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TIERVERSUCH/535: Rechtsgutachten fordert mehr Schutz für "Versuchstiere" (tierrechte)


tierrechte Nr. 60, Juni 2012
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Bundesregierung: Tierschutz bleibt auf der Strecke
Rechtsgutachten fordert mehr Schutz für "Versuchstiere"

Von Christiane Baumgartl-Simons



Der Endspurt zur Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in Deutschland hat begonnen. Doch der Rechtsentwurf der Bundesregierung nutzt den rechtlichen Spielraum zugunsten der Tiere nicht aus. Dies bestätigt jetzt ein Rechtsgutachten der Universität Basel, das sechs Verbände(1), darunter auch unser Bundesverband, in Auftrag gegeben haben.


Bis 2010 kämpften wir auf EU-Ebene zusammen mit unserer europäischen Dachorganisation, der Koalition zur Beendigung von Tierversuchen (European Coalition to End Animal Experiments, kurz: ECEAE), um die Hürden zur Durchführung von Tierversuchen so hoch wie möglich anzusetzen. Manches gelang, vieles nicht. Das Ringen hat sich dennoch gelohnt, denn die EU-Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU stellt immerhin in 19 von 65 Artikeln höhere Schutzanforderungen als dies die deutsche Gesetzgebung bisher tut. Seit Oktober 2010 ist die Richtlinie in Kraft, muss in den EU-Ländern aber erst ab Januar 2013 angewendet werden. Die hierzu erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften sollen die Mitgliedstaaten bis Anfang November in Brüssel präsentieren. Bundesrat und Bundestag müssen also in den nächsten Monaten über den Umsetzungsentwurf der Bundesregierung beraten und abstimmen. Der Bundesverband konzentriert sich darauf, Verbesserungen für den Tierschutz bei der Umsetzung der Richtlinie von Bund und Ländern einzufordern.


Bundesregierung brüskiert Staatsziel Tierschutz

Anfang des Jahres präsentierte Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner ihre Umsetzungsvorstellungen der EU-Richtlinie, am 23. Mai stimmte die Bundesregierung dem Entwurf zu. Wie viel Tierschutz im vorgeschalteten Abstimmungsverfahren von Forschungsministerin Annette Schavan kassiert wurde, bleibt ungewiss. Fakt ist, dass die vorgesehenen Regelungen bei Weitem nicht den EU-Rahmen zugunsten der Tiere ausschöpfen. Stellenweise bleiben sie sogar hinter den aktuellen Bestimmungen des Tierschutzgesetzes zurück. Nach unserer Auffassung ist dies ein rechtswidriger Zustand, der einer wissentlichen Erniedrigung des Staatsziels Tierschutz durch die Bundesregierung gleichkommt. Dafür darf es in Deutschland, das dem Schutz der Mitlebewesen vor zehn Jahren Verfassungsrang verliehen hat, keine Mehrheit geben. Um unseren Forderungen zusätzliches Gewicht zu verleihen, haben wir gemeinsam mit fünf weiteren Tierschutzorganisationen(1) ein Rechtsgutachten(2) bei der Universität Basel in Auftrag gegeben. Es erhärtet unsere Position und gibt unseren Forderungen obendrein politischen Biss.


Mangelhafter Entwurf der Bundesregierung

Die umfangreichen Bestimmungen der EU-Tierversuchsrichtlinie sollen in einigen Paragrafen des Tierschutzgesetzes, überwiegend aber in einer neuen Rechtsverordnung umgesetzt werden. So will es die Bundesregierung. Dabei bleibt der Tierschutz an entscheidenden Stellen auf der Strecke. Einige folgenschwere Regelungen werden hier kurz dargestellt:

Reduktion des Prüfrechts

Die EU-Tierversuchsrichtlinie verpflichtet die Behörden, die Tierversuchsanträge einer eigenständigen, unparteiischen Prüfung zu unterziehen. Und das aus gutem Grund. Denn schließlich muss die Behörde und nicht der Antragsteller durch eine Schaden-Nutzen-Analyse feststellen, ob ein Tierversuch die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt oder nicht; so schreibt es die Richtlinie vor. Genau aber diese eigenverantwortliche Prüfpflicht der Behörde will die Bundesregierung drastisch beschneiden. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Behörden eben keine eigenen Ermittlungen anstellen, sondern die Anträge lediglich anhand der Angaben der Antragsteller beurteilen, so wie dies schon heute praktiziert wird. Dies ist eine massive Unterschreitung der Vorgaben der EU-Richtlinie, die ausdrücklich die eigenständige behördliche Prüfung des beantragten Tierversuchs vorschreibt und zwar im Hinblick auf seine Unerlässlichkeit, seine ethische Vertretbarkeit, seinen wissenschaftlichen Nutzen und die Belastungen der Tiere.

Schmerz-Leidens-Grenze

Auch bei der Einhaltung einer Schmerz-Leidensgrenze unterwandert der Regierungsentwurf das Niveau der Richtlinie. Während die EU Versuche bereits dann verbietet, wenn schwere Schmerzen, Leiden oder Ängste länger anhalten, fordert der Regierungsentwurf deutlich mehr, nämlich das dauerhafte Anhalten der schweren Beeinträchtigungen. Zweifelsohne wirkt ein dauerhafter Schmerz stärker als ein länger anhaltender und verursacht deshalb noch größeres Leid.

