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INSEKTEN/265: Früher gab es mehr Schmetterlinge - Langzeitstudie zu Tagfaltern und Widderchen (naturmagazin)


naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 3/2016

Früher gab es mehr Schmetterlinge
Langzeitstudie untersucht Entwicklung von Tagfaltern und Widderchen

Von Jan Christian Habel, Andreas Segerer & Thomas Schmitt


Eine Langzeitstudie im Raum Regensburg hat den Artenverlust von Tagfaltern und Widderchen sowie die Veränderung der gesamten Schmetterlings-Artengemeinschaft über einen Zeitraum von rund zweihundert Jahren belegt. Besonders prekär: Viele der Untersuchungsflächen befinden sich in bereits seit langem ausgewiesenen Naturschutzgebieten.


Das Verschwinden von vielen Arten unterschiedlicher Artengruppen, seien es Vögel, Amphibien, Reptilien, Blütenpflanzen oder eben Schmetterlinge aus unserer Landschaft wird seit vielen Jahren beobachtet. Langzeitbeobachtungen bieten die einzige objektive Möglichkeit, diesen Rückgang quantitativ wie qualitativ zu belegen. Solche Datenreihen, die über viele Dekaden hinweg am gleichen Standort für die gleiche Artengruppe und möglichst mit ähnlicher Methode erhoben wurden, sind jedoch äußerst selten. Naturkundemuseen und alte Aufzeichnungen können hierfür wertvolle Grundlagen liefern, wie eine Studie an Tagfaltern und Widderchen aus der Region um Regensburg zeigt. Unlängst wurde sie von Habel und Kollegen im Fachblatt Conservation Biology publiziert.

Die Studie

In der "Regensburger Studie" wurde die Zusammensetzung der Schmetterlings-Artengemeinschaften über einen Zeitraum von fast zweihundert Jahren rekonstruiert - beginnend also noch vor der Industrialisierung und sämtlicher agrarischer Revolutionen bis hin zur Gegenwart. Ausgewertet wurden die seltenen Daten von Wissenschaftlern der Technischen Universität München, der Zoologischen Staatssammlung München, des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg und der Universität Torun in Polen. Geradezu ein Glücksfall war für sie, dass Regensburg außerdem über eine der ältesten Wetteraufzeichnungen weltweit verfügt. Die Wissenschaftler waren somit in der Lage, Veränderungen der Artengemeinschaften mit abiotischen Veränderungen - wie Niederschlagsmengen und Temperatur - in Verbindung zu setzen und zwischen globalen und regionalen Effekten - wie Klimaveränderung oder Stickstoffdeposition - und lokalen Effekten - wie Verbuschung und Habitatverinselung - zu differenzieren. Orte der Erfassung waren mehrere Magerrasenstandorte bei Regensburg, die bereits seit längerer Zeit als Naturschutzgebiet unter Schutz stehen und durch Pflegemaßnahmen erhalten werden.

Die Ergebnisse

Seit 1840 hat die Gesamtartenzahl der Tagfalter und Widderchen auf den untersuchten Flächen bis heute deutlich abgenommen: Von einst ca. 130 Arten wurden bei den jüngsten Erhebungen nur 71 wiedergefunden. Der Rückgang betrifft allerdings nicht alle Arten gleichermaßen: Solche mit geringen ökologischen Lebensraumansprüchen, wie beispielsweise Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs, Großes Ochsenauge, Schornsteinfeger oder Rotkolbige Braundickkopf, blieben über die gesamte Zeit hinweg stabil. Klare Verlierer sind hingegen die Habitatspezialisten, also diejenigen Arten, die sehr spezifische ökologische Ansprüche stellen. Geradezu dramatisch sind die Rückgänge bei typischen Trockenrasenarten - obwohl gerade diese in den untersuchten Habitaten eigentlich beste Überlebenschancen haben sollten. Doch die Hälfte der dort einst vorgekommenen Arten ist dort inzwischen verschwunden.

Wandel mit Folgen

Maßgeblich für das Verschwinden vieler Trockenrasenarten dürfte auf den Untersuchungsflächen der Rückgang der Schafbeweidung sein, die durch die aktuellen Naturschutzmaßnahmen nicht gleichwertig kompensiert wird. Als Folge des Bewirtschaftungswandels verschwanden schütter bewachsene Bereiche mit Rohbodenstellen und in der Folge die auf diese Habitate spezialisierten Arten, beispielsweise das Kleine Ochsenauge oder die Berghexe - sie wurden zuletzt in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts beobachtet. Ein späteres Zuwachsen der Kalkfelsen führte zum Verschwinden weiterer Arten, deren Raupen speziell in diesen Bereichen heranwachsen: beispielsweise der Rote Apollo, der nach den 1980er Jahren dort nicht mehr beobachtet wurde. Die weitere Verbuschung, Versaumung, Verkleinerung und Isolation der restlichen Kalkmagerrasen ließ weitere Arten erlöschen. Mit dem Regensburger Gelbling verschwand eine östliche Steppenart zunächst aus dem Untersuchungsgebiet und mittlerweile aus Deutschland. Als dringliches Warnsignal muss angesehen werden, dass im laufenden Jahrzehnt noch keine Nachweise des Krainer Widderchens vorliegen; diese Art tritt auf Kalkmagerrasen normalerweise in großen Dichten auf.

