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KLIMA/539: Arktis im Umbruch - wird das militärische Konfliktpotential überschätzt? (SB)


Meereisschwund in der Arktis liegt 2014 im Trend

Spannungen zwischen NATO-Staaten und Rußland erfordern Neubewertung der Sicherheitslage im Hohen Norden



Die Rekordschmelze des arktischen Meereises 2012 wird in diesem Jahr voraussichtlich nicht erreicht werden, doch zeigen die jüngsten Daten des National Snow and Ice Data Center der USA, daß sich das sommerliche Meereis deutlich stärker zurückzieht als im Durchschnitt der letzten 30 Jahre. [1]

Somit werden weiterhin die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß Konstellationen wie im August vor zwei Jahren häufiger eintreten. Damals war ein warmes Tiefdruckgebiet über die Arktis hinweggezogen, so daß die von den Experten bereits prognostizierte Rekordschmelze für den auslaufenden Nordsommer im Endspurt nochmals deutlich überboten wurde. Kräftige Winde ließen die Eisdecke aufbrechen und trieben die Schollen auseinander, wodurch sich die Schmelze stark beschleunigte. Dazu konnte es aber nur deshalb kommen, weil das Eis an vielen Stellen nicht mehr so dick ist wie in der Vergangenheit. Der Anteil an einjährigem, dünnen Eis von weniger als ein Meter Mächtigkeit nimmt laufend zu, was die Eisbedeckung um so anfälliger für äußere Einflüsse macht. Damit ist nicht allein der Wind gemeint, der das Eis von oben her bewegt.

Im Mai dieses Jahres berichteten die Forscher Jim Thomson und W. Erick Rogers in den "Geophysical Research Letters" [2] über ihre Meßergebnisse zur Entstehung und Höhe von Wellen im Nordpolarmeer. Bis zu fünf Meter hoch hätten sich diese aufgetürmt.

Für den Atlantik sind fünf Meter hohe Wellen keine Besonderheit, was das für die bisher eher unbewegten arktischen Gewässer bedeutet, bedarf näherer Untersuchungen. In diesem Jahr haben die Forscher weitere Meßstationen aufgebaut, um ein genaueres Bild zu erhalten.

Im Winter verhindert die Eisbedeckung vollständig, daß Wellen entstehen, im Sommer hingegen kann der Wind das Wasser um so mehr in Bewegung setzen, je kleiner die Eisfläche. Wenn aber die mechanische Kraft, die auf die sommerliche Resteisfläche von oben und unten einwirkt, energiereicher wird, wird das den Eisverlust beschleunigen - so wie im Sommer 2012. Außerdem werden stärkere Erosionskräfte an den Küsten angreifen, zumal durch die allgemeine Erwärmung der Permafrostboden auftaut.

Das Rekordminimum 2012 war so ungewöhnlich, daß die Universität Hamburg zu einer außerordentlichen Pressekonferenz mit einer Reihe führender deutscher Klima- und Meereisexperten lud. [3] Zugleich befand sich zu der Zeit das deutsche Forschungsschiff "Polarstern" in der Arktis mit der Schwerpunktaufgabe, biologische Untersuchungen durchzuführen, änderte aber die Fahrtroute, "weil einfach da, wo wir hin wollten, überhaupt kein Eis mehr war", wie die Forschungsleiterin Prof. Antje Boetius kürzlich dem Schattenblick berichtete.[4]

