahn gefühlt

Ein unglaublich hoher Tsunami habe am 11. März 2011 den mehrfachen Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi verursacht; niemand habe mit dem Eintreffen einer vierzehn Meter hohen Welle gerechnet; gegen eine solche Wucht sei das Akw nicht ausreichend geschützt gewesen, lautet der offizielle Erklärungsversuch, warum es zu der Nuklearkatastrophe kam, und die meisten Medien haben diese für die Atomwirtschaft weltweit vorteilhafte Version fleißig kolportiert. Die atomkritische Organisation IPPNW hingegen gehört zu denen, die darauf aufmerksam machen, daß bereits das Erdbeben die Katastrophe auslöste.

Die Organisation ist den offiziellen Verlautbarungen der Akw-Betreibergesellschaft TEPCO, der japanischen Regierung und von Gutachtern nachgegangen und hat mittels eines Indizienbeweises belegt, daß das Akw Fukushima Daiichi nicht erst durch den Tsunami, sondern bereits durch das schwere Tohoku-Erdbeben vor der pazifischen Küste so schwer beschädigt wurde, daß die Stromversorgung und die Kühlsysteme ausfielen und es in Folge dessen zur multiplen Kernschmelze kam. Auf der Pressekonferenz in Berlin stellte die Organisation ihre Rechercheergebnisse vor.

Federführend in einer dazu begleitend veröffentlichten, rund 60seitigen Studie [3] ist Henrik Paulitz, der bereits vor einigen Jahren bei der Klage gegen das Akw Biblis B seine "Spürnase" für Offenlassungen, Ungereimtheiten und Widersprüche im amtlichen Schriftverkehr unter Beweis gestellt hat. Auch im aktuellen Fall hat er sich auf Spurensuche begeben, hat akribisch offizielle Verlautbarungen ausgewertet und ist reichlich fündig geworden. Nach Ansicht der IPPNW wird die Vermutung, daß bereits das Erdbeben den entscheidenden Stoß gegen das Akw Fukushima Daiichi geführt hat, durch eine Vielzahl an Hinweisen belegt.

Die zeitliche Differenz von knapp einer Stunde zwischen Erdbeben und seinen Folgen und dem Eintreffen der vermeintlichen "Monsterwelle" ist nicht unbedeutend, weil die Tsunami-Version auf eine "Einzeltat" schließen läßt, zu der es vermutlich nie wieder an irgendeinem Akw-Standort in der Welt kommen wird - zumindest nicht in küstenfernen Regionen -, wohingegen wir es bei der Erdbeben-Version mit einem "Serientäter" zu tun hätten, der jederzeit wieder zuschlagen kann, da weltweit viele Akws in tektonisch instabilen Zonen errichtet wurden oder ihr Standort für dort geplant ist. In Deutschland gilt das für das Akw Philippsburg, in Frankreich für das Akw Fessenheim. Darauf machte auf der Pressekonferenz Angelika Claußen in ihrer einleitenden Stellungnahme aufmerksam. Bevor sie das Wort an Henrik Paulitz weitergab, faßte sie in einem kurzen Bogen die Stoßrichtung der IPPNW zusammen:

"In Japan (...) waren die Sicherheitsdefizite im AKW von Fukushima lange vor dem Unglück bekannt. Die hohe Erdbebengefährdung des Landes war ebenfalls bekannt. Aber durch die Verfilzung von Politik und Wirtschaft und Aufsichtsbehörden wurde TEPCO geschont. Und die Bevölkerung muß jetzt mit Gesundheit und mit ihren Leben für dieses Versagen bezahlen."

BUBL: Henrik Paulitz erläutert gestenreich technische Details - Foto: © 2012 by Schattenblick

Akribische Analyse komplexer Abfolgen
Foto: © 2012 by Schattenblick



(Sehr) technische Details der Akw-Havarie

Die IPPNW stützt sich auf Angaben aus offiziellen Dokumenten, deren Datengrundlagen ursprünglich von Tepco stammen. Das Unternehmen hat aber ab 15.17 Uhr des 11. März 2011, also rund eine halbe Stunde nach dem ersten schweren Erdstoß, keine relevanten Angaben mehr zum Ablauf veröffentlicht. Vieles müsse daher spekulativ bleiben, so Paulitz.