Die Kalkmagerrasen-Spezialisten, die bis heute im Gebiet überlebt haben, wie der Himmelblaue Bläuling oder der Silbergrüne Bläuling, kommen auf den verbliebenen kleineren Habitatflächen oft in großen Populationen vor, so dass sie bisher noch dem Aussterben entgangen sind.

Gefährdete Arten besonders bedroht

Noch dramatischer als bei den typischen Kalkmagerrasenarten vollzieht sich der Rückgang im Untersuchungsgebiet bei den Arten, die aktuell auf der Roten Liste stehen. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert sind von dieser Gruppe mittlerweile etwa 60 Prozent verschollen. Generell beobachten wir deshalb, dass der Anteil der Generalisten an der Gesamtartenzahl deutlich zunimmt, was durch den dramatischen Verlust an Spezialisten begründet ist. Die bisherigen Bemühungen, die Artenvielfalt in diesen hochgradig schutzwürdigen und schutzbedürftigen Habitaten zu erhalten, kann daher nur als gescheitert betrachtet werden. Das, was eigentlich geschützt werden sollte, ist weitgehend verschwunden. Das, was wir eigentlich überall sonst auch finden, hat überlebt.

Gründe des Artensterbens

Die Gründe für das Aussterben der Spezialisten sind vielfältig und nicht ausschließlich durch die Veränderungen in den Naturschutzgebieten zu begründen. So kamen zum Beispiel noch im 19. Jahrhundert zwei Moorarten - der Große Heufalter und der Hochmoorgelbling - gelegentlich auf den Trockenhängen vor. Dorthin flogen sie aus ihren eigentlichen Habitaten, den Moorbereichen in der Donauniederung, ein. Als diese Lebensräume jedoch vernichtet wurden, fielen die Arten auch als Gäste auf den Trockenhängen aus. Die in der Nachkriegszeit einsetzende radikale Umgestaltung vormals blütenreicher und mäßig feuchter Mähwiesen zu Intensivgrünland, Äckern oder Siedlungsraum führte für etliche Arten zu einem Wegfall wichtiger Habitate, ihre Vernetzung ging verloren. Kleinere Satellitenpopulationen, die früher auf den Kalkhängen existierten, konnten sich nicht mehr halten. Ein Beispiel hierfür dürfte der letztmals in den 1980er Jahren beobachtete Lila Goldfalter sein. Auch die im Verlauf des Klimawandels zunehmende Atlantisierung des Klimas dürfte für viele Arten von großer Bedeutung sein. Die zunehmend wärmer und nasser werdenden Winter können bewirken, dass den Raupen eine schützende Schneedecke fehlt, auch werden sie vermehrt von Pilzen befallen. Zudem können die Raupen in milden Wintern schon aktiv werden, bevor die Natur für sie Nahrung bereithält - sie verhungern. Beispiele dieser Klimaverlierer könnten der letztmals in den 1980er Jahren beobachtete Weißbindige Mohrenfalter oder der in diesem Jahrzehnt noch nicht nachgewiesene Dukatenfalter sein. Diese Arten ziehen sich inzwischen verstärkt in die höheren Mittelgebirgslagen zurück, wo es auch heute noch kältere und trockenere Winter gibt. Auch der Große Eisvogel, überall in Deutschland dramatisch im Rückzug, könnte zu den Klimaverlierern gehören. Für ihn führten aber auch Veränderungen in der Forstwirtschaft, hin zu dunklen Fichtenschlägen und weg von sonnigen Laubwäldern mit reichen Randstrukturen, zu erheblichen Lebensraumverlusten. Aber auch Stickstoffemissionen spielen eine große Rolle beim Artensterben: Sie bewirken ein zunehmendes Pflanzenwachstum und sorgen für eine verstärkte Verschattung einst sonniger Larvallebensräume. Auf diese Weise können sich die Lebensbedingen für etliche an Wärme und Trockenheit angepasste Arten - trotz generellem Temperaturanstieg - gerade für sie deutlich verschlechtern.

Neben diesen abiotischen Veränderungen (Klima, Stickstoff) spielen auch Landschaftsveränderungen eine große Rolle: Stochastische Prozesse, also das lokale Aussterben von Arten, können zur Ausdünnung von Arten in unseres Landschaft führen. Das betrifft besonders jene, die spezifische Lebensraumansprüche stellen und nur ein geringes Ausbreitungspotential haben, was auch die Analyse der Regensburger Datenreihe bestätigt. Diese Tatsache ist besonders alarmierend, da offensichtlich selbst auf geschützten Flächen (FFH Gebieten, Naturschutzgebieten) trotz Schutz und Management über lange Zeiträume hinweg seltene Arten nicht erhalten werden können. Somit müssen wir vor diesem Hintergrund die Effizienz des bestehenden Schutzgebietsnetzwerkes zumindest für Tagfalter kritisch hinterfragen.

