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ATOM/386: Das havarierte Akw Fukushima und die gesellschaftlichen Folgen (SB)


"Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand"

- Theodor Fontane


Der Tsunami von Japan, der zum Super-GAU in wahrscheinlich mehreren der sechs Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima I geführt hat, hat die Krisenanfälligkeit der vorherrschenden Wirtschaftsweise erbarmungslos zutage gefördert. Allen unausgesprochenen und ausgesprochenen Wünschen zum Trotz tritt keine höhere Instanz auf den Plan, die das nukleare Unheil von den Menschen abwendet. Radioaktive Partikel aus Japan finden sich inzwischen in den USA, auf Island, in Deutschland und vielen anderen Ländern. Soweit zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt das Wort Kontrolle in den Mund genommen werden kann, ist damit zu rechnen, daß es nicht Monate, sondern Jahre dauern wird, die Anlagen unter Kontrolle zu bringen und die Ausbreitung weiterer Strahlenpartikel aus den sechs Kernkraftwerksblöcken von Fukushima I und - wie am Mittwoch zu erfahren - auch aus dem in der Nähe liegenden Akw Fukushima II, das über vier Meiler verfügt, deren Zustand offenbar nicht stabil ist, zu verhindern.

Man hat es also mit einer Katastrophe zu tun, von der die ganze Menschheit betroffen ist. Erst jetzt, nach drei Wochen voller Übersprungshandlungen, Verschleierungen und Kopf-in-den-Sand-Steckens erwägt die japanische Regierung, ob sie vielleicht den für das Akw Fukushima zuständigen Energiekonzern Tepco verstaatlicht. Wie lange will die Regierung noch warten, bis sie das Zepter in die Hand nimmt, sich mit internationalen Experten aufs engste berät und beginnt, den Schaden, so weit es überhaupt in Menschenhand liegt, so gering wie möglich zu halten?

Tepco selbst hat sich als völlig unfähig erwiesen, die Havarie zu handhaben. Abgesehen davon, daß es leichtfertig und rücksichtslos ist, Atomkraftwerke an die ostjapanische Küste zu bauen, wo doch bekannt ist, daß es dort zu Seebeben mit anschließender Tsunami-Bildung kommt, und abgesehen davon, daß das Akw nicht einmal ausreichend gegen einen durchaus in dieser Höhe zu erwartenden Tsunami gesichert war, werden den von totaler Verstrahlung bedrohten Arbeitern, die versuchen, die Kühlsysteme der Meiler wieder in Betrieb zu nehmen, nicht einmal Gummistiefel und Ganzkörper-Schutzanzüge zur Verfügung gestellt. Mehr noch, wie die japanische Nachrichtenagentur Kyodo am Mittwoch meldete, bekommen die Arbeiter nur karge Mahlzeiten und eineinhalb Liter Wasser pro Tag. Dabei ist es für verstrahlte Personen besonders wichtig, daß sie viel trinken. Das erhöht ihre Chance, daß wenigstens einige der inkorporierten Radionukleotide wieder ausgeschieden werden.

Und solch ein Konzern trägt bislang die Alleinverantwortung für die Behebung der möglicherweise größten technologischen Katastrophe der Menschheitsgeschichte?! Ein profitorientiertes Unternehmen, von dem keineswegs immer eindeutig zu erkennen ist, daß seine Katastrophenschutzmaßnahmen dem Wohl der Arbeiter und Anwohner und nicht dem Wohl der Aktieninhaber dienen?

Die Regierung hat eine 20 bis 30 Kilometer breite Evakuierungszone um Fukushima I gezogen. Die Umweltorganisation Greenpeace fordert aufgrund eigener radiologischer Messungen eine Erweiterung der Zone auf mindestens 40 Kilometer. Die US-Regierung empfiehlt die Einhaltung einer 80 Kilometer durchmessenden Schutzzone. Wer Japan verlassen will, muß sich inzwischen auf Radioaktivität prüfen lassen. Auch Waren, die das Land der aufgehenden Sonne exportiert, werden auf mögliche Verstrahlungen getestet. Wie groß wird die Evakuierungszone in sechs Wochen, einem halben Jahr oder zehn Jahren sein?