Das eigentliche Problem, das zur Kernschmelze in den ersten drei der sechs Reaktoren führte, die zum Zeitpunkt des Erdbebens Strom produzierten, bestand im Versagen der Zufuhr von Kühlwasser und der Abfuhr des erhitzten Wassers. Auslösendes Ereignis waren das Hauptbeben und drei schwere Nachbeben innerhalb kurzer Zeit, noch bevor der Tsunami eintraf. Einige der sehr technisch orientierten Widersprüche zur "Tsunami-Legende", die von der IPPNW in ihrer Studie und auf der Pressekonferenz erläutert wurden, haben wir im folgenden zusammengefaßt:

- Durch das Erdbeben brach die externe Stromversorgung zusammen, und es kam zum sogenannten Durchdringungsabschluß. Das bedeutet, der heiße Wasserdampf aus dem Reaktor wurde nicht mehr abgeführt, die Turbine nicht mehr angetrieben und somit kein Strom mehr produziert. Die reguläre Wärmeabfuhr wurde gekappt.

- In allen drei Reaktoren gab es jeweils nur zwei Hochdrucksysteme, über die sie hätten gekühlt werden können. Beide, das HPCI und das RCIC, waren nur einsträngig ausgelegt. Und in einem Block gab es auch nur eines dieser Systeme. Je nach Block waren somit nur ein oder zwei Pumpen, die mit dem notwendigen Druck Wasser in den Reaktor befördern konnten, vorhanden. Man habe "die grundlegende Anforderung von Redundanz an Sicherheitssystemen nicht beachtet", erklärte Paulitz.

- Die Blöcke 2 und 3 hatten im Gegensatz zu Block 1, der älter war, kein System zur passiven Kühlung mittels dampfgetriebener Pumpen. Es fehlte somit die grundlegende Diversität. Da die auf elektrischen Strom angewiesenen Pumpen ausgefallen waren, gab es keine reguläre Kühlung mehr.

- In den Blöcken 2 und 3 fiel das Nebenkühlwassersystem, über das die Wärme hätte ins Meer geleitet werden können, aus. Eine Abgabe der Wärme an die Atmosphäre war nicht möglich, weil man sich dort den Einbau eines Notkondensationssystems ("Isolation Condenser") gespart hatte.

- Einen Isolation Condenser (zweisträngig) gab es nur in Reaktorblock 1. Dieses Aggregat sprang um 14.52 Uhr, sechs Minuten nach dem Störfall mit Frischdampfabschluß, an, mußte aber von Hand nach nur elf Minuten wegen eines extremen Temperatursturzes (dessen Ursache bis heute unaufgeklärt ist; Paulitz vermutet ein Leck im System) wieder abgestellt werden. Also fiel das letzte System, mit dem der Druck im Reaktor begrenzt werden konnte, noch vor Eintreffen des Tsunamis aus. Der Druck wurde nun durch Öffnen von Ventilen entlastet, es kam zum Wasserverlust, aber auf der anderen Seite konnte kein Wasser nachgefüllt werden. Die Brennstäbe wurden freigelegt. Paulitz spricht von "unglaublichen Defiziten" der Konstruktion.

- Ob der Isolation Condenser von Block 1 wenige Minuten nach 15.03 Uhr dreimal wieder eingeschaltet wurde, wie in offiziellen Dokumenten dargelegt, ist unklar. Laut einer internationalen Studie unter Federführung des Norwegian Institute for Air Research lassen Meßdaten über in Fukushima freigesetztes Xenon-133 die Vermutung zu, daß die Kernschmelze bereits gegen 15 Uhr einsetzte. Das spräche gegen eine Wiederinbetriebnahme des Isolation Condensers.

- Nach dem Ausfall des Isolation Condensers in Block 1 hätten Notfallmaßnahmen greifen müssen. Die wurden aber erst ab 17.12 Uhr vorbereitet - da war die Kernschmelze schon am Laufen.

- In den Blöcken 2 und 3 war auch das zweite Wassereinspeisesystem, das RCIC, das immer dann tätig wird, wenn der Kühlwasserstand im Reaktor unter ein bestimmtes Niveau fällt, nur einsträngig ausgelegt. Es besaß aber nur eine geringe Fördermenge.

