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FORSCHUNG/843: Kritische Kluft zwischen Naturschutzforschung und politischer Praxis (UFZ)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Pressemitteilung, 30. August 2012

Wissenschaftler fordern Politiker auf, sich der Maßstäbe im Naturschutz stärker bewusst zu werden

von Lyubomir Penev/Tilo Arnhold



Glasgow/Leipzig. Vielfalt ist ein zentrales Element aller Ebenen des Lebens, von einzelnen Genen bis zu ganzen Ökosystemen. Naturschutz muss daher auch auf der entsprechenden Ebene oder Skala angebunden werden. Maßstabsgerechtes Handeln stellt sich als ein kritisches neues Thema in der Naturschutzpraxis heraus. Darauf haben Wissenschaftler auf dem 3. Europäischen Naturschutzkongress (European Congress of Conservation Biology / ECCB) hingewiesen, der in Glasgow vom 28. bis 31. August 2012 stattfindet.

"Maßstabsgerechte Forschung" stellt sich daher als ein neues, interdisziplinäres Feld heraus, auf dem Forscher aus Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bestehende Konzepte und Werkzeuge analysieren und entweder umgestalten oder völlig neu entwickeln, um sie besser an die Maßstäbe, in denen diese verwendet werden, anzupassen. Politische Entscheidungsträger müssen ihrerseits dafür sorgen, dass die ihre Entscheidungen die ökologische Probleme auf den entsprechenden administrativen und räumlichen Skalen lösen.

Die Wissenschaftler von SCALES, einem großen integrierten Forschungsprojekt im 7. Rahmenprogramms (FP7) der Europäischen Union, haben bei ihren Analysen eine Reihe von Unstimmigkeiten aufgedeckt, die sich häufig zwischen den Maßstäben ergeben, in denen biologische Phänomene und Prozesse auftreten und wirken, und den Maßstäben, in denen Ökologen arbeiten, um die biologische Vielfalt zu erforschen oder den Maßstäben auf denen die Umsetzung von praktischer Maßnahmen zum Schutz von Arten, Lebensgemeinschaften oder Ökosystemen erfolgt. Dies betrifft vor allem die Politik und die Verwaltung in Fragen der Gestaltung von Natura 2000, Grüner Infrastruktur und der Überwachung der biologischen Vielfalt.

Diese Bedenken und neue Erkenntnisse wurden auf einem SCALES-Symposium während des 3. Europäischen Naturschutzkongresses (ECCB) in Glasgow vom 28. bis 31. August 2012 diskutiert. "Es ist lange bekannt, dass Maßstabsfragen eine wichtige Rolle in der ökologischen Forschung spielen. In den letzten Jahren wird jedoch zunehmend klar, dass Maßstabsbewusstsein auch entscheidend ist bei der Gestaltung und Durchführung der Naturschutzpraxis. Naturschutz in einer sich rasch verändernden Welt erfordert systematische und dynamische Ansätze, um die Zeit von Forschungsergebnissen in die Umsetzung der Politik zu verkürzen", eröffnete Dr. Klaus Henle vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig und Koordinator des SCALES-Projektes die Diskussion.

Prof. William Kunin von der Universität Leeds (Großbritannien) fügte hinzu: "Die Politik sollte sich nicht nur auf den Schutz der Artenvielfalt in einem Gebiet zu konzentrieren (von Wissenschaftlern "alpha-Diversität" genannt), sondern auch auf Veränderungen in der Artenzusammensetzung von einem Lebensraum zu anderen (von Wissenschaftlern "beta-Diversität" genannt). Der Aspekt der beta-Diversität, also der Schutz von gebietstypischen Lebensgemeinschaften statt nur einer möglichst hohen Anzahl von Arten einerseits oder sogar der Beschränkung auf die gezielte Erhaltung einzelner Arten andererseits, sollte als ein zusätzliches Ziel aufgenommen werden und könnte die Wirksamkeit von Naturschutzmaßnahmen verbessern."

Foto: © André Künzelmann/UFZ (Lizenz CC BY 3.0: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/)

Feuchtwiese bei Leipzig. Viele natürliche Lebensräume mit wichtigen ökologischen Funktionen sind nur noch auf kleine Areale beschränkt, wie beispielsweise die Feuchtwiese bei Leipzig. Deshalb schlägt Dr. Guy Pe'er vom UFZ vor, dass in der Politik und in Planungswerkzeugen Verbindungen zwischen natürlichen Lebensräumen effektiver berücksichtigt werden, damit möglichst viele Arten sich an den Klimawandel anpassen und mit dem sich verändernden Klima wandern können.
Foto: © André Künzelmann/UFZ (Lizenz CC BY 3.0: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/)

Dr. Henle zeigte, dass das Problem von Veränderungen auch zeitkritisch ist: "Zum Beispiel gibt es deutliche Unterschiede in den Bereichen, die als schützenswert eingestuft wurden, abhängig davon, in welchem Jahr die Daten erhoben wurden. Daher werden selbst intelligente Programme zur Auswahl von geschützten Bereichen scheitern, wenn sie nicht die Veränderungen der Artenverteilung und -zusammensetzung zwischen den Jahren berücksichtigen."