Das sprengt keineswegs das Vorstellungsvermögen, sondern dürfte einem Atomunfall- oder Seuchen-Szenario ähneln, das schon in manchen Kino- oder Fernsehfilmen gezeigt wurde: Erkrankte Menschen werden gewaltsam daran gehindert, die für sie gefährliche Lebensumwelt zu verlassen. Es wäre den Japanern zu wünschen, daß es nicht soweit kommt, aber sollten Tokio und andere Städte verstrahlt werden, würden die Katastrophenschutzpläne anderer Staaten greifen. Das bedeutet im günstigsten Fall, daß die verstrahlten Personen außerhalb des Landes in Lagern untergebracht werden, im schlimmsten Fall, daß man sie nicht von der Insel läßt.

Die sogenannte zivile Nutzung des Kernzerfalls ist ein Abfallprodukt des Strebens imperialistisch agierender Staaten nach der Atombombe, da sie das größte Erpressungspotential gegen andere Staaten birgt. Die Behauptung der Akw-Lobbyisten aus den fünfziger und auch noch sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, Atomkraftwerke würden soviel Energie bereitstellen, daß sie nahezu kostenlos abgegeben werden könnte, wurde nicht nur von den Tatsachen widerlegt, sondern war von Anfang an ein Täuschungsmanöver. Denn in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem soll Energie nicht kostenlos abgegeben werden, das widerspräche fundamental der Verwertungslogik, nach der auf Anpassung gegründete Leistung belohnt und umgekehrt Unangepaßtheit bestraft wird.

Japan mit seinen über fünfzig Atomreaktoren gehört heute zur weltweiten Spitzengruppe der Wirtschaftsmächte. Mit dem Atomstrom wurde eine hohe Produktivität erreicht, deren Einbruch aufgrund des Erdbebens, Tsunamis und der nuklearen Havarie weltweite Erschütterungen auslöst. Bislang ist nicht erkennbar, daß die politischen Entscheidungsträger den Super-GAU von Fukushima als eine Katastrophe der grundlegenden Produktionsweise betrachten. Die ist dadurch gekennzeichnet, daß in einem Meiler unter hohem Aufwand Brandprozesse in Gang gesetzt werden, die zusätzlich andernorts, sowohl in der vor- wie auch nachgelagerten Produktionskette, enorme Zerstörungen anrichten und einen Verschleiß erzeugen - nicht zuletzt an menschlicher Physis im Rahmen fremdbestimmter Arbeitsverhältnisse wie zum Beispiel dem Uranbergbau. Kurzum, es werden Verluste erzeugt, die nützlich für die vorherrschenden Interessen sind und der Mehrheit der Menschen zum Schaden gereichen. Wobei das Problem mit der Atomkraft über die Systemfrage hinausgeht, denn auch in staatssozialistischen Systemen wurden Atomanlagen gebaut, die prompt havariert sind (Mayak, Tschernobyl).

Wie könnte es nach Fukushima weitergehen? So schnell wie möglich alle Akws abschalten und den Kernbrennstoff sichern, wobei klar ist, daß sich die Experten und politischen Entscheidungsträger über das, was möglich ist und was nicht, streiten dürften. Des weiteren müßten alle bislang externalisierten Kosten und Risiken den Akw-Betreibern in irgendeiner Form in Rechnung gestellt werden, ohne daß dies auf den Strompreis für die Kunden durchschlägt. Atomwaffen und auf ewig strahlende uranhaltige Munition, wie sie jetzt zynischerweise "zum Schutz" der libyschen Bevölkerung verschossen wird, sind vollständig zu ächten. Die globalen Produktionsverhältnisse müßten so gestaltet werden, daß technologischer Fortschritt nicht darüber definiert wird, daß immer neue Bedürfnisse geweckt werden, für deren Befriedigung dann nach Rendite strebende Unternehmen zuständig sind, für deren Betrieb wiederum vermeintliche Sachzwänge wie der Bau von Atomkraftwerken in die Welt gesetzt werden.

30. März 2011