- Warum war das HPCI in Block 1 in der ersten Stunde nach dem Erdbeben nicht aktiviert worden? War es etwa zu dem Zeitpunkt bereits beschädigt? Dann wäre die offizielle Begründung, daß ein Ausfall der Batteriestromversorgung als Folge des Tsunamis den Ausfall bewirkte, Teil der Legendenbildung, so IPPNW.

- Am 11. März um 15.31 Uhr trat in Block 2 ein Kurzschluß in einer von zwei redundanten 125 V-Gleichspannungsversorgungssystemen auf. Dadurch fiel das HPCI komplett aus, denn der Kurzschluß betraf auch das Backup-System, was bei einer klaren Trennung der Systeme nicht hätte passieren dürfen. Der Tsunami traf erst nach dem Kurzschluß ein.

- Das HPCI in Block 3 kam am ersten Tag der Katastrophe gar nicht zum Einsatz, sondern erst am 12. März um 12.35 Uhr. Tags darauf um 2.42 Uhr fiel es aus, da es sich bis dahin den für den Betrieb erforderlichen Dampfdruck von mindestens 10 bar für den Pumpenantrieb selbst entzogen hatte.

- Kraftwerkseigene Feuerwehrwagen standen für die Kühlung von Block 3 nicht zur Verfügung, weil sie bei Block 1 gebraucht wurden.

Henrik Paulitz in Nahaufnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Konzentrierter Vortrag
Foto: © 2012 by Schattenblick



Was geschah in Fukushima wirklich?

Was in Fukushima wirklich geschah, ist nach Lesart der IPPNW in mancher Hinsicht unklar, aber eines geschah jedenfalls nicht: Jene Version der Ereignisse, die von behördlicher Seite nahegelegt wird und besagt, daß ein vierzehn Meter hoher Tsunami, eine Monsterwelle, hauptverantwortlich für die Katastrophe war.

Tepco und die japanische Regierung haben Mutmaßungen, Erwartungen und Hoffnungen verbreitet, die in der medialen Weiterverarbeitung den Charakter von Wahrheitsaussagen annahmen. Was sie jedoch nicht waren. So berichtete Angelika Claußen über Untersuchungen des Norwegers Andreas Stohl vom Institut für Meteorologische Forschung, Luft- und Atmosphärenforschung, der in Zusammenarbeit mit anderen Instituten festgestellt hat, daß nach dem Super-GAU in Fukushima zweimal soviel radioaktives Cäsium emittiert wurde und sich verbreitet hat, als damals die japanische Regierung und auch die internationale Atomenergieorganisation IAEO angegeben hatten.

Sicherlich vermag niemand ganz genau zu sagen, welche Mengen an Strahlung und Radionukleotiden aus dem zerstörten Akw entwichen sind. Auffälligerweise bleiben aber Japans Regierung und Tepco meist unterhalb der Einschätzung unabhängiger Experten. Auch wurde anfangs verschwiegen, daß überhaupt Strahlung freigesetzt wurde. Es ist bezeichnend, daß sich Bürgerinitiativen gebildet haben, die eigene Strahlenmessungen vornehmen, nachdem sich herausstellte, daß die Behörden die Sorgen der Menschen wegen einer möglichen Kontamination mit Radioaktivität beharrlich ignorierten. Die Organisation IPPNW arbeitet seit längerem mit der japanischen Bürgerinitiative CRMS (Citizens' Radioactivity Measuring Station) zusammen, so daß die Einwohner die für sie wichtigen Informationen über Strahlengefahren erhalten, und hilft dabei, daß sich die Bürgerinnen und Bürger eigene Meßstationen aufbauen können - Maßnahmen, die mit Blick auf die Verschleierungspolitik von TEPCO und Regierung unverzichtbar sind.

Unsere Atomkraftwerke sind sicher, behaupten deren Betreiber notorisch. Das schließt die des Akw Fukushima ein. Bis zum Eintritt des Super-GAU wurde diese Behauptung offenbar niemals ernsthaft überprüft, auch nicht durch die japanische Aufsichtsbehörde NISA (Nuclear and Industrial Safety Agency), obwohl es eigentlich ihre Aufgabe war. Eine solche Behörde, deren Mitarbeiter aus der Industrie stammen und positive Gutachten schreiben oder wieder in die Industrie wechseln, setzt sich dem Verdacht des Interessenkonflikts aus. Eigentlich müßte man allerdings sagen, daß solch ein Konflikt niemals bestand, denn die NISA befand sich schon immer auf Seiten der Wirtschaft. Die Behörde war nicht geschaffen worden, um die Einführung der Atomtechnologie zu verhindern, sondern um sie zu ermöglichen ...

