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ATOM/377: Castor-Blockade 2008 in der Südpfalz - Verfahren am Amtsgericht Kandel (SB)


Vor zwei Jahren wurde ein Castor-Transport für über zwölf Stunden aufgehalten

Staatsanwalt erhebt unvermittelt neuen Strafvorwurf gegen sechs Angeklagte


Noch laufen die Proteste und Demonstrationen gegen den Castortransport, der am heutigen Montag am Verladebahnhof Dannenberg angekommen ist. Per Tieflader sollen die elf aus La Hague stammenden Castoren mit 123 Tonnen Atommüll die letzten Kilometer auf dem Straßenweg ins dafür ausgesuchte und vorbereitete Endlager Gorleben - pardon - ins sogenannte Zwischenlager Gorleben transportiert werden. Die Polizei hatte zwischenzeitlich bis zu 1000 Personen vorübergehend in Gewahrsam genommen und wieder freigelassen. Noch läßt sich nicht absehen, gegen wie viele Personen, die durch ihre Aktionen zu einer Verzögerung des Atommülltransports beigetragen haben, Anklage erhoben wird.

Unterdessen ist vor dem Amtsgericht Kandel in der Südpfalz noch ein Verfahren gegen sechs Personen anhängig, die vor genau zwei Jahren, am 8. November 2008, einen Castor-Transport von Gorleben nach La Hague nahe der deutsch-französischen Grenze für zwölf Stunden aufgehalten hatten. Zwei der Anklagten hatten sich an einen bereits im Gleisbett befindlichen Betonklotz angekettet; ihnen wird laut Strafbefehl "Nötigung" (§ 240 StGB) zur Last gelegt. Vier weitere Personen müssen sich wegen "Beihilfe zur Nötigung" verantworten.

Der erste Verhandlungstag fand am 6. Oktober, der zweite am 26. Oktober 2010 statt. Nach Angaben der Atomkraftgegner und -gegnerinnen [1] hatte die Staatsanwältin am zweiten Verhandlungstag "Verstärkung" in Person des Oberstaatsanwalts Ströber mitgebracht. Dieser habe mit einem neuen Vorwurf, dem der "Störung öffentlicher Betriebe" nach § 316b StGB aufgewartet. Die Angeklagten haben daraufhin eine Vertagung der Verhandlung beantragt und durchgesetzt, damit sie sich mit dem neuen Vorwurf auseinandersetzen können. Der nächste Verhandlungstermin ist auf den 12. November 2010 angesetzt.

Mit dem § 316b StGB fährt die Staatsanwaltschaft nicht nur ein schwereres juristisches Geschütz auf, sondern sie verwendet auch, um in diesem Bild zu bleiben, schärfere Munition. Erinnert sei an den Fall "Süschendorf", zu dem im April/Mai 2002 vor dem Amtsgericht Lüneburg verhandelt wurde. Im März des Vorjahres hatten sich vier Personen auf einer Castor-Transportstrecke angekettet und waren wegen "Störung öffentlicher Betriebe" verurteilt worden. Wohingegen die Anklage "Nötigung" fallengelassen wurde, da es für die bloße Anwesenheit im Gleis "schlicht an der Gewalt" gefehlt habe, so die Urteilsbegründung [2]. Das Strafmaß fiel mit einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen à 15,- Euro relativ milde aus, denn "Störung öffentlicher Betriebe" kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden; in besonders schweren Fällen sogar mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. "Nötigung" hingegen kann "nur" mit bis zu drei Jahren, in besonders schweren Fällen mit sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden.

Ob die Angeklagten in dem laufenden Verfahren am Amtsgericht Kandel ein Strafmaß ähnlich denen im "Süschendorf-Fall" zu erwarten haben, hängt anscheinend auch von der gesellschaftlichen Stimmung ab und wie sich das Gericht dazu stellt. Das veranschaulicht ein längeres Zitat aus dem Süschendorf-Urteil [3]:

"Die Angeklagten haben ihre Tatbeteiligung eingeräumt. Sie haben auch nachvollziehbar ihre politische Motivation für die Tat dargelegt. Zwar entlastet grundsätzlich auch ein politischer Hintergrund den Straftäter nicht. Auf der anderen Seite muß jedoch berücksichtigt werden, ob ein Angeklagter die Tat aus reinem Mutwillen und eigensüchtigen Motiven begeht, oder ob er mit altruistischer Motivation aufgrund einer persönlichen Entwicklung und nach eingehender Auseinandersetzung mit einer Problematik handelt. Letzteres trifft auf die vier Angeklagten zu. Auch wenn daneben im Vordergrund ihrer Aktion das Erlangen von medialer Aufmerksamkeit stand, macht dies die Angeklagten nicht zu eigennützig handelnden Personen. Vielmehr sollte auch diese Aufmerksamkeit nur in den Dienst der von den Angeklagten mit Überzeugung vertretenden Ablehnung der Atomkraft stehen."

Inwiefern ein anderes Gericht in einer anderen Zeit den politischen Hintergrund von Angeklagten, die Castor-Transporte behindern, bei seiner Urteilsfindung berücksichtigt, hängt von vielen Faktoren ab - wie gesagt, unter anderem von der gesellschaftlichen Stimmung, mit der der Widerstand gegen Atommülltransporte aufgenommen wird. In den regierungsnahen Mainstreammedien wird er mal kriminalisiert, mal lächerlich gemacht, aber viel zu selten als ernsthaftes politisches Anliegen diskutiert.