Nicht alle verlieren

Neben zahlreichen Verlierern gibt es auch einige wenige Arten, die nach lokaler Auslöschung selbst nach einigen Dekaden plötzlich wieder Auftreten, wie der Kurzschwänzige Bläuling, der eventuell vom extrem warmen Sommer 2003 profitierte, oder der Wandergelbling, der vielleicht als Folge der Klimaerwärmung immer öfter und zahlreicher Deutschland im Frühjahr erreicht oder gelegentlich sogar vor Ort an klimatisch begünstigten Stellen den Winter übersteht. Auch der Malvendickkopf tritt nach einer "Pause" in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nun wieder auf; vielleicht sind die Temperaturen im Donautal schon so hoch, dass er auch dort, ähnlich wie in Südeuropa, zu einer eher generalistischen Art wird. Ebenfalls nach einer Periode ohne Nachweise im gleichen Zeitfenster wird der Mattscheckige Dickkopf wieder gefunden. Da diese Art oft in versaumten Bereichen angetroffen wird, könnte er sogar von dieser für die meisten anderen Arten nachteiligen Habitatentwicklung profitieren.

Gab es früher mehr Schmetterlinge?

Welche Arten auf einer Fläche vorkommen und wie diese sich dort entwickeln, ist von vielfältigen, eng miteinander verwoben und komplexen Faktoren abhängig. Doch gab es früher denn nun wirklich mehr Schmetterlinge als heute? Ja, dies bestätigt die Regensburger Zeitreihe; ähnliche Daten liegen aber auch für andere Regionen Deutschlands vor, beispielsweise für das Gebiet der Stadt Düsseldorf, den Raum Trier oder den Mainzer Sand. Meist werden potenzielle Trends in Artengemeinschaften aber - bedingt durch unsere eigene begrenzte Lebensdauer - über eher relativ kurze Zeiträume betrachtet. Somit bestimmt jeder Beobachter für seine Generation entsprechend eine "neue" Ausgangssituation, die von Generation zu Generation individuell und somit subjektiv verschoben wird. Langzeitbeobachtungen sind daher umso wichtiger, um Trends objektiv und unabhängig von subjektiver, generationsgebundener Wahrnehmung zu beschreiben und zu bewerten. Besonders hervorzuheben ist aber, dass sich das Verschwinden der untersuchten Arten stark beschleunigt zu haben scheint: Während des 19. Jahrhunderts verschwand von ihnen lediglich eine dauerhaft, bis Ende der 1970er Jahre waren es immerhin schon zwölf. Dann machte der Artenrückgang einen Sprung: In den sich anschließenden Dekaden erloschen jeweils weitere zehn bis elf Arten. Den Rekord stellt jedoch unser aktuelles Jahrzehnt mit erschreckenden 26 Arten auf, die nun nicht mehr gesichtet werden.

Die dargelegten Daten untermauern objektiv und über einen Zeitraum von fast 200 Jahren den häufig geäußerten Satz: "Früher gab es mehr Schmetterlinge". Und ihr Verschwinden wird immer schneller - sogar in Schutzgebieten, die eigens zum Schutz genau dieser Arten angelegt wurden. Dies alles sollte uns besonders alarmieren!


Weitere Informationen Im Original ist die Studie unter
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/cobi.12656/full erhältlich.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Schornsteinfeger (Aphantopus hyperantus) ist eine weit verbreitete und häufige Art, die vor allem entlang von Heckenstrukturen auftritt.

Das Tagpfauenauge (Inachis io) ist eine der häufigsten und am weitesten verbreiteten Arten Deutschlands und ist ein echter Generalist.

Der Kleine Fuchs (Aglais urticae) hat ähnliche Ansprüche an seinen Lebensraum wie das Tagpfauenauge, ist aber nicht so häufig wie dieses.

Der Silbergrüne Bläuling (Polyommatus coridon) ist eine der Charakterarten von Kalkmagerrasen.

Das Kleine Ochsenauge (Hyponephele lycaon) braucht besonders magere und vegetationsarme Lebensräume und ist seit über 100 Jahren im Untersuchungsgebiet ausgestorben.

Der Hochmoorgelbling (Colias palaeno) ist ein Spezialist für Hochmoore. Früher, als solche Habitate im Umfeld des Untersuchungsgebietes vorhanden waren, wurde er als "Gast" auf den Trockenhängen gelegentlich angetroffen.

Der Kurzschwänzige Bläuling (Cupido argiades) war einige Jahrzehnte im Untersuchungsgebiet nicht nachgewiesen, tritt dort jedoch seit einigen Jahren wieder auf.

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Quelle:
naturmagazin, 30. Jahrgang - Nr. 3, August bis Oktober 2016, S. 12-15
Herausgeber: Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Naturschutzfonds Brandenburg/Naturwacht
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Redaktion: Natur & Text GmbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2016

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