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KLIMA/716: Agrar - Aktionscamp gegen Klimaschädenverursacher ... (SB)



Die Initiative "Free the Soil" hat in der Nähe von Brunsbüttel für eine Woche ein Aktionscamp zu "Klimagerechtigkeit statt Agrarindustrie" aufgeschlagen. Damit soll die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß rund die Hälfte der menschengemachten Treibhausgasemissionen von der industriellen Landwirtschaft erzeugt wird. Anläßlich dessen ist geplant, an einer ihrer Schnittstellen, der energieintensiven Produktion von Kunstdünger, ein Werk des weltweit tätigen Düngemittelherstellers Yara zu blockieren. [1]

Das Anliegen der Initiative "Free the Soil" deckt sich inhaltlich mit zentralen Aussagen des Weltagrarberichts (2008) und dem jüngsten Sonderbericht des Weltklimarats (2019) über Klimawandel und Landsysteme: Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bilden das Rückgrat der weltweiten Nahrungsproduktion. Sie und nicht die industrielle Landwirtschaft verwenden die am wenigsten zerstörerischen Anbaumethoden. Zudem ist das heutige agroindustrielle Produktionssystem Hauptverdächtiger bei der Suche nach den möglichen Ursachen des massenhaften Insektentods und Vogelsterbens.

Es geht den Menschen in dem Landwirtschafts- und Klimagerechtigkeitscamp in St. Margarethen bei Brunsbüttel in Schleswig-Holstein nicht einfach nur darum, eine Düngemittelfabrik zu blockieren. Vielmehr will man sich in den Tagen davor und danach über vielschichtige Fragen im Zusammenhang mit der Produktion von Nahrung und was das mit dem Klimawandel zu tun hat, sowie mögliche Alternativen zu den industriellen Agrosystemen informieren und konstruktiv austauschen. Konstruktiv in dem Sinne, daß auf dem Camp auch soziale Fragen nicht ausgespart werden, die das Feld des Zusammenlebens und Arbeitens der Menschen beherrschen.

Dieses auch auf die Emanzipation von der eigenen Beteiligung an dem Geschehen gerichtete Anliegen - eines der Stichworte hierzu wäre Verstoffwechslung anderer Lebensformen zwecks eigener Überlebenssicherung - erscheint äußerst rational, weil, wenn die wissenschaftlichen Projektionen zur globalen Erwärmung in Folge der menschengemachten Treibhausgasemissionen auch nur halbwegs eintreten, ein gesellschaftliches Weiter-so-wie-bisher durch den Kollaps verschiedener, teils erdumspannender Natursysteme zunichte gemacht würde ... nein, nicht zunichte gemacht, sondern geradezu auf die Spitze getrieben würde. Denn wenn der Mensch fortwährend sein Überleben zu Lasten seiner Um- und Mitwelt organisiert und seine Interessen dementsprechend durchsetzt, wird er an diesem menschheitsgeschichtlichen Prinzip auch bis zum Ende festhalten. Und sei es das eigene.

Aus den Erklärungen, die Free the Soil zum Aktionscamp veröffentlicht hat, ist jedenfalls deutlich zu entnehmen, daß sich die Teilnehmenden nicht mit dem Gegebenen abfinden, sondern nach etwas anderem streben.

Eine Düngemittelfabrik blockieren und gegen die industrielle Landwirtschaft protestieren - ist das nicht verrückt? Vermutlich gibt es Leute, die die hier zusammengekommenen Menschen für totale Spinner halten. Wenngleich dies abwertend, Distanz wahrend und von der Anlage her die damit Bezichtigten potentiell vernichtend gemeint ist, wird mit diesem Begriff auf ein handwerkliches Geschick abgestellt, das auch früher schon eine Vielzahl bildhafter Deutungen hervorgebracht hat. So wird den Spinnentieren als Netzbauer eine uralte Überlebensratio gegen die Natur zugesprochen, und im übertragenen Sinn macht ein Mensch, der spinnt, sich seine Gedanken und grübelt.

Ist das so verkehrt? Oder ist das nicht eher ein Hinweis darauf, daß die als Spinner verunglimpften Menschen ernst nehmen, was die Wissenschaft sagt? Denn so, wie in Deutschland und anderen Wohlstandsregionen der Welt Ressourcen vernichtet werden und die Erdatmosphäre als ungeregeltes Endlager von Treibhausgasemissionen belastet wird, würde bis Ende dieses Jahrhunderts die globale Durchschnittstemperatur um vier bis sechs Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen. Übersetzt auf die damit einhergehenden veränderten Natursysteme und unmittelbaren Überlebensvoraussetzungen, bedeutete eine solche Erwärmung das Ende der Hochzivilisation, wie wir sie kennen (Hans-Joachim Schellnhuber [2]), den Eintritt in eine Heißzeit (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung [3]) oder auch die Massenvernichtung der Menschheit, von der vielleicht nur zehn Prozent überleben werden (Kevin Anderson [4]) .

Da könnte man ins Grübeln kommen, und vielleicht fängt es damit an zu spinnen, also auf einem Aktionscamp anläßlich eines klimaschädenverursachenden Unternehmens die Fäden in die Hand zu nehmen, anstatt sich von den Nutznießern der herrschenden Verhältnisse vor den Karren spannen zu lassen. Ein Düngemittelhersteller wie Yara ist in ein globalisiertes landwirtschaftliches Produktionssystem eingebunden, bei dem viel zu viel Stickstoffdünger verwendet wird, so daß die Böden ihre Fruchtbarkeit verlieren, weniger Wasser speichern können, für das geflügelte wie ungeflügelte Bodenleben nicht mehr nutzbar sind und Flüsse, Seen und Küstengewässer mit Nitrat belasten, um nur an einige der flächendeckenden Schadensfolgen durch die Kunstdüngerideologie zu erinnern.

Yara ist Teil eines Agrosystems, für dessen Erhalt Wälder im Amazonasbecken gerodet werden, damit dort Soja wachsen kann, von dem ein großer Teil in den Futtertrögen der europäischen Schweineindustrie landet; eines Agrosystems, bei dem Menschen schutzlos den Pestizidfahnen von Sprühflugzeugen ausgeliefert sind; eines Agrosystems, dessen beteiligte Unternehmen allen Lippenbekenntnissen zum Trotz nicht das primäre Ziel haben, den Hunger in der Welt zu beenden, sondern möglichst hohe Profite zu erwirtschaften, während in der Logik der kapitalistischen Ökonomie die Hungerleider nicht einmal als "Nachfragefaktor" angesehen werden, da sie zwar einen ungeheuer großen Bedarf an Nahrung, aber nicht die Mittel haben, sie zu kaufen. Eine andere Welt zu erspinnen wäre nicht die schlechteste Option.


Fußnoten:

[1] https://freethesoil.org/de/startseite/

[2] http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0050.html

[3] https://www.pnas.org/content/115/33/8252

[4] tinyurl.com/y2yuf6zt

20. September 2019


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