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STANDPUNKT/909: Realpolitik vs. Ablenkungsmanöver - Warum wir uns mit den SDGs beschäftigen müssen (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2016

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Realpolitik vs. Ablenkungsmanöver
Warum wir uns mit den SDGs beschäftigen müssen

von Marie-Luise Abshagen


Im Januar 2017 wird es ein Jahr her sein, seit die 2030 Agenda mit ihren Zielen nachhaltiger Entwicklung (SDGs) in Kraft getreten sind. Nachdem die Staaten der Welt die SDGs im September 2015 auf einem großen Gipfel der Vereinten Nationen (UN) in New York verabschiedet hatten, sollen diese Ziele nun bis 2030 verwirklicht werden. Aber warum sollten wir uns eigentlich mit den SDGs beschäftigen? Läuten sie wirklich einen dringend nötigen Paradigmenwechsel ein? Oder sind sie lediglich ein Feigenblatt für ein "Weiter so" im bestehenden politisch-ökonomischen System?

Es gibt Stimmen, die den SDGs wenig abgewinnen können. Zweifel am Konzept der SDGs stammen zum einen aus der Debatte um die Millenniumentwicklungsziele (MDGs). Diese Entwicklungsziele, die von 2000 bis 2015 unter anderem die Halbierung der Armut zum Ziel hatten und die Entwicklungspolitik der Geber aus Europa und Nordamerika leiteten, werden insbesondere von Menschen aus Ländern des Globalen Südens als ineffektiv und von oben herab charakterisiert. Man habe weder mitreden dürfen, welche Schwerpunkte Entwicklungspolitik einnähme, noch hätten die MDGs eine weitreichende Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage in Entwicklungsländern erreicht. Die SDGs seien somit wenig mehr als eben eine Weiterführung derselben Ziellogik, welche weder die lokalen Bedürfnisse ausreichend in Betracht zöge noch die Politik des Globalen Nordens hinterfrage. Dafür spräche unter anderem, dass schon wenige Monate nach der Verabschiedung der SDGs in einem Vergleich ihrer Umsetzungserfolge die westeuropäischen Staaten anführten, offensichtlich ohne Berücksichtigung der Auswirkungen ihrer Politik auf andere Länder.(1)

Wieder andere, insbesondere im Globalen Norden, sehen in den SDGs ein viel zu schwaches Entwicklungsmodell, welches sich weitestgehend an der derzeitigen Politikrhetorik und -mentalität orientiere, ohne gleichzeitig wichtige transformative Fragen zu stellen. Hierzu gehöre die fehlende Überwindung des derzeitigen Wirtschafts- und Finanzsystems, das in den SDGs alleine schon durch SDG 8, "Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern", als bestätigt angesehen wird. KritikerInnen aus dieser Richtung merken an, dass sich zivilgesellschaftliche VertreterInnen in Prozessen engagierten, die weder weit genug gingen noch von den Regierungen wirklich ambitioniert vorangetrieben würden und dies somit zu einer extremen Bindung von Ressourcen ohne greifbare Wirkung führe.

Beide Kritikpunkte haben ihre Berechtigung und sollten insbesondere von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen, die sich vornehmlich mit der Umsetzung der SDGs befassen, dringend bedacht werden. Warum sollten wir uns dennoch für die Umsetzung der SDG engagieren?

Ziele für alle Staaten

Eine der großen Errungenschaften der SDGs ist, dass sie im Gegensatz zu den MDGs in allen Punkten für alle Staaten der Welt gelten. Konkret heißt dies, dass die Staaten des Globalen Nordens - z.B. Deutschland - in ihrer Innen- und Außenpolitik sowie ihrer Wirkung auf andere Länder in die Pflicht genommen werden. Die SDGs sind dabei nicht nur auf Initiative von Ländern des Globalen Südens - Kolumbien und Guatemala - entstanden, sondern intensiv von ihnen mitgeformt worden. Herausgekommen ist ein umfangreicher Zielkatalog, der verschiedene Aspekte unseres Zusammenlebens, unseres politischen Handels und unseres Umgangs mit Ressourcen definiert. Nicht nur können sich Staaten gegenseitig anhand eines gemeinsamen Politikmodells auf politische Stärken und Schwächen hinweisen. Auch haben zivilgesellschaftliche VertreterInnen ein politisches Werkzeug, mit dem sie Staaten auf ihre sozialen, ökologischen und ökonomischen Pflichten hinweisen, zur Rechenschaft ziehen und im Zweifelsfall auf internationaler Bühne skandalisieren können.

Keine Systemkritik, sondern Realpolitik

Die SDGs sind dabei natürlich nicht der große transformatorische Wurf, der mit unserem bestehenden System abrechnet. Die SDGs sind Realpolitik. Aber: Wenn sie wirklich umgesetzt werden, dann muss kein Mensch mehr in Armut leben, haben wir einen nachhaltigeren Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten eingeläutet und einen wichtigen Schritt hin zu einer friedlichen Welt gelenkt.

Es ist wichtig, alternative Gesellschaftmodelle inklusive Gemeinwohl- oder Postwachstumsökonomien zu diskutieren, die neue Visionen für die Zukunft generieren. Die Schwächen dieser Modelle liegen jedoch darin, dass sie noch wenig konkrete Schritte aufzeigen, wie diese neue Gesellschaft erreicht werden soll. Auch muss weiter diskutiert werden, mit welchen Mitteln man im Kampf gegen all jene Interessensgruppen, denen es im derzeitigen System sehr gut geht und die ihre Privilegien nicht einfach aufgeben werden, erfolgreich sein kann. All jene transformativen Ansätze, die schon konkret praktiziert werden, bleiben darüber hinaus oft in einer Nische, einem Ort oder einer Gruppe. Die Übertragung auf eine größere Dimension ist schwer, vor allem wenn es um die Kommunikation in den Kreisen der Noch-Nicht-Überzeugten geht.