Dr Guy Pe'er vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) schlägt vor, dass "Verbindungen zwischen den verbliebenen kleinen Arealen der natürlichen Lebensräume effektiver in der Politik und in Planungswerkzeugen berücksichtigt werden sollten, wenn wir es Arten ermöglichen wollen, den Klimawandel zu überleben. Wenn die natürlichen Lebensräume so zerstückelt bleiben wie bisher, dann werden viele Arten einfach nicht in der Lage sein, mit dem sich verändernden Klima zu wandern." Viele Wissenschaftler sind sich des Problems bewusst, aber meist stehen die Verbindungen zwischen den Lebensräumen nicht im Mittelpunkt der politischen Entscheidungsträger und Planer auf größeren Skalen. Neue individuenbasierte Simulationsmodelle von Guy Pe'er und Greta Bocedi sind Werkzeuge, um diese Lücke zu schließen und Fehler beim Wechsel von lokalen Studien zu den großen Skalen von Bedrohungen zu vermeiden.

Dr. Szabolcs Lengyel und sein Team von der University of Debrecen (Ungarn) präsentierte einen Überblick über die Literatur, die untersucht, wie bestimmte Strategien für bestimmte Maßstäbe geeignet sind. Obwohl sie ein allgemein wachsendes Bewusstsein für Maßstabsfragen im Naturschutz gefunden haben, gibt es immer noch deutliche Lücken. Zum Beispiel basieren das Management oder die Wiederherstellung von Lebensräumen selten auf gründlichen Planungen und es besteht ein Mangel an Naturschutzplanung, die auf Ökosystem-Dienstleistungen abzielt. Die Ergebnisse der Studie fordern Naturschützer und politische Entscheidungsträger auf, maßstabsgerechte Ansätze zu entwickeln - vergleichbar mit Zellbiologen, die auch unterschiedliche Vergrößerungsmaßstäbe bei ihren Mikroskopen verwenden, je nachdem, was sie untersuchen wollen.

Foto: © Chris van Swaay, source Nature Conservation (Lizenz CC BY 3.0: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/)

Quendel-Ameisenbläuling (Phengaris arion). Die Raupen des Quendel-Ameisenbläulings durchlaufen einen Teil ihrer Entwicklung im Nest von Ameisen. Er kommt vor allem im Süden Deutschlands vor und ist streng geschützt.
Foto: © Chris van Swaay, source Nature Conservation (Lizenz CC BY 3.0: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/)

"Die größte Kluft zwischen Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern ist vielleicht der Geschwindigkeitsunterschied. Wir müssen schneller arbeiten und die Ergebnisse der Praxis zur Verfügung stellen. Die wissenschaftlichen Arbeiten werden ihr wichtigstes Zielpublikum nicht erreichen, so lange die Zeit bis zur Veröffentlichung zu groß und die Sprache zu technisch sind und die Ergebnisse nur in Fachzeitschriften wenigen Empfängern zu Verfügung stehen. Stattdessen müssen wir viel schneller kommunizieren sowie unsere Daten und Erkenntnisse viel offener bereitstellen", schloss Dr. Henle, der auch Chefredakteur von "Nature Conservation", einer im Internet allgemein zugänglichen Zeitschrift, ist.

Dr. Ljubomir Penev von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften kündigte zusammen mit Dr. Klaus Henle die Einführung der Zeitschrift "Nature Conservation" an als ein Mittel, die Kluft zwischen Naturschutzforschung und -praxis mit innovativen Veröffentlichungs- und Verbreitungstechnologien zu überbrücken. Die Zeitschrift ermutigt Wissenschaftler, nicht nur Artikel zu biologischen Themen einzureichen, sondern auch zu ethischen, sozialen, sozio-ökonomischen, rechtlichen und politischen Themen im Zusammenhang mit dem Management und der Nutzung von Biodiversität und Ökosystemen.

http://www.ufz.de/index.php?de=30775

EU-Forschungsprojekt SCALES:
http://www.scales-project.net/
SCALES (2009-2014) steht für "Sicherung der Erhaltung der biologischen Vielfalt über administrative Ebenen und räumliche, zeitliche und ökologische Skalen hinaus" und ist ein europäisches Forschungsprojekt. Finanziert durch das 7. EU-Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung (RP7) sucht SCALES nach Möglichkeiten, um Fragen des Maßstabs besser in Politik, Entscheidungsfindung und Management der biologischen Vielfalt in der EU zu integrieren.

SCALES Policy-Brief 2 und 3:
http://www.scales-project.net/img/uplf/SCALES_Policy_Brief_2.pdf
http://www.scales-project.net/img/uplf/SCALES_Policy_Brief_3.pdf

Nature Conservation - a new dimension in Open Access publishing bridging science and application:
http://www.pensoft.net/journals/natureconservation/article/3081/abstract/

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Quelle:
UFZ-Pressemitteilung 2012/37de, 30.08.2012
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tilo Arnhold
Permoserstraße 15, 04318 Leipzig
Telefon: (0341) 235-2278, Telefax: (0341) 235-2649
E-Mail: presse@ufz.de
Internet: www.ufz.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2012