Eigentlich hätte die NISA das Akw Fukushima stillegen müssen. Denn so wie der TÜV keinem Auto ohne Bremsen Tauglichkeit attestiert, hätten die Akw-Aufseher keinem Reaktor ihren Segen erteilen dürfen, der ausgerechnet im Ernstfall nicht über grundlegende Bremsfunktionen verfügt. Wie man sich vorstellen kann, ist das Bremsen bei einem Atomkraftwerk etwas komplizierter als bei einem Auto, deshalb braucht es nicht nur ein System, sondern deren zwei, und die müssen zusätzlich mindestens doppelt ausgelegt sein. Ein Akw bewegt sich zwar nicht von der Stelle (sollte man zumindest erwarten, was bei manchen tektonisch instabilen Standorten fraglich ist), aber es kann abgebremst, sprich: heruntergefahren werden.

Bei einer Vollbremsung, die in der Welt der nuklearen Energieproduktion "Reaktorschnellabschaltung" genannt wird, muß erstens die Erzeugung der Wärme so schnell wie möglich unterbrochen werden - was dadurch geschieht, daß sogenannte Steuerstäbe zwischen die Brennelemente gleiten und dadurch die nukleare Kettenreaktion unterbinden - und zweitens die Nachzerfallswärme, die bei einem abgeschalteten Reaktor in großer Menge weiter produziert wird, abgeführt werden. Aufgabe eins hat in Fukushima funktioniert. Nach Eintreffen der ersten Erdbebenwellen wurde die nukleare Kettenreaktion unterbunden, das Akw in Verschlußzustand versetzt. System zwei dagegen hat versagt.

Hier setzt IPPNW-Experte Henrik Paulitz mit seiner Kritik an. Wie gesagt, einer der havarierten Reaktoren besaß nur ein einziges Kühlsystem. "Das ist ein unglaubliches Defizit!", kann er sich noch heute empören. Man habe die grundlegende Anforderung von Redundanz an die Sicherheitssysteme nicht erfüllt. Um in unserem Beispiel zu bleiben: Das Auto besaß nur auf einer Seite eine einzige Bremse, und die fiel aus. Daraufhin mußte improvisiert werden. Innerhalb weniger Stunden bzw. Tage erfolgten in den drei havarierten Blöcken Explosionen, von denen man nicht sicher sagen kann, ob Wasserstoff gezündet hat oder ob es sich nicht doch zumindest in einem Fall um eine Kernexplosion handelte, da der Rauch nicht weiß, sondern dunkel war.

Durch die Explosionswuchten wurden die Reaktoren weiter beschädigt, radioaktive Partikel gelangten zusätzlich in die Atmosphäre und verteilten sich je nach Windrichtung übers Land. Laut IPPNW, die sich in ihrer Untersuchung ausschließlich an offiziellen Angaben orientiert, ging der Großteil des radioaktiven Niederschlags über dem Pazifik herunter. Dieser Umstand wird heute von den Beschwichtigungsmedien gern zum Arsenal der gegenüber den Nöten der Bevölkerung ignoranten, kaltherzigen Pseudoargumente hinzugefügt, denen zufolge der Fukushima-GAU einigermaßen glimpflich ausgegangen sei. [4]


Gesellschaftliche Immunreaktion auf Grundsatzfragen

Ein Jahr nach Beginn der Fukushima-Katastrophe dominiert die gesellschaftliche Immunreaktion auf das Ereignis das Feld. Durch das Gedenken des Jahrestags und der endlosen Berichterstattung mit den immer gleichen, häufig der Verschleierung dienenden "Fakten" über den chronologischen Ablauf der vermeintlich schicksalhaften Vorgänge, gern auch mal angereichert mit Betroffenheitsreportagen über Menschen, die seit einem Jahr in Turnhallen und anderen Notunterkünften leben, aber dann in einem Tenor wiedergegeben, als seien dies alles nur Mißstände, die behoben werden könnten, nicht aber systemimmanente Begleitfolgen der Vergesellschaftung des Menschen zum Zwecke seiner Verfügbarmachung, werden grundlegende Fragen der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung verödet. In den Tagen nach Einsetzen der Kernschmelzen und unter dem Eindruck einer potentiell globalen Katastrophe war in den Medien hier und da der eingeschlagene Kurs der Technologieentwicklung grundsätzlich hinterfragt worden. Diese Möglichkeit zur Debatte wurde nicht weiterverfolgt. Im selben Zuge gingen andere Entwicklungsoptionen menschlicher Gemeinschaft, die sich gewiß nicht auf den Standpunkt reduzieren lassen, daß man atomare durch erneuerbare Energien ersetzen sollte, unter.

