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GEFAHR/021: Brandsatz Fukushima - der Entsorgungslimbus ... (SB)


Viele kleine Asse ...

Zwischenlager mit Dekontaminationsmaterial in der Provinz Fukushima drohen ihrerseits zur Quelle von radioaktiven Kontaminationen zu werden

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Nach der Zerstörung des Akw Fukushima Daiichi am 11. März 2011, zunächst durch ein Erdbeben, dann einen Tsunami, entstanden radioaktive Wolken, die sich als Fallout auf Land und Leute legten. Zum Glück für die Bevölkerung drehte der Wind und kam schließlich vorwiegend aus westlicher Richtung. Dadurch wurden die radioaktiven Partikel hinaus auf den Pazifischen Ozean getragen. Der hat ein so enormes Volumen, daß die Radioaktivität extrem verdünnt wurde.

Ähnliches gilt für die 300 bis 400 Tonnen an Grund- und Löschwasser, die Tag für Tag unterhalb des zerrütteten Akw-Komplexes entlangfließen, sich dort mit Radionukliden aufladen und durch den Meeresboden in den Pazifik dringen. Auch diese Strahlenteilchen werden aufgrund der starken, küstennahen Strömung rasch verteilt, aber sie ist damit nicht aus der Welt. Indes versuchen die Akw-Betreibergesellschaft Tepco und die japanische Regierung den Eindruck der Harmlosigkeit dieser permanenten Kontaminationsquellen zu erwecken.

Auch wenn die Verstrahlung der Landfläche noch viel schlimmer hätte kommen können, steht Japan nun vor der unlösbaren Aufgabe der Dekontamination. Manche Befürworter der Kernenergie erklären, daß die Zerstörungen durch Erdbeben und Tsunami ungleich größer ausgefallen waren als durch die Havarie des Atomkraftwerks. Dieser Behauptung muß entgegengehalten werden, daß die Schäden durch Erdbeben und Tsunami voraussichtlich in ein, zwei Jahrzehnten behoben sind, die radioaktive Strahlung bis dahin jedoch nur partiell abgeklungen ist. So wurden durch den Dreifach-GAU im Akw Fukushima-Daiichi auch große Mengen des langlebigen Radionuklids Cäsium-137 (Halbwertszeit 30 Jahre) freigesetzt.

"Die Folgen von Fukushima werden noch Jahrhunderte andauern", sagt Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte der Umweltorganisation Greenpeace, laut der Website scinexx.de. "Hunderttausende Menschen sind betroffen, weite Regionen an der Ostküste Japans bleiben radioaktiv belastet." [1]

Ein Großteil der waldreichen Fläche der Provinz Fukushima, in der - abgesehen vom Pazifik - am meisten radioaktiver Fallout eingetragen wurde, kann gar nicht dekontaminiert werden und wird auch noch in über 100 Jahren eine permanente Strahlengefahr darstellen. Darüber hinaus werden die Kosten zur Beseitigung der Verstrahlung mit der Zeit nicht sinken, sondern von jährlich derzeit rund 700 Mio. Euro auf mehrere Milliarden Euro zunehmen, wie der japanische Industrieminister Hiroshige Seko am Dienstag mitteilte. [2]


Mit Maschendraht und Planen 'gesicherte' Plastiksäcke an einem leicht geneigten Hang - Foto: © Ricardo Herrgott (GLOBAL 2000), freigegeben als CC BY-ND 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/] via Flickr

Vollständiger Abschluß des Dekontaminationsmaterials von der Umwelt zweifelhaft.
Temporäres Lager in der Provinz Fukushima, 14. Dezember 2012
Foto: © Ricardo Herrgott (GLOBAL 2000), freigegeben als CC BY-ND 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/] via Flickr

