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KLIMA/576: Grönlands Eisriesen geht es an die Substanz (SB)


"Die Veränderungen sind erschütternd"

Klimawandel live - die größten Gletscher der Erde schmelzen


Die außergewöhnlich hohen Temperaturen im November haben vor allem Süddeutschland schönstes T-Shirt-Wetter beschert. Möglicherweise wird dieser Monat sogar weltweit der wärmste November seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen. Es könnte sein, daß in diesem Jahr erstmals die "1-Grad-Marke" überschritten wird, meldete die britische Wetterbehörde Met Office. [1]

Das heißt, daß die bodennahe Lufttemperatur im weltweiten Mittel um ein Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau (zwischen 1850 und 1900) liegen wird. Obgleich begünstigt durch das in diesem Jahr besonders ausgeprägte Klimaphänomen El Niño, reihen sich die hohen Temperaturen in den langfristigen Trend zur globalen Erwärmung ein.

Dieser sorgt andernorts für Vorgänge, die bedenklich sind, da sie die Voraussetzungen für den Genuß des warmen Wetters in der Zukunft zunichte machen könnten. In der Westantarktis, den Hochgebirgen und auf Grönland schmelzen die Gletscher, so daß der weltweite Meeresspiegel steigt. In den letzten rund hundert Jahren um 20 Zentimeter, inzwischen pro Jahr um 3,2 Millimeter. Das klingt zunächst nach wenig, man hätte einige Jahrhunderte Zeit, bevor man sich in Norddeutschland Sorgen vor nassen Füßen machen müßte. Doch es gibt Hinweise darauf, daß es mit dem Erwerb eines Paars Gummistiefel als Anpassungsmaßnahme an den Klimawandel nicht getan sein und der Meeresspiegel einen exponentiellen Anstieg erfahren wird, ausgelöst durch die physikalische Ausdehnung des Wassers als Folge der Erwärmung der Meere sowie durch das Abschmelzen von Eis- und Schneeflächen.

Eine wärmere Atmosphäre vermag zwar mehr Wasser aufzunehmen, bevor sie gesättigt ist und das Wasser als Niederschlag wieder zur Erde fällt - ein Effekt, der zum gegenwärtigen Zuwachs der Eis- und Schneemassen der Antarktis beiträgt -, aber der weitaus größere Teil wird ins Meer fließen, wenn sich die Erde weiter aufheizt.

Jetzt berichtet eine Forschergruppe im Wissenschaftsjournal "Science", daß der grönländische Gletscher namens Zachariae Isstrøm seine Fließgeschwindigkeit in den letzten drei Jahren auf nunmehr 125 Meter jährlich verdreifacht und seine Schmelzrate verdoppelt hat. Der Gletscher wird an seiner Oberseite durch die wärmere Luft und von unten durch warme Meeresströmungen in die Zange genommen und hat sich seit 2012 von einer Schwelle im Gesteinsuntergrund, die ihn bis dato gebremst hat, gelöst. So verliert der Gletscher zur Zeit fünf Milliarden Tonnen Eis pro Jahr.

"Die Form und Dynamik des Zachariae Isstrøm haben sich in den letzten paar Jahren dramatisch verändert", sagt Forschungsleiter Jeremie Mouginot vom Department of Earth System Science der University of California in Irvine. "Inzwischen bricht der Gletscher auseinander und kalbt große Massen von Eisbergen ins Meer, was in den nächsten Jahrzehnten zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt." [2]

Der Zachariae Isstrøm ist kein Leichtgewicht unter den grönländischen Gletschern. Er führt rund 700 Kilometer ins Landesinnere und nimmt eine Fläche von 91.780 Quadratkilometern ein. Würde sein Eis vollständig abtauen, könnte das 46 Zentimeter zum globalen Meeresspiegelanstieg beitragen. Das ist ein sehr abstrakter Wert, denn wenn sich dieser Eisriese zurückzieht, werden auch seine Geschwister nicht säumig sein und ebenfalls verschwinden. Der benachbarte Gletscher, Nioghalvfjerdsfjorden, verliert bereits an Masse. Beide zusammen nehmen zwölf Prozent des grönländischen Eisschilds ein. Falls sie auftauen, wäre die Meeresoberfläche fast einen Meter höher. Um sechs bis sieben Meter gar könnte der Meeresspiegel global steigen, wenn Grönland seinem Namen alle Ehre machte und flächendeckend zu grünem Land würde.

