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INITIATIVE/344: Der Verein Jordsand - von den Wurzeln zur Vision (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2013

Der Verein Jordsand - von den Wurzeln zur Vision

Von Eckart Schrey



"Vogelfreistätten an den deutschen Küsten" zu schaffen, war der Grundgedanke, auf dem die Gründung des Verein Jordsand vor über 100 Jahren beruht. Der Schutz und die Entwicklung von neuem Lebensraum für unsere Seevögel angesichts einer sich immer schneller verändernden Wattenmeerlandschaft heutzutage wäre die Fortsetzung der Philosophie der Gründungsväter des Verein Jordsand und vielleicht eine Erfolg versprechende Chance zum Erhalt von Artenvielfalt und Lebensqualität an unserer Küste.

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Lässt man den Blick vom Lister Hafen im Norden der Insel Sylt über die weiten Wattflächen nach Osten in Richtung der dänischen Küste schweifen, so schimmert auf etwa halber Strecke eine helle Sandfläche in dem dunklen Grau. Jordsand - früher eine bewohnte und bewirtschaftete Hallig, heute eine Sandbank, etwa um die Jahrtausendwende endgültig untergegangen. Die kleine Insel gehörte bis 1920 zu Deutschland und war das erste Schutzgebiet des 1907 gegründeten Seevogelschutzvereins Jordsand. Zu dieser Zeit brüteten dort mehrere Hundert bis über Zweitausend Paare Brand-, Küsten- und Flussseeschwalben, in Einzelpaaren auch noch Raubseeschwalben. In den Lister Dünen und im Bereich des Ellenbogens im Norden der Insel Sylt waren die von Johann Friedrich Naumann zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschriebenen Vogelkolonien mit ihren eindrucksvollen Beständen von Silbermöwe, Eiderente und Raubseeschwalbe bereits weitestgehend verschwunden. Diese Tatsache und die daraus folgende Erkenntnis, dass der Niedergang bedrohter Seevogelarten ohne Schutzmaßnahmen nicht zu stoppen sein würde, war Auslöser für die Gründung des Verein Jordsand. Der Gründungsname lautete übrigens "Verein Jordsand zur Begründung von Vogelfreistätten an den deutschen Küsten" - ein geradezu modern klingender Ansatz zum Schutz bedrohter Arten und ihrer Lebensräume.

Norderoog - die Seeschwalbeninsel

Bereits zwei Jahre später im Jahr 1909 wurde die Hallig Norderoog das zweite Betreuungsgebiet des jungen Naturschutzvereins. Mit einer kurzen, aber sehr erfolgreichen Spendenaktion gelang es den wenigen Mitgliedern des Vereins, die damals etwa 18 ha große Hallig zu einem stolzen Preis zu erwerben. Erstmalig ging damit eine Hallig in den Besitz eines Seevogelschutzvereins über. Es ist bis heute die einzige geblieben. Von Beginn an wurde die Hallig hauptamtlich durch einen Vogelwärter betreut. Den mittlerweile legendären Jens Sörensen Wand kann man mit Fug und Recht als den ersten Ranger des Wattenmeeres bezeichnen, das heute als Nationalpark von vielen haupt- und ehrenamtlichen Nachfolgern geschützt wird.

Der Altmeister Johann Friedrich Naumann berichtet von "vielleicht einer Million" Brandseeschwalben, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Norderoog gebrütet haben sollen. Obwohl die Zahl vermutlich viel zu hoch gegriffen war, zeichnete sich die Hallig aber sicherlich durch eine in unserer Zeit schier unvorstellbare Brutvogeldichte aus. Bis heute ist sie durchgehend Brutheimat der Brandseeschwalben geblieben, über viele Jahre gab es hier die einzige Kolonie in Deutschland.

Die kleine Hallig Norderoog war aber genauso wie Jordsand dem unermüdlichen Angriff der Fluten ausgesetzt und verlor im Laufe der Jahrzehnte etwa die Hälfte ihrer Fläche. Der Verein Jordsand wollte diesem Landverlust nicht tatenlos zusehen, und es begann der Kampf um den Erhalt der Hallig. Mit Buschlahnungen und Matratzenpackungen aus Fichtenreisig wurde zunächst die am stärksten vom Abbruch bedrohte Westspitze der Hallig befestigt. Jeden Sommer nach der Brutzeit waren Freiwillige im Einsatz, um fern jeglicher Zivilisation die schwere Küstenschutzarbeit zu verrichten. Lebensmittel, Trinkwasser und Arbeitsmaterial mussten zu Fuß und per Schiebkarre durch den zähen Schlick befördert werden. Unterstützt durch die Küstenschutzbehörde wurden diese Arbeitseinsätze über Jahrzehnte von Vereinsmitgliedern und Jugendlichen geleistet. Und es gelang tatsächlich - der Kantenabbruch konnte gestoppt werden. Heute zieht sich ein dreifacher Lahnungsring um die Hallig, der allerdings nach wie vor durch die Einsätze von Freiwilligen unterhalten werden muss. Der Kampf um Norderoog im stetigen Einsatz draußen vor Ort ist so etwas wie der Markenkern des Verein Jordsand geworden.