Vor diesem Hintergrund werden erneut Probleme mit den etwa ein Kubikmeter großen Plastiksäcken gemeldet, in denen das bei den Dekontaminationsarbeiten anfallende radioaktive Material (Erde, Blätter, Hausrat, etc.) verbracht und auf zahlreichen kleinen und größeren, meist ländlichen Abstellflächen gesammelt wurde. Durch das hohe Gewicht der teils mehr als fünf Schichten übereinander lagernden, mit Erde gefüllten Säcke könnte mancherorts der zuvor leicht aufgeschüttete Lageruntergrund so stark zusammengedrückt worden sein, daß sich Senken gebildet haben, befürchtet eine Überprüfungskommission der Regierung. In den Senken hätte sich womöglich Wasser gesammelt, aber das sei von außen nicht nachweisbar, berichtete "Asahi Shimbun". [3] Zudem sind manche der verwendeten Säcke nicht wasserdicht. Die Lager wurden zwar teilweise nach oben und unten mit einer angeblich wasserdichten Folie bedeckt, so daß das Wasser in spezielle Auffangbecken am Rand der Lager fließen kann. Aber wenn sich dort kein Wasser sammelt, dann liegt es möglicherweise daran, daß es in die Mitte des Lagers geflossen ist.

Nach Überprüfung von 34 der insgesamt 106 temporären Lager, die zwischen 2012 und 2015 angelegt wurden, forderte die Kommission das Umweltministerium auf, zusätzliche Sicherungsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen. Das Ministerium wiederum erklärte, daß die Lager so gebaut wurden, daß von ihnen nichts nach außen dringen kann. Aber das scheint genauso Wunschdenken zu sein wie die Erklärung, daß Atomkraftwerke sicher sind. Niemand weiß, wie es in der Mitte und unterhalb der temporären Lager aussieht. Gut vorstellbar, daß erst nach deren Räumung Leckagen und Strahlenverseuchungen entdeckt werden. Ebenso gut vorstellbar, daß dann der besorgten Bevölkerung mitgeteilt wird, daß die ausgetretene Strahlenmenge sehr gering sei und man schon eine Lösung für das Problem, mit dem niemand gerechnet habe, parat hat. Die "Lösung" bestehe nun darin, den verseuchten Untergrund abzutragen und das Erdreich in Säcken zu lagern ...

So sicher, wie die temporären Lager, die eigentlich nur auf höchstens drei Jahre ausgelegt sind, bezeichnet werden, sind sie nicht. Die Säcke sind Wind und Wetter ausgesetzt. Bei Sturm und Überschwemmungen wurden schon Dutzende von ihnen aufgerissen und davongespült. Regen, Schnee und Frost sorgen auf jeweils eigene Weise für eine Beanspruchung des Materials und selbst Sonnenschein bildet eine Gefahr, denn in Folge von Verdunstungsprozessen können radioaktive Partikelströme aus dem Innern an die Oberfläche der wasserdurchlässigen oder eingerissenen Säcke wandern und dort vom Wind abgetragen werden.

Somit bleibt ungewiß, ob nach der Räumung der Lager auf der ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Fläche wieder Nahrungs- oder Futtermittel angebaut werden können, wie es die Regierung ursprünglich behauptet hat, oder ob sich die Befürchtung mancher Landbesitzer bewahrheitet, daß ein Problem das nächste gibt und sie ihr Land dauerhaft verloren haben.


Beim Interview mit dem Schattenblick am 27. Februar 2016 auf dem IPPNW-Kongreß in Berlin - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Toshihide Tsuda von der Okayama University ist Hauptautor einer breit diskutierten Studie, in der von einem 20- bis 50fachen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Heranwachsenden in der Provinz Fukushima berichtet wird.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Unterdessen wird unter Berufung auf einen Bericht in dem Lokalblatt "Hokkaido Shimbun" gemeldet, daß der Vorsitzende der behördlichen Schilddrüsen-Untersuchungskommission, Dr. Kazuo Shimizu, Professor Emeritus der Nippon Medical School, seinen Posten aufgegeben hat. Demnach soll er nicht mit der Aussage aus einem Interimsbericht, demzufolge es "unwahrscheinlich" ist, daß die vermehrten Fälle von Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima strahleninduziert sind, einverstanden sein. In einer ersten Untersuchungsrunde waren etwa 380.000 Personen, die zum Zeitpunkt des Beginns der Fukushima-Katastrophe 18 Jahre oder jünger waren und in der Präfektur Fukushima gewohnt haben, einer Schilddrüsenuntersuchung unterzogen worden. Von diesen wurden 174 Personen mit Schilddrüsenkrebs oder Verdacht auf Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Arzt sei eine solche Häufung von Vorfällen unnatürlich und könne nicht mit dem Satz, "es ist unwahrscheinlich, daß dies von Strahlung verursacht wurde", abgetan werden, sagt Shimizu inzwischen. [4]