Generell setzt die Meereisschmelze in der Arktis sieben Tage früher ein als vor 30, 40 Jahren, schreibt das National Snow and Ice Data Center. Der Höhepunkt des diesjährigen Eisabbaus rund um den Nordpol wird erst Mitte September erreicht, wobei es als unwahrscheinlich gilt, daß das Rekordminimum von 2012 noch unterboten wird. Dennoch weist die Meereisschmelze auch in diesem Jahr einige Besonderheiten auf. Abgesehen davon, daß sie, wie erwähnt, deutlich stärker ausfällt als in den letzten 30 Jahren, fand laut Satellitenmessungen der Eisverlust in der zweiten Junihälfte so rapide statt wie nur ein einziges Mal zuvor seit Beginn der Beobachtung aus dem All. Am 15. Juli schließlich betrug die Meereisausdehnung 440.000 km² und war damit genauso groß wie im Jahr 2012 um die gleiche Jahreszeit. Allerdings sprachen die Bedingungen damals, als die zentralen Regionen der Arktis keine geschlossene Eisdecke aufwiesen, eher als heute dafür, daß ein Rekordminimum eintreten würde.

Für die Wirtschaft sind die Meldungen aus der Wissenschaft zur Erwärmung der Arktis und zum Rückgang des Meereises positiv. Die Handelsschiffahrt wird aufgrund der erheblich kürzeren Strecken über den Hohen Norden von Europa nach Asien fahren und enorme Treibstoffmengen einsparen. Um fast 25 Prozent verkürzt sich die Strecke. Die japanische Reederei Mitsui O.S.L Lines will sich dies zunutze machen und ab 2018 als erstes Schiffahrtsunternehmen der Welt Transporte von und nach Europa über den Arktischen Ozean führen. Dazu wurde in Südkorea der Bau von drei Eisbrechern in Auftrag gegeben. [5]

Für die Extraktionsindustrie werden Lagerstätten attraktiv, die zuvor unerreichbar waren bzw. deren Erschließung sich aufgrund der unwirtlichen Verhältnisse ökonomisch nicht gelohnt hat. Inzwischen hat aber die Erdölförderung im Norden Alaskas und im russischen Teil des Nordpolarmeeres eingesetzt. Und Jean Charest, Premierminister der kanadischen Provinz Québec, will in den Hohen Breiten ein Gebiet von der Größe Westeuropas wirtschaftlich erschließen und dort Rohstoffabbau betreiben. [6] "Plan Nord" heißt das Vorhaben, für das Investitionen in Höhe von 55 Milliarden Euro bereitgestellt werden sollen. Abgesehen von Gold, Nickel, Kupfer und Diamanten locken Metalle aus der Familie der Seltenen Erden, für die bislang China eine globale Monopolstellung innehat.

Seltene Erden werden unter anderem in Handys, Computern, Flachbildschirmen, Sonnenkollektoren, Windrädern und nicht zuletzt elektronisch gesteuerten Rüstungsgütern gebraucht. Neu gebaut oder vergrößert werden laut "Plan Nord" unter anderem Wasserkraftwerke, Straßen und ein Flughafen. In dem Inuit-Dorf Whapmagoostui-Kuujjuarapik, das 1400 Einwohner hat, soll ein Tiefseehafen entstehen. Laut der "Wirtschaftswoche" ist es der Provinzregierung gelungen, von Anfang an Umweltschutzgruppen in die Planung einzubeziehen und sie von dem Konzept zu überzeugen. Auch wenn man nicht alle Entscheidungen des jetzt verabschiedeten Plans teile, sei es positiv, von Beginn an umfassend konsultiert worden zu sein, gibt die Wirtschaftszeitung die Einschätzung von Greenpeace Kanada wieder.

Die natürlichen Umwälzungen und gesellschaftlichen Veränderungen der Arktis werfen nicht nur ökologische und ökonomische, sondern auch militärische Fragen auf. "Klimawandel und Sicherheit in der Arktis nach 2014 - Hat die friedliche und kooperative internationale Arktispolitik eine langfristige Zukunft?" fragt Golo M. Bartsch in seiner aktuellen Studie für das Dezernat Zukunftsanalyse im Planungsamt der Bundeswehr. [7]

