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FRAGEN/002: Automatische Arterkennung - Forschungsprojekt zur Entwicklung einer Bestimmungs-App (naturmagazin)


naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 2/2016

Automatische Arterkennung
Forschungsprojekt zur Entwicklung einer Bestimmungs-App

Gespräch von Christof Ehrentraut mit Ulrike Sturm


Seit März 2015 erforscht das Museum für Naturkunde Berlin (MfN), wie sich Stadtnatur von Bürgerinnen und Bürgern in ihrem direkten Umfeld selbstständig besser erleben ließe. Das zentrale Element des Projektes ist die Entwicklung einer mobilen Anwendungssoftware (App), die Tier- und Pflanzenarten automatisch bestimmen können soll. Mit der Leiterin des Projektes, Frau Ulrike Sturm, sprach naturmagazin-Redakteur Christof Ehrentraut.


nm: Das automatische Erkennen von Arten anhand von Ton- und Bildaufnahmen würde Laien ungeahnte Möglichkeiten im Rahmen von Citizen Science eröffnen und klingt noch wie Zukunftsmusik. Wie weit sind die Entwicklungen dahingehend fortgeschritten und welche Arten bzw. Artengruppen stehen im Fokus?

Ulrike Sturm: Die Entwicklung in diesem Bereich erfolgt derzeit rasant. Ganz aktuell hat ein Computer zweimal einen Menschen beim Go Spielen geschlagen. Das Programm wurde von Google mittels Machine Learnings trainiert. Diese Verfahren setzen wir auch in unserer Bild- und Lauterkennung ein. Aufbauend auf dem Tonmaterial des Tierstimmenarchivs wurde ein Algorithmus trainiert, der Vogelstimmen erkennen kann. Zukünftig würden wir gerne noch genauer zwischen Gesang und Rufen unterscheiden und weitere lautgebende Ordnungen, wie Heuschrecken oder Froschlurche, in die App mitaufnehmen. Dafür benötigen wir jedoch noch das geeignete Material, um die Algorithmen zu trainieren. Ab Herbst werden wir auch verstärkt an der Bilderkennung arbeiten. Hier kooperieren wir mit Natural Vision UG (limited), die bereits über twitter Bilderkennung für Vögel, Schmetterlinge und Wildblumen zur Verfügung stellen.

Wo liegen die Grenzen einer automatischen Artbestimmung? Gibt es Arten oder Artengruppen, die Sie für ungeeignet halten?

Menschen neigen immer wieder dazu, sich bedingungslos auf die Technik zu verlassen, das erleben wir auch oft in unseren Prototyptests. Aber natürlich hat auch jede Technik ihre Grenzen, eben auch die automatische Bestimmung. Die Genauigkeit hängt davon ab, ein möglichst diverses und umfangreiches Trainingsmaterial zu haben, also beispielsweise Bilder einer Art aus verschiedensten Blickwinkeln und bei unterschiedliche Lichteinstrahlung. Es ist aber unmöglich, von allen potentiellen Ausprägungen einer Art Bildmaterial zu finden. Die Natur bleibt unberechenbar. Daher ist es wichtig, jede automatische Bestimmung zu hinterfragen. Denn es kann ja auch sein, dass die Qualität der Bild- oder Tonaufnahmen nicht gut genug ist. Dennoch bleibt die automatische Bestimmung ein sehr gutes Mittel, um gerade AnfängerInnen einen Hinweis zu geben, welche Arten in Frage zu kommen und nach bestimmungsrelevanten Merkmalen zu vergleichen. Natürlich gibt es gerade bei Insekten - etwa bei Schmetterlingen - Arten, die nicht mit dem bloßem Auge bestimmt werden können. Hier ist es wichtig, gerade Laien die Grenzen transparent aufzuzeigen.

Wie reagiert die Expertenwelt auf das Projekt? Wird die Qualität automatisch erhobener Daten mit der Qualität von "Experten-Daten" gleichzusetzen sein?