Die Organisation IPPNW hat mit ihrer Studie "Fukushima - was wirklich geschah" und der Pressekonferenz den technischen Aspekt des Super-GAU beackert und eklatante Sicherheitsmängel bei den unterschiedlichen Reaktoren des havarierten Atomkraftwerks herausgearbeitet. Der Vorzug der Genauigkeit der Analyse droht jedoch dann in sein genaues Gegenteil umzuschlagen, wenn er zur Rechtfertigung des Weiterbetriebs von Akws mißbraucht würde. Die von der IPPNW vorgenommene Verknüpfung von Fukushima Daiichi auf anders konstruierte Atomkraftwerke ist nicht zwingend, auch wenn Paulitz den Finger auf die mögliche Schwachstelle vieler Akw-Typen, die Kühlwasserzufuhr unter Hochdruckverhältnissen bei einem Stromausfall, gelegt hat. Um unser obiges Bild aufzugreifen: Wenn Autohersteller A seine Wagen zurückruft, weil er vergessen hat, Bremsen einzubauen, bedeutet das nicht, daß sich Autohersteller B dem anschließen muß.

Die technischen Aussagen zu Sicherheitsmängeln des Akw Fukushima Daiichi hätten womöglich auch von einem Tepco-Manager stammen können, der eine PR-Offensive startet, vermeintlich Reue zeigt und erklärt, daß das Unternehmen umfangreiche Nachrüstungen an seinen Akws vornehmen und fortan ein strenges Sicherheitsregime etablieren werde. So ein Manager hätte womöglich kein Problem damit zuzugestehen, daß ein einziges Kühlsystem für einen Reaktor wirklich äußerst fahrlässig sei und daß man jetzt ebenfalls darauf achte, daß die Stromversorgung der Kühlaggregate mehrfach abgesichert wird. Kurzum, es seien schwere Fehler gemacht worden, aber man habe daraus gelernt und sei zuversichtlich, daß nie wieder so eine Katastrophe eintrete.

Eine solche Regulation der Katastrophe findet bereits statt. Dazu gehört, daß das TEPCO-Management im Juni komplett ausgetauscht werden soll. [5] Wer weiß, ob nicht dann "frischer Wind" in die Edelholzbüros der Unternehmensführung Einzug hält und zukünftig jene Ingenieure und Manager zum Zuge kommen, die im vergangenen Jahr in einem Bericht an die japanische Regierung vor der Gefahr einer Kernschmelze im Akw Fukushima Daiichi bei einem Tsunami in Höhe von sieben bis 15 Metern gewarnt hatten. Darüber hatte die Nachrichtenagentur Reuters im Mai vergangenen Jahres unter Berufung auf die japanische Tageszeitung Mainichi berichtet. [6] Dem Bericht zufolge hatten Experten der Japan Nuclear Energy Safety Organization des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie Im Dezember 2010 in einer Analyse zu den Tsunami-Gefahren in Verbindung mit einem Erdbeben festgestellt:

"Unsere Analyse zeigt, daß ein Tsunami von einer bestimmten Höhe (rund sieben Meter ohne Schutzmauer und rund 15 Meter mit Schutzmauer) oder höher mit beinahe hundertprozentiger Chance den Reaktorkern beschädigt (...) Wir rechnen damit, daß ein Tsunami von mindestens sieben Metern die Funktionen der Meerwasserpumpe und einer von mindestens 15 Metern die außerhalb [SB-Red.: des Reaktorgebäudes] gelegenen Einrichtungen wie das Transformatorgebäude zerstören wird."