Sein Unbehagen als Leiter der Untersuchungskommission hatte sich schon im Mai vergangenen Jahres gezeigt, als er von der bekannten, atomenergiekritischen Journalistin Mako Oshidori interviewt wurde. Auf die Frage, ob die vielen Schilddrüsenkrebsfälle wirklich nur auf die vermehrte Diagnose zurückzuführen seien, wie behauptet werde, erklärte der Experte, er befände sich nicht in der Position zu sagen, daß die Fälle nicht auf die vermehrte Diagnose zurückgehen. Auch wenn es ihm schwer falle, dürfe er als Leiter des Unterausschusses nicht die Ansichten der verschiedenen Seiten bewerten. Er könne seine Meinung deutlicher sagen, wenn er nicht zum Vorsitzenden jenes Unterausschusses gewählt worden wäre. [5]

Nichts sagen können ... auf solche und ähnliche Aussagen stößt unvermeidlich, wer mehr über die Folgen der Fukushima-Katastrophe in Erfahrung bringen will. Beispielsweise schilderte Mako Oshidori im Februar dieses Jahres am Rande eines Kongresses der deutschen Sektion der Organisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) im Gespräch mit dem Schattenblick von ihren Erfahrungen mit der Informationspolitik der Regierung. Wenn ein Journalist eine Frage stelle, die einen empfindlichen oder sensiblen Bereich berühre, werde sogar direkt zugegeben: "Diese Information ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt." Oftmals jedoch verheimlichten Regierung oder Tepco die Informationen gar nicht direkt, sondern brächten sie lediglich nicht an die Öffentlichkeit, lieferte Oshidori ein treffendes Beispiel für die Feinheiten der Informationspolitik ihres Landes.


Ken, mit Engelsflügeln aus Draht, und Mako, die Harmonium spielt und singt, bei ihrer Bühnenaufführung auf dem IPPNW-Kongreß am 26. Februar 2016 in der Urania, Berlin - Foto: © 2016 by Schattenblick

Auf Pressekonferenzen machen sich Mako Oshidori mit ihren hartnäckigen Nachfragen und Ken Oshidori, der dies mit dem Fotoapparat dokumentiert, manchmal unbeliebt - als Komikerpaar auf der Bühne sorgen sie dagegen regelmäßig für Lacher.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Wie wir an früherer Stelle berichteten, sollen die Säcke mit Dekontaminationsmaterial in ein zentrales Zwischenlager gebracht werden. Ein Teil des Strahlenmülls wird zuvor verbrannt; dessen radioaktive Asche kommt dann ebenfalls in das Lager. Die Pläne sehen vor, daß nach 30 Jahren ein Teil des Strahlenabfalls im Straßenbau verwendet wird. Bis dahin könnte in Japan an den vielen temporären Lagern im kleinen Maßstab das geschehen, was derzeit im deutschen Endlager Asse passiert: Grundwasser wird radioaktiv verseucht, und niemand kann den Prozeß aufhalten. Möglicherweise bilden die temporären Sammelstellen in der Provinz Fukushima jetzt schon viele kleine "Asse".

Man hat es bei der Atomenergie prinzipiell mit einem ständigen Wechsel von Aufkonzentration und Verteilung der Radioaktivität zu tun, angefangen von den ersten Schritten der Urangewinnung bis zu den letzten Schritten der Endlagerung. Kontrollverlust entlang der gesamten Produktionskette ist der Technologie der Kernspaltung immanent, und er ist gefährlich. Daß die japanische Regierung trotz der Erfahrung eines Dreifach-GAUs etwas anderes behauptet und auch vor einer Um-Interpretation der Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen zu Schilddrüsenkrebs nicht zurückschreckt, ist als Hinweis auf die Absicht zu verstehen, die Atomwirtschaft wieder zu stärken, gleichzeitig den Sicherheitsstaat auszubauen und sich den Zugang zu einer militärischen Nutzung der Kernspaltung zu bewahren.


Fußnoten:

[1] http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-19950-2016-03-11.html

[2] http://www.reuters.com/article/us-tepco-fukushima-idUSKCN12P1JR

[3] http://www.asahi.com/ajw/articles/AJ201610210044.html

[4] tinyurl.com/za6nadb

[5] http://fukushimavoice-eng2.blogspot.de/2015/08/oshidori-mako-interviews-experts.html

26. Oktober 2016


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