Die Eisriesen im Süden und Westen der Insel wie der Jacobshavn haben bereits vor einigen Jahren ihren Rückzug angetreten, das heißt, sie haben ihre Fließgeschwindigkeit deutlich erhöht und zugleich ihre Gletscherzunge ausgedünnt oder sogar von der Küste ins Landesinnere verlegt. Daß dieser Trend nun auch einen lange Zeit als stabil geltenden, massereichen Gletscher im kalten Nordosten der Insel erfaßt hat, bereitet den Forschern ernsthafte Sorgen.

"Vor nicht allzu langer Zeit fragten wir uns, welche Auswirkungen es auf den Meeresspiegel hätte, wenn die größten Gletscher der Erde in den Polarregionen anfingen, sich zurückzuziehen", sagt Eric Rignot, Professor für Erdsystemforschung an der University of California in Irvine und vom Jet Propulsion Laboratory der NASA. Er forscht seit langem zu den Gletschern Grönlands, auch speziell zum Zachariae Isstrøm, und konnte deshalb dessen Entwicklung in den letzten Jahren sehr genau verfolgen. "Jetzt müssen wir uns das nicht mehr fragen, wir können das Ergebnis der Klimaerwärmung auf die polaren Gletscher in den nächsten Jahrzehnten direkt beobachten. Die Veränderungen sind atemberaubend und betreffen nun alle vier Ecken Grönlands."

Kaum weniger atemberaubend ist eine kürzlich veröffentlichte Studie, an der auch Rignot beteiligt war, derzufolge die Schmelzrate der grönländischen und antarktischen Gletscher weithin unterschätzt worden sei und der Meeresspiegel noch im Laufe dieses Jahrhunderts um mehrere Meter steigen könnte. Damit sei der Vorgang natürlich nicht abgeschlossen, sondern er würde sich im nächsten Jahrhundert fortsetzen. Das sogenannte Zwei-Grad-Ziel sei ungenügend, um diese Gletscherschmelze aufzuhalten. Deshalb sollte die Klimawissenschaft den Politikern nicht die Botschaft vermitteln, es gebe eine "sichere Leitplanke", ab wann keine weiteren Treibhausgase emittiert werden dürften, sondern sie sollte deutlich machen, daß die CO2-Emissionen aus fossilen Energieträgern "so schnell wie möglich" reduziert werden. [3]

Ende dieses Monats kommen Vertreter der internationalen Gemeinschaft in Paris zum Klimagipfel in Paris (COP 21) zusammen, um ein Klimaschutzabkommen auszuhandeln, bei dem jene von Rignot und anderen als ungenügend bezeichnete Leitplanke angestrebt wird. Die bislang von den einzelnen Nationen vorgelegten Intended Nationally Determined Contributions (INDCs), also die beabsichtigten Klimaschutzmaßnahmen, reichen jedoch nicht einmal dafür. Mit ihnen würde die globale Durchschnittstemperatur nur auf 2,7 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzt.

Der Alarmruf von Rignot und anderen trifft keineswegs auf einen breiten Konsens in der Klimaforschung. Es besteht sogar die Vorstellung, die Menschheit könne es sich leisten, das Zwei-Grad-Ziel zunächst zu überschreiten, wenn nur sichergestellt werde, daß beispielsweise durch das aktive Entziehen, Verflüssigen und Lagern von Kohlendioxid noch im Laufe dieses Jahrhunderts die globale Durchschnittstemperatur wieder auf jenes Ziel gesenkt wird. Eine offensichtlich irrige Annahme, bei der nicht berücksichtigt wird, daß sich Grönlands Eisriesen schon längst auf den Weg gemacht haben, von der Erdoberfläche zu verschwinden.


Fußnoten:

[1] http://www.metoffice.gov.uk/news/release/archive/2015/one-degree

[2] http://climate.nasa.gov/news/2366/

[3] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/15/20059/2015/acpd-15-20059-2015.pdf

13. November 2015


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