Selbst in dem in der IPPNW-Studie sehr häufig zitierten Bericht der japanischen Regierung an die IAEA-Ministerkonferenz zur nuklearen Sicherheit wird in Kapitel zwölf, "Welche Lektionen bislang aus dem Unfall gezogen wurden" [7], eine grundlegende Sicherheitsüberprüfung der japanischen Atomkraftwerke als "unvermeidlich" bezeichnet. Der Mangel an einer diversifizierten Stromversorgung wird als "wichtiger Grund" für die Havarie bezeichnet. Auch soll künftig das Versagen der Kühlfunktionen der Blöcke durch die Installation robuster alternativer Kühlsysteme verhindert werden, was eine Diversifizierung alternativer Wassereinbringungsfunktionen und Luftkühlsysteme bedeute. Hier werden also die von Paulitz vorgebrachten Kritikpunkte berücksichtigt! Auf diese Weise findet eine Immunisierung gegenüber der grundsätzlich schädlichen Bedeutung der Atomenergie und der mit ihr verbundenen Qualifizierung der Verfügungsgewalt statt. Würden die im Regierungsbericht genannten Erkenntnisse aus der Katastrophe in Zukunft umgesetzt, wäre alles "ordnungsgemäß" abgewickelt.

Dr. Angelika Claußen und Henrik Paulitz vor Powerpoint-Leinwand - Foto: © 2012 by Schattenblick

Pressefragen werden ausführlich beantwortet
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Hauptstoßrichtung der Kritik, das hatte der Atomexperte auf Nachfrage deutlich gesagt, gilt der mangelhaften Sicherheitsarchitektur des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, dem "Sparen an der Sicherheit". Mit seinen Argumenten, durch die die Tsunami-Legende entmystifiziert wird, dürfte die Mehrheit der Kernenergieingenieure in Deutschland und vermutlich auch in Japan vollkommen d'accord gehen. IPPNW würde bei ihnen offene Türen einrennen. Angelika Claußens Schlußbemerkung, daß "alle Atomkraftwerke weltweit (...) abgeschaltet werden" müssen, ist eine verständliche, wenngleich politische Stellungnahme, die sich - aus der Sicht der Akw-Betreiber, wohlgemerkt - nicht zwingend mit den technischen Darlegungen begründen läßt. Dennoch muß es der Organisation als Verdienst angerechnet werden, überhaupt tiefer in die schwierige Materie eingedrungen und der Dauerberieselung der Öffentlichkeit mit suggestiven Informationen, Interpretationen und haltlosen Perspektiven der Atomlobbyisten in Japan und darüber hinaus auch auf dem Feld der konkreten Technologie entgegengetreten zu sein.

Wer aber womöglich im guten Glauben und mit besten Absichten Sicherheitsdefizite bei Atomkraftwerken moniert, setzt sich der Gefahr aus, einen Konsens mit den aufgeschlosseneren Kräften innerhalb der Atomlobby einzugehen und in der Folge gar ordnungspolitische Funktionen zu erfüllen. Für eine solche Entwicklung gibt es zumindest in der Umweltbewegung genügend Beispiele: Da führen Vertreter einer unter anderem aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Partei die Bundesrepublik Deutschland erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in einen Angriffskrieg; da wechseln ehemalige grüne Regierungsmitglieder in die Chefetage von Wirtschaftskonzernen; da gehen frühere NGO-Aktivisten im Europaparlament mit denen, die sie früher bekämpft haben, Kompromisse ein (und nicht zufällig hat "kompromittieren" die gleiche Wortherkunft wie "Kompromiß"); da wechseln Naturschutzfunktionäre in die Umweltadministration der Bundesregierung.

Inwieweit die IPPNW bei ihrer durchaus radikalen Forderung, daß alle Atomkraftwerke weltweit abgeschaltet werden sollen, bleibt oder nicht doch eines Tages "immerhin"-Lösungen befürwortet (nach dem Motto: Unsere unermüdliche Arbeit hat etwas gebracht und immerhin dazu beigetragen, daß heutige Akws nur noch mit mehrfach redundanten, diversifizierten Sicherheitssystemen gebaut werden), wird sich noch erweisen. Die Durchsetzungskraft der gesellschaftlichen Immunreaktion gegenüber allem, das auch nur in die Nähe gelangen könnte, die herrschaftsförmigen Voraussetzungen der Vergesellschaftung in Frage zu stellen, wird allzu häufig unterschätzt.