Mit Blick auf die Kämpfe in der Ukraine folgt der Major der Reserve der in den NATO-Staaten üblichen Lesart, nach der allein Rußland als Aggressor auftritt, wenn er schreibt: "Die Ukraine-Krise des Jahres 2014 hat in der öffentlichen Diskussion Anlass gegeben, die außenpolitischen Ambitionen Russlands gegenüber dem Westen zu hinterfragen. In der Arktis ist jedoch ein Wechsel Moskaus hin zu einer aggressiv-unilateralistischen Politik und Aufkündigung der bisherigen Kooperation mit den westlichen Anrainern kaum zu erwarten. Ein auch zukünftig kooperativer Umgang der Anrainer miteinander stellt trotz des aktuell angespannten russisch-westlichen Verhältnisses weiterhin das wahrscheinlichste Zukunftsszenario dar."

Da in dieser Einschätzung die eigentlich unübersehbare Einkreisungsstrategie der NATO-Staaten gegenüber Rußland ausgeblendet wird, sollte auch die aus dieser verengten Sicht hervorgegangene Analyse mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden. Nicht nur das Klima der Arktis befindet sich im Umbruch, gleiches gilt für die Staatenwelt. Was in den letzten Jahren hinsichtlich der Spannungen im Hohen Norden gegolten hat, nämlich die Einschätzung, daß in den Medien oftmals übertrieben und gleichzeitig relativ wenig über die Kooperation aller Arktisanrainerstaaten im Arktischen Rat berichtet wurde, gilt möglicherweise morgen schon nicht mehr. Auch wenn fast der gesamte Meeresboden des Nordpolarmeeres, mit Ausnahme eines kleinen Bereichs am Nordpol, hoheitsrechtlich eindeutig zugeordnet ist, kann dieses Recht im Falle eines Konflikts seine Bedeutung verlieren.

Ein Beispiel für einen potentiellen Konfliktstoff: Je länger die Nordostpassage im Sommer eisfrei ist, desto häufiger ist dort mit einer Präsenz von NATO-Kriegsschiffen zu rechnen, was angesichts der gegenwärtigen Spannungen von russischer Seite als Provokation angesehen werden dürfte. Als Georgien und Rußland im Jahr 2008 Krieg gegeneinander führten und die USA Kriegsschiffe ins Schwarze Meer entsandten, verstärkte das die Spannungen nicht nur wegen der Nähe dieser Schiffe zur Krim, wo Rußland einen geostrategisch wichtigen Flottenstützpunkt unterhält, sondern auch wegen der relativen Nähe (1300 Kilometer) zu Moskau. Noch näher (1000 Kilometer) an der russischen Hauptstadt liegt das Weiße Meer als Ausbuchtung der arktischen Barentssee in die russische Landmasse. Seegestützte Marschflugkörper legen diese Strecke in etwas über einer Stunde zurück. Das ist aus russischer Sicht keine lange Vorwarnzeit.

Die Arktis hat sich in den letzten 100 Jahren um durchschnittlich 1,8 Grad erwärmt, in einigen Gebieten sogar um drei bis vier Grad. In keiner anderen Großregion der Erde zeigt sich der Klimawandel so deutlich wie im Hohen Norden. US-Militärs, die Bundeswehr und auch die EU-Kommission sehen den Klimawandel als Konfliktverstärker an. Es ist damit zu rechnen, daß das sowohl für die vorhandenen als auch die in Zukunft eröffneten Konfliktfelder in der rohstoffreichen Arktis gilt.


Fußnoten:

[1] http://nsidc.org/arcticseaicenews/

[2] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/2014GL059983/pdf

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0028.html

[4] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0108.html

[5] http://de.euronews.com/2014/07/09/dank-klimawandel-japaner-wollen-fracht-durch-arktis-schippern/

[6] http://www.wiwo.de/politik/ausland/rohstoffe-arktische-jagd-nach-gold-und-diamanten-seite-all/5305240-all.html

[7] file:///home/linux24/temp/PlgABw_Future%20Topic_Arktis.pdf

1. August 2014