Insgesamt betreut der Verein heute über zwanzig Schutzgebiete von Helgoland und den Küstengebieten Nordfrieslands über die schleswig-holsteinische Ostseeküste bis nach Vorpommern. Bedroht sind die Bestände unserer See- und Küstenvogelarten nach wie vor - trotz einer teilweisen Erholung bei manchen Arten. Sorgen bereiten vor allem die über viele Jahre andauernden schlechten Brutergebnisse bei unseren Küstenvögeln. Häufiges Hochwasser während der Brutzeit und der Mangel an schnabelgerechtem Futterfisch während der Periode der Kükenaufzucht sind oft ausschlaggebend, die genaue Palette der Ursachen ist nicht bekannt.

Sind dies bereits Hinweise auf Auswirkungen des Klimawandels? Der Meeresspiegel der Ozeane steigt immer schneller. Bis zu einem Meter und mehr könnte es nach den neuesten Schätzungen der Klimaschützer in den kommenden 100 Jahren werden. Was bedeutet das für unsere flache Küstenregion? Hält das durch Überschlickung hervorgerufene Höhenwachstum der Halligen und Vorländer Schritt mit dem steigenden Wasserspiegel? Bleibt uns das Wattenmeer überhaupt als Brut- und Nahrungsraum für unsere Seevögel erhalten oder grenzt die Nordsee in ferner Zukunft direkt an die Deichlinie?

Viele Küstenvögel brüten auch heute bereits hinter der Deichlinie in den sogenannten Naturschutzkögen an der Westküste Schleswig-Holsteins, vielfach sogar mit besserem Bruterfolg als in den tief liegenden Salzwiesen oder auf den flachen Sänden weiter draußen. Hier bleiben die Vögel vom Hochwasser verschont und haben mehr Nachwuchs, wenn es gelingt, den Einfluss von Prädatoren zurückzudrängen, und wenn ausreichend Nahrung verfügbar ist. Da sich die eingedeichten ehemaligen Wattflächen aber meistens sehr schnell zu süßwassergeprägten Lebensräumen entwickelt haben, hat sich auch das Artenspektrum entsprechend geändert. Seeschwalben, Eiderenten oder die Großmöwen finden hinter dem Deich in der Regel kaum noch die passenden Bruthabitate. Bislang gibt es hier nur vereinzelt tidebeeinflusste Salzwasserbiotope mit einem für das Wattenmeer typischeren Artenspektrum.

"Urlaubslandschaften" als Vogelschutz

Was könnte man tun? Der Sylter Wattforscher Karsten Reise hat dazu ein fantastisch anmutendes Szenario entwickelt. Ausgehend von der Tatsache, dass der Tourismus - ein wichtiges wirtschaftliches Standbein der Nordseeanrainer - ähnliche "Lebensraumansprüche" und wie die Küstenvögel eine Bindung an Dünen, Strand, Watt und Wasser besitzt, schlägt er die Entwicklung von neuen Urlaubs- und Naturerlebnisparadiesen hinter der aktuellen Deichlinie vor. Warum sollte dem Wattenmeer nicht wenigstens teilweise das ermöglicht werden, was es seit Jahrtausenden schon immer durfte, nämlich - verursacht durch die ansteigende Nordsee - dynamisch immer wieder neue amphibische Küstenlandschaften zu formen? Ist es wirklich so abwegig, die Deichlinie, die langfristig nur mit immer größerem Aufwand zu halten sein wird, an geeigneten Stellen zu öffnen, um neue Urlaubslandschaften und Vogellebensräume in der heute eher eintönig und langweilig wirkenden Marsch zu entwickeln? Vielleicht wird den kommenden Generationen aus wirtschaftlichen und küstenschutztechnischen Gründen gar nichts anderes übrig bleiben, als mit der Natur der Nordsee zu leben und sie nicht ständig in die vom Menschen gesetzten Schranken verweisen zu wollen.

Dr. Eckart Schrey ist Vorsitzender des Verein Jordsand zum Schutze der Seevögel und der Natur e.V. und ehemaliger Mitarbeiter der schleswig-holsteinischen Nationalparkverwaltung.


Literatur zum Thema:

Grave C, Neumann J 2007:
100 Jahre Seevogelschutz an Deutschen Küsten
Falke 54: 128-133.

Reise K 2011:
Das Wattenmeer: Wirklichkeiten und Visionen
In: Fischer L, Reise K (Hrsg.)
Küstenmentalität und Klimawandel
oekom, München: 167-179

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2013
60. Jahrgang, August 2013, S. 312-314
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2013