Wenn sich bei Atomkraftwerken eine Sicherheitskultur durchsetzte, bei der nicht "überall gespart" wird, wie Paulitz kritisiert, wäre der Betrieb von Akws dann in Ordnung? Indem die IPPNW Sicherheitslücken im System aufspürt, könnte sie sogar das System stärken, vergleichbar mit dem Chaos Computer Club, der beim Hacken Sicherheitslücken entdeckt und schon manche Behördendienste geleistet hat.

An der Fukushima-Katastrophe und ihrer Abwicklung wird einmal mehr etwas Grundsätzliches deutlich: Die Trennung in zivile und militärische Nutzung der Atomenergie ist willkürlich. Beide Varianten fordern hohe Opferzahlen, in beiden Fällen verkommen Menschen zur bloßen Verfügungsmasse herrschender Interessen und werden in die Not gebracht, eben diese Interessen auch noch zu addressieren und sich Rettung von ihnen zu erhoffen. So waren es nach dem Abwurf zweier Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 die Täter, die anschließend Krankenhäuser aufbauten und "halfen", die von ihnen erzeugte Not zu lindern (und "nebenbei" ihr nuklearmedizinischen Erkenntnisse erheblich vertiefen durften). Heute ist es die japanische Regierung, die, weiterhin aufs engste mit der Atomwirtschaft verbandelt, sich als unverzichtbare Institution präsentiert, die den in Not geratenen Menschen Hilfe verspricht. Bei der militärischen wie auch der zivilen Nutzung der Atomspaltung handelt es sich somit um zwei Formen der Herrschaft des Menschen über den Menschen.



Fußnoten:

[1] "Japan Weighed Evacuating Tokyo in Nuclear Crisis", The New York Times, 27. Februar 2012
http://www.nytimes.com/2012/02/28/world/asia/japan-considered-tokyo-evacuation-during-the-nuclear-crisis-report-says.html?_r=1&scp=1&sq=fukushima%20edano%20&st=cse

[2] "Trotz Messgeräten und Gesundheitschecks leben die Menschen in Fukushima unsicher. Sie sind Teil eines Langzeit-Experiments", news.de, 9. März 2012
http://www.news.de/gesellschaft/855282029/fukushima-ein-jahr-danach-strahlenexperiment-an-lebendigen-japanern/1/

[3] "Der Super-GAU von Fukushima. Teil 1: Der Unfallablauf bis zum Eintritt der Kernschmelzen und sicherheitstechnische Schlussfolgerungen", Henrik Paulitz/Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), 6. März 2012
http://www.fukushima-disaster.de/fukushima_supergau_studie.pdf

[4] "Stress und Strahlung - Ein halbes Jahr nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima können psychosoziale Belastungen zu mehr Opfern führen als die Radioaktivität. Eine aktuelle Risikoanalyse", Hans Schuh/Zeit online, 12. September 2011
http://www.zeit.de/2011/37/Fukushima-Psychologische-Belastung/komplettansicht

[5] "Tepco-Manager sollen ausgetauscht werden", AFP/Verivox, 27. Februar 2012
http://www.verivox.de/nachrichten/tepco-manager-sollen-ausgetauscht-werden-84209.aspx

[6] "Japan govt body detailed tsunami risks before March 11: documents", Reuters, 15. Mai 2011
http://www.reuters.com/article/2011/05/15/us-japan-nuclear-study-idUSTRE74E0M320110515

[7] "Report of the Japanese Government to the IAEA Ministerial Conference on Nuclear Safety - The Accident at TEPCO´s Fukushima Nuclear Power Stations", Nuclear Emergency Response Headquarters Government of Japan, Juni 2011
http://www.kantei.go.jp/foreign/kan/topics/201106/pdf/chapter_xii.pdf

Hotel 'Albrechtshof', viergeschossiges Eckhaus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltungsort der Pressekonferenz
Foto: © 2012 by Schattenblick

Gläserne Gedenktafel an Hotelwand mit schwarzer Aufschrift, Abbild von Martin Luther King und seiner Unterschrift aus dem Gästebuch - Foto: © 2012 by Schattenblick

1964, vor der Nutzung des Gebäudes als Hotel, besuchte
Martin Luther King das 'Hospiz am Bahnhof Friedrichstraße'
Foto: © 2012 by Schattenblick

13. März 2012