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KLIMA/423: Antarktis - Forscher von Veränderungen vollkommen überrascht (SB)


Meeresspiegelanstieg um 1,4 Meter bis 2100 prognostiziert

Die Eisverhältnisse in der Antarktis verändern sich schneller, als sich Wissenschaftler vorstellen konnten


Eine Woche vor Beginn der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen brachten rund 100 Antarktisforscher aus acht Nationen den 555 Seiten umfassenden Bericht "Antarctic Climate Change and the Environment" (ACCE) über das Klima der Antarktis und seine Auswirkungen auf die Umwelt heraus. [1] Demnach verändert sich der südliche Kontinent schneller als bislang angenommen. War bislang die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf die raschen Veränderungen in der Arktis ausgerichtet, so lassen sich inzwischen ähnliche Entwicklungen auch in der Antarktis beobachten.

Die polaren Regionen nehmen innerhalb des gesamten Erdsystems eine besondere Rolle ein, da die Veränderungen, die in ihnen stattfinden, den gesamten Planeten unmittelbar betreffen. Schmelzen die Schnee- und Eisflächen dieser Regionen aufgrund höherer Temperaturen ab, wird weniger Sonneneinstrahlung von der Erdoberfläche reflektiert, was zur weiteren Erwärmung, dies wiederum zu einer stärkeren Schmelze, usw. beiträgt. Sich selbst verstärkende Prozesse entfalten mit die höchste Dynamik innerhalb der Erdsysteme.

Das Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) hat berechnet, daß der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um 1,4 Meter steigen und der Westantarktische Eisschild dazu mehrere Dutzend Zentimeter beitragen wird. Die Gletscher der Westantarktis schrumpfen merklich, zugleich steigt die Durchschnittstemperatur an. Mit 6,5 Grad Celsius seit 1950 hat die Temperaturerhöhung in der Westantarktis die fünffache Geschwindigkeit der globalen Durchschnittstemperatur angenommen.

Mit ihrer Prognose zum Meeresspiegelanstieg liegt die Forschergruppe deutlich über der, die der Weltklimarat (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change) 2007 veröffentlicht hat. Die Forscher gaben damals eine Spanne von 18 bis 59 Zentimeter an, die das Meer bis zum Jahr 2100 steigen würde. Allerdings hatten sie angenommen, daß die Antarktis bis dahin relativ stabil bleibt. Das war einer der Gründe, warum sie Kritik einstecken mußten.

Paul Mayewski, einer von neun Herausgebern des SCAR-Berichts und Direktor des Climate Change Institute an der University of Maine, erläuterte in der Zeitung "Antarctic Sun" [2], daß Informationen und Forschungsdaten zur Antarktis in den letzten drei bis vier Jahren förmlich explodiert sind. Das dürfte nicht zuletzt mit dem Internationalen Polarjahr zusammenhängen, das 2007/2008 begangen und für das der Antarktisbericht erstellt wurde.

Robert Bindschadler, ebenfalls als Herausgeber des Reports genannt und Chefwissenschaftler am Hydrospheric and Biospheric Sciences Laboratory des NASA´s Goddard Space Flight Center, sagte [2], daß sich das Eis der Antarktis verändert: "Offen gesagt, der Eisschild verändert sich schneller, als wir jemals erwartet haben, daß sich Eisschilde noch zu unseren Lebzeiten verändern werden."

Die Forscher erklärten, daß die zirkumantarktische Meereisfläche zwar seit 1980 aufgrund kräftigerer Winde um zehn Prozent zugenommen hat, aber es sei zu erwarten, daß sie bis Ende des Jahrhunderts wieder um 30 Prozent abnimmt. Das habe mit den Windverhältnissen zu tun, die sich veränderten. Als treibende Kraft hinter dieser und weiterer Entwicklungen wird von den Forschern das Ozonloch angesehen, das aufgrund von Umweltschutzmaßnahmen im Laufe der nächsten Jahrzehnte schrumpfen könnte und dann vermutlich eine Abschwächung der Winde auslösen wird. Das hätte den Effekt, daß warme Luftmassen, die bislang durch westliche Winde weitgehend von einer südlichen Richtung abgelenkt wurden - zentrale Bereiche der Antarktis sind deshalb leicht kühler geworden -, verstärkt zur Antarktis vordringen werden. Das würde die Schmelzprozesse erheblich beschleunigen, nehmen die Forscher an, die sich erstens an der Beobachtung einer ähnlichen Entwicklung in der Arktis orientieren, die der Antarktis voranschreitet, und zweitens an Proxydaten, die aus Eisbohrkernen gewonnen wurden und auf plötzliche Wärmeeinbrüche schließen lassen.

Abgesehen vom Ozonloch weisen die Forscher auch der Meereisbedeckung eine besondere Bedeutung bei. Es wächst in der Winterzeit und verdoppelt dadurch die Gesamteisfläche der Antarktis. Messungen zufolge hat sich die "Lebensspanne" von Meereis in den letzten 50 Jahren um drei Monate pro Jahr verkürzt. Ganzjähriges Eis ist sogar nahezu vollständig verschwunden. Die Forscher räumen durchaus ein, daß ihre Prognosen mit Unsicherheiten behaftet sind. Dennoch gehen sie davon aus, daß sich die Antarktis insgesamt bis Ende des Jahrhunderts um drei Grad erwärmen wird.

Welche Folgen hätte das? Tuvalu, die Malediven, weite Teile Bangladeschs, die Mündungsgebiete von großen Flüssen wie dem Nil, Stadtgebiete Hamburgs und New Yorks werden dann partiell oder vollständig überflutet. Menschlicher Lebensraum geht verloren, so daß umfangreiche Migrationen unvermeidlich sind. Den Klimaflüchtlingen, sofern sie von anderen Staaten aufgenommen werden, droht zu allem Überfluß ein Verlust ihrer kulturellen Identität, da die Aufnahmeländer in der Regel wert auf "Integration" legen. Zu erwarten wäre eine administrativ angeordnete Zerstreuung beispielsweise der Tuvalesen, falls sie von Neuseeland oder Australien aufgenommen würden.

All die Regierungsvertreter, die zum Scheitern der Klimakonferenz von Kopenhagen beigetragen haben, indem sie nicht alle Möglichkeiten ausschöpften, verbindliche Klimaschutzmaßnahmen zu vereinbaren, wissen um die folgenschweren Auswirkungen ihres Standpunkts. Der umfangreiche Antarktis-Bericht und viele weitere Studien, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, belegen zweifelsfrei, daß große klimatische Umwälzungen stattfinden, welche die Lebensverhältnisse von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen existentiell gefährden werden.

Wer sich konkreter Beschlüsse zur Senkung der Treibhausgasemissionen sowie umfangreicher Unterstützung für die ärmeren Länder verweigert, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, er betreibe eugenische Bevölkerungspolitik. Es wäre an Zynismus kaum zu überbieten, sollte das Millenniumsziel zur Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 entgegen den Erwartungen doch noch erreicht werden, aber nur deshalb, weil nicht der Hunger, sondern die Hungernden beseitigt werden.


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Anmerkungen:

[1] "Antarctic Climate and the Environment", Scientific Committee on Antarctic Research, 25. November 2009, ISBN 978-0-948277-22-1.

[2] "State of the Antarctic. New SCAR report shows continent undergoing major changes", Antarctic Sun, 18. Dezember 2009
http://antarcticsun.usap.gov/science/contenthandler.cfm?id=1991

23. Dezember 2009