Schwierigkeiten der Umsetzung werden deutlich

Gerade dieses Spannungsfeld zwischen der Vision der SDGs, die vielen nicht weit genug geht und andere für viel zu ambitioniert halten, zwischen einer Bereitschaft aller Staaten, die Ziele mitzutragen, und deren zum Teil total gegensätzlichen Politiken, beschreibt die Schwierigkeit der SDG-Umsetzung. Umso notwendiger ist es, dass zivilgesellschaftliche Organisationen die SDG-Umsetzung intensiv mitbegleiten. Denn einfach wird dies nicht. Schon jetzt zeichnen sich 3 große Schwierigkeiten ab.

Zum einen ist zu befürchten, dass den SDGs einfach jene Politiken zugeordnet werden, die sowieso schon existieren. Dies lässt sich beispielsweise in Teilen des Entwurfs der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie erkennen, die von der Bundesregierung als Umsetzungsstrategie für die SDGs ausgesucht und 2016 entsprechend überarbeitet wurde. Zudem zeigt sich, dass in den staatlichen Umsetzungsstrategien vor allem die Aspekte der SDGs herausgesucht werden, die sich besonders einfach verwirklichen lassen.(2)

Vor allem im zwischenstaatlichen Austausch sind die Debatten längst noch nicht in den tatsächlichen Politikfeldern der SDGs und konkreten Maßnahmen angekommen, sondern konzentriert sich der Diskurs vor allem auf strukturelle Rahmenbedingungen. Dazu gehört die Frage, welche institutionelle Anbindung die SDGs brauchen - z.B. welches Ministerium oder welche Strategie. So notwendig diese Grundlagen auch sind, führt diese Fokussierung dazu, dass anderthalb Jahre nach der Verabschiedung viel zu wenig über die konkreten Inhalte der SDGs gesprochen wird - geschweige denn mit der Umsetzung wirklich angefangen wurde.

Und auch in den Fällen, in denen sich mit den Inhalten der SDGs auseinandergesetzt wird, lässt sich beobachten, dass beim Herauspicken einzelner Ziele deren Interpretation von unterschiedlichen Interessensgruppen durchaus verschieden vorgenommen wird. Was ist beispielsweise davon zu halten, dass die Bergbauindustrie sich mit den SDGs identifiziert, dabei aber vor allem auf das Wachstums-SDG 8 schaut? Gerade die Querbezüge zu den SDGs, die Verbindung zwischen teilweise weichen Formulierungen in einzelnen Unterzielen mit konkreten Forderungen in anderen und die Betrachtung von nachhaltiger Entwicklung als Balance zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialem gehen dadurch verloren. Schwierige politische Auseinandersetzungen werden umgangen oder bewusst ignoriert und die Komplexität der SDGs ausgehebelt.

Die schwierigen Fragen stellen

Vor diesem Hintergrund ist es zentral, dass zivilgesellschaftliche AkteurInnen sich so konkret wie möglich mit den SDGs befassen. Dazu gehört auch, in den Text, in die Unterziele und die schwierigen Debatten zu gehen. Natürlich ist dies nicht einfach, die SDGs sind mit ihren 169 Unterzielen ein komplexes politisches Programm. Die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den SDGs kann deshalb nur gelingen, wenn wir sie mit den Themen in Verbindung setzen, die uns als Gesellschaft beschäftigen.

Wie kann beispielsweise Ressourceneffizienz in Konsum und Produktion Schritt für Schritt verbessert und die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung (SDG 8.4) angestrebt werden, wenn andererseits zunehmendes Interesse am Abbau von Rohstoffen in der Tiefsee besteht? Welches Rentensystem braucht es, um ein über dem nationalen Durchschnitt liegendes Einkommenswachstum der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung zu erreichen (SDG 10.1)? Wie kann die Versauerung der Ozeane auf ein Mindestmaß reduziert werden, wenn nicht alle Staaten gemeinsam effektiven Klimaschutz (14.3) betreiben wollen? Wie gehen wir mit Rechtspopulismus und zunehmendem Misstrauen in Demokratien um, wenn Entscheidungsfindung auf allen Ebenen bedarfsorientiert, inklusiv, partizipatorisch und repräsentativ (SDG 16.7) gestaltet werden soll?

Nur wenn wir die SDGs nutzen, um die kritischen und unbequemen Fragen zu stellen, können wir sicherstellen, dass sie keinem Selbstzweck dienen oder Staaten sich aus ihrer Verantwortung ziehen.


Autorin Marie-Luise Abshagen ist Referentin für nachhaltige Entwicklung beim Forum Umwelt und Entwicklung.


Anmerkungen:

(1) http://sdgindex.org/assets/files/sdg_index_and_dashboards_compact.pdf

(2) http://www.forumue.de/wp-content/uploads/2016/07/Kommentierung-Deutsche-Nachhaltigkeitsstrategie-Forum-Umwelt-und-Entwicklung-23-07-2016.pdf

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Quelle:
Rundbrief 4/2016, Seite 40 - 41
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2017

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