In unserem Projekt geht es nicht primär darum, Daten zu erheben. Wir wollen Menschen für Natur in der Stadt begeistern und Artbestimmung auf attraktive Weise ermöglichen. Dabei versuchen wir über unser einfach zu nutzendes Angebot, Wissen und Verständnis über ökologische Zusammenhänge im urbanen Raum zu vermitteln und dabei die Wahrnehmung für Natur zu stärken. Die NutzerInnen werden mithilfe des Smartphones in die Lage versetzt, sehr schnell und direkt zu sehen, wo Natur um sie herum erfahren werden kann, und zwar ohne Planung und ohne Vorwissen. Vor Ort können dann die dort vorkommenden Arten entdeckt und bestimmt werden. Dabei unterstützen die Bestimmungshilfen für Stadttiere und -pflanzen, unsere automatische Bestimmung von Vogelgesängen und die Artportraits zu jeder der entdeckten Arten. Für die NutzerInnen sind es dann nicht mehr einfach nur "Bäume" oder "Vögel", sondern verschiedene Arten und Gattungen.

Über dieses Angebot hoffen wir natürlich auch Interesse für Citizen Science und die Erhebung von Daten zu wecken. Die Datenqualität spielt dabei eine große Rolle. Durch die Bestimmungshilfen und Artinformationen werden NutzerInnen im Lernen unterstützt werden. Auch wollen wir es zukünftig ermöglichen, Protokolle für die Datenaufnahme einzustellen und natürlich die Verifizierung durch Experten. Dazu werden wir von der App Schnittstellen zu unterschiedlichen Beobachtungsnetzwerken implementieren. Wie bereits erwähnt, würde ich immer Experten-Daten als vertrauenswürdiger einstufen. Es gibt noch zu viele Unsicherheiten bei der automatischen Bestimmung. Die Entwicklung geht zwar rasant voran, aber ich denke, Experten werden noch eine lange Zeit qualitativ hochwertigere Daten liefern.

Meinen Sie, dass eine automatische Artbestimmung helfen kann, das Fehlen von Artenkundigen zu kompensieren?

Eines unserer Ziele ist es, die NutzerInnen zu aktivieren, sich weiterzubilden und zu engagieren. Dabei arbeiten wir eng mit lokalen Initiativen zusammen und wollen durch eine gemeinsame Kommunikation helfen, diese Initiativen sichtbarer zu machen und die einzelnen Akteure miteinander zu vernetzen. Es ist uns wichtig, transparent zu machen, dass für eine artgenaue und sichere Bestimmung noch weiteres Wissen benötigt wird. Über den leichten Einstieg und die persönliche Interaktion wollen wir den Leuten Selbstvertrauen geben und ihnen zeigen, dass es sich lohnt, sich dieses Wissen anzueignen. Daher sprechen wir gezielt die Gruppe der jungen Erwachsenen an. Es geht auch darum, die Apps als neues, jederzeit griffbereites Medium zur Artenbestimmung weiterzuentwickeln. Dabei ist es uns wichtig, nicht nur ein Buch digital abzubilden, sondern zu testen, welche neuen Möglichkeiten, gerade in der Verbindung mit Geoinformationen, bestehen.

Welche Geräte wird man benötigen, um ihr Projekt später nutzen zu können? Reicht dafür ein normales Smartphone?

Ein normales Smartphone mit iOS oder Android Betriebssystem genügt vollkommen. Bei alten Geräten gibt es jedoch Probleme mit der Qualität des Mikrophons und der Kamera. Dies wirkt sich natürlich auf die automatische Ton- und Bildbestimmung aus.

Wie ist ihr Zeitplan?

Wir planen im Juni eine erste Version unserer App "Naturblick" im PlayStore zu veröffentlichen. Die Veröffentlichung im AppStore erfolgt etwas später. Im Juni wird die App erste Bestimmungshilfen, Artbeschreibungen, eine interaktive Karte mit Naturorten in Berlin und die Lautbestimmung von Vögeln enthalten. Im Herbst wollen wir die App dann um weitere Arten und die Möglichkeit, Meldungen zu machen, erweitern. Bis Sommer 2018 werden wir die App kontinuierlich anhand der NutzerInnenfeedbacks weiterentwickeln und verbessern.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Quelle:
naturmagazin, 30. Jahrgang - Nr. 2, Mai bis Juli 2016, S. 18 - 19
Herausgeber: Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Naturschutzfonds Brandenburg/Naturwacht
Natur & Text GmbH
Redaktion: Natur & Text GmbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2016

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