Viele Bundesbürgerinnen und -bürger lehnen Atomkraft ab, nicht zuletzt wegen der Verbindung zu Atomwaffen. Das bedeutet aber nicht, daß sie sich entschließen und ins Wendland fahren, um an Demonstrationen oder gewaltfreien Aktionen gegen die Castor-Transporte teilzunehmen. Da existiert eine von der allgemeinen Berichterstattung genährte Furcht, wie Gerhard Harder, Gorleben-Gegner der ersten Stunde, Anfang September am Rande der Energiekonferenz der Partei Die Linke in der Hamburger Fabrik in einem Interview mit dem Schattenblick erklärte [4]. Jetzt, da die schwarz-gelbe Bundesregierung den Energiekonsensvertrag mit den Akw-Betreibern aufgekündigt und Laufzeitverlängerungen beschlossen hat, besteht die Möglichkeit, daß die Repressionen gegen die Demonstrierenden zunehmen - so wie das Volumen an Atommüll aufgrund der politischen Entscheidung der Merkel-Regierung.

Daß die Staatsanwaltschaft im Kandel-Verfahren durch den nach zwei Jahren neu hinzugenommenen Strafvorwurf "Störung öffentlicher Betriebe" sozusagen aufmunitioniert hat, könnte dahingehend als Indiz gedeutet werden, daß sie unbedingt eine schärfere Verurteilung mit Abschreckungswirkung erzielen will.

Für die sechs Angeklagten, die sich vor dem Amtsgericht Kandel wegen ihres Engagements gegen Atomtransporte verantworten müssen, hat die Castor-Blockade ein langes Nachspiel. Die rege Unterstützung vor Ort durch zahlreiche Personen, welche die Eingangskontrolle am Gericht über sich ergehen ließen, sich nach dem Eintritt keineswegs mit der Rolle des stillen Publikums abfanden und sehr emotional auf das Verfahren reagierten, dürfte sich stärkend auf die Verfassung der Angeklagten ausgewirkt haben.

Die Konzernmedien wenden sich in der Regel von dem Thema Castor-Transporte ab, sobald die hochradioaktive Fracht abgeliefert wurde und keine sensationsheischenden Bilder mehr beispielsweise von voll armierten Polizisten, die Sitzblockaden auflösen, zu erwarten sind. Das Interesse erlahmt, obschon eigentlich genügend Raum vorhanden wäre, sich mit dem Hintergrund von Aktionsformen wie das lebensgefährliche Anketten an Bahngleisen zu befassen. Darüber erführe die Presse etwas mehr, wenn sie die Gerichtsverhandlungen verfolgte, die von den Angeklagten genutzt werden, um ihre politischen Ansichten zu Gehör zu bringen. Während die Mainstream-Presse das juristische Prozedere im Zusammenhang mit dem Vergewaltigungsvorwurf gegen einen bekannten Wettermoderator über Wochen akribisch verfolgt hat und über jeden Fortschritt und jede kleine Wendung des Verfahrens penibel der Öffentlichkeit Bericht erstattet, verlieren die Verhandlungen zu den Castor-Blockaden an Attraktivität und Nachrichtenmagazine wie stern.de schalten ihren "Castor-Liveticker" ab. Dann wird man nicht mehr lesen können: "Der Castortransport hat den Verladebahnhof in Dannenberg erreicht, die Behälter werden umgeladen. Sieben sind bereits von der Schiene auf einen Lkw gehoben. Verpassen Sie nichts - im Liveticker von stern.de - mehr ..." [5]

Mit Blick auf die möglicherweise bevorstehende Eskalation staatlicher Repression und zivilgesellschaftlichen Widerstands als Folge des Bruchs des Energiekonsensvertrags und des Beschlusses einer Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke dürften diejenigen, die sich vor Gericht wegen ihnen zur Last gelegter Straftaten im Rahmen des Widerstands gegen die Atompolitik verantworten müssen, über jede Unterstützung froh sein. Nicht wenige Aktivistinnen und Aktivisten der Anti-Akw-Bewegung befassen sich mit grundlegenden Fragen des persönlichen Konsums - auch hinsichtlich des Energiebedarfs -, des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des geopolitischen Aspekts einer auf permanente Ressourcenzufuhr beruhenden Atomwirtschaft und atomaren Bewaffnung einiger Staaten.


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Anmerkungen:

[1] Pressemitteilung: Gleis-Blockierer_innen rufen zu Castor-Protesten auf. Neuer Vorwurf im Betonblock-Prozess, bloxberg.blogsport.de, 26. Oktober 2010
http://tinyurl.com/PM-zweiter-Prozesstag

[2] Süschendorf-Prozess: "Äußerst geschickt agiert". Zitat aus: taz, 2002-05-23, von "uwe" (2002-06-02), Amberger BI (U.Wenisch). Aus dem Internet abgerufen am 8. November 2010
http://www.amberger-bi.de/020602f.htm

[3] Urteilsbegründung, Geschäfts-Nr.: 15/13 Ds 502 Js 10134/01 (133/01). Zitiert nach robinwood.de, aus dem Internet abgerufen am 8. November 2010
http://www.robinwood.de/german/prozess/urteil.htm

[4] Siehe: SCHATTENBLICK -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT:
INTERVIEW/046: Energiekonferenz - Gerhard Harder, Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg (SB)

[5] http://www.stern.de/politik/deutschland/castortransport-polizei-raeumt-gleise-wir-bleiben-friedlich-1621566.html

8. November 2010