Ausnahmeregelungen umgehen absolute Verbote

Besonders schwer wiegt die Tatsache, dass die Bundesregierung absolute Verbote durch Ausnahmeregelungen aufweichen will. Dabei bietet die Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich an, diese Umgehungsmöglichkeit nicht zuzulassen. Die Bundesregierung kann also ein ausnahmsloses Verbot für Versuche festlegen, die länger anhaltende starke Schmerzen, schwere Leiden oder Ängste verursachen, ebenso für Versuche an Menschenaffen. Auch Experimente mit anderen Affenarten dürfen durch Verweigerung der Ausnahmeregelungen weiter eingeschränkt werden. Doch auch hier will die Bundesregierung nicht auf Sonderrechte verzichten.


Was folgt aus dieser Situation?

In den kommenden Monaten gilt es, über den Bundesrat und Bundestag die oben angeführten und durch das Rechtsgutachten bestätigten massiven Fehlleistungen der Bundesregierung auszubremsen. Darin sind sich die sechs Organisationen, die das Rechtsgutachten veranlasst haben, einig. Ziel ist, die höheren Anforderungen der Richtlinie vollständig in deutsches Recht zu überführen, die Spielräume der EU-Richtlinie für den Tierschutz maximal zu nutzen und höhere, in Deutschland bereits geltende Tierschutznormen, wie beispielsweise das Verbot der Tierversuche für Tests mit Waschmitteln, Waffen, Munition oder Tabak beizubehalten.


Entscheidungsträger stärken

Die eigenständige Prüfung der Versuchsanträge auf Unerlässlichkeit und ethische Vertretbarkeit gehört zu den Schlüsselaufgaben der Behörden. Um diesen hohen Anspruch tatsächlich kompetent und zudem in 40 Tagen anstatt wie bisher in 90 Tagen erfüllen zu können, müssen die Behörden zwingend mehr sachkundige Mitarbeiter erhalten. Denn es besteht kein Zweifel, dass gerade die Prüfung der Unerlässlichkeit und der ethischen Vertretbarkeit ein kaum überschaubares Wissen erfordert. Allein die Entwicklungen im Bereich tierversuchsfreier Methoden kann von einer einzelnen Behörde nicht überblickt werden. Hinzu kommen ethische Abwägungsprinzipien sowie Kenntnisse, um einen eventuellen Nutzen des Tierversuchs zu ermitteln und zu bewerten. Und das wohlgemerkt für alle Kategorien der Tierexperimente. Angefangen vom Tierverbrauch zu Ausbildungszwecken, über Wirkstoffprüfungen, Herstellung gentechnisch veränderter Tiere, bis zur gesamten Bandbreite der Erkrankungen von Mensch und Tier. Diese Aufgabe kann nur dann verantwortlich erfüllt werden, wenn ein von Bund und Ländern getragenes Kompetenzzentrum eingerichtet wird, das die Behörden in ihren Aufgaben unterstützt und zudem als Lenkungsstelle für die Förderung und Verbreitung von tierversuchsfreien Methoden dient. Ein derartiges Kompetenzzentrum bildet die Grundlage dafür, dass die neuen Regeln nicht nur auf dem Papier existieren, sondern auch vollzogen werden.


Ein Wort zum Tierschutzgesetz

Anlässlich der Umsetzung der Tierversuchsrichtlinie hatten wir damit gerechnet, dass die dringend notwendige Novellierung des gesamten Tierschutzgesetzes in Angriff genommen worden wäre. Doch die Bundesregierung wählt die Minimallösung und will außerhalb der Tierversuche das Tierschutzgesetz nur in folgenden Bestimmungen ändern: Verbot des Schenkelbrandes beim Pferd, Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration ab 01.01.2017 und bessere Vollziehbarkeit des Qualzuchtparagrafen (Paragraph 11b TierSchG). Art und Umfang dieser Änderungen sind außerdem so gewählt, dass der Bundesrat den Änderungen des Tierschutzgesetzes nicht zustimmen muss, sondern lediglich Einspruch einlegen kann.


Fazit:

In erster Linie sind wir zuversichtlich, dass mit Unterstützung des Rechtsgutachtens Tierschutzverbesserungen zu erreichen sind. Falls nicht, so sind die Tiere darauf angewiesen, dass ein Bundesland Klage gegen die Bestimmungen beim Bundesverfassungsgericht einreichen wird. In Bremen, dem bisher einzigen Land mit der Tierschutz-Verbandsklage, kann im konkreten Einzelfall auch eine Tierschutzorganisation vor dem Verwaltungsgericht klagen.


(1) Folgende Organisationen haben das Rechtsgutachten in Auftrag gegeben:
Ärzte gegen Tierversuche, Bundesverband Tierschutz, Bunde gegen den Missbrauch der Tiere, Deutsche Juristische Gesellschaft für Tierschutzrecht, Deutscher Tierschutzbund, Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner

(2) Rechtsgutachten zu verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit der EU-Tierversuchsrichtlinie insb. zur Unionsrechts- und Verfassungskonformität des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes sowie des Entwurfs einer Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2010/63/EU;
von Prof. Dr. jur. Anne Peters,
LL.M. Ordinaria für Völker- und Staatsrecht an der Universität Basel.

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Quelle:
tierrechte - Nr. 60/Juni 2012, S. 14-15
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2012