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TIERVERSUCH/531: Tierversuchsfreie Verfahren statt Tierversuche - Handeln statt Zuschauen (tierrechte)


tierrechte 1.12, Nr. 59, März 2012
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Tierversuchsfreie Verfahren statt Tierversuche - Handeln statt Zuschauen

Von Christiane Baumgartl-Simons



Tierversuchsfreie Verfahren brauchen zehn, ja durchaus zwanzig Jahre, um von der Idee zum etablierten Testverfahren zu reifen. Nicht nur vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich weiterlaufenden Tierversuche ist diese Zeitspanne unanständig lang. Die vielen Jahre lähmen auch die tierversuchsfreie Forschung und ermüden den Veränderungswillen in unserer Gesellschaft. Was führt aus dieser Situation heraus?

Noch in den 80er Jahren stand der Tierversuch als unantastbares Handwerkszeug Wissenschaft und Industrie zur Verfügung. Unsere Gesellschaft wusste so gut wie nichts über dieses abgeschottete Tierleid, geschweige denn über tierversuchsfreie Methoden. Erst die Bewegung der Tierversuchsgegner informierte und schockierte die Bürger, denn sie erfuhren jetzt von den vorsätzlichen und legalen Quälereien, die in unserem Staat tagtäglich stattfanden. Tierversuche galten schnell als skandalumwittert, Tierversuchsgegner als radikal bis kriminell. So lag es auf der Hand, dass Presse und Fernsehen gerne und ausführlich zum Thema berichteten. Pro und Contra-Diskussionen, auf denen es durchaus auch handgreiflich zuging, Demonstrationen und Aktionen bahnten dem Tierversuch den Weg in das Bewusstsein unserer Gesellschaft. Über kurz oder lang war der Begriff Tierversuch negativ besetzt. Tierexperimentatoren mussten sich nun damit auseinandersetzen, dass sie und ihr Handwerk nicht mehr länger im Elfenbeinturm wohnten, sondern mitten ins Kreuzfeuer der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geschleudert wurden. Denn die Tierversuchsgegner nutzten ihre demokratischen Rechte, um die Tierexperimente an den Pranger zu stellen. Darf unsere Gesellschaft so mit Tieren umgehen? Es folgte ein wissenschaftskritischer und moralphilosophischer Schlagabtausch mit häufig chaotischem Verlauf. Doch letztlich erreichte er sein Ziel: Die Politik kam nicht länger an der Tierversuchsproblematik vorbei. Bei der Novellierung des Tierschutzgesetzes, das 1986 verabschiedet wurde, mischten die Tierversuchsgegner eifrig und erfolgreich mit. Das neue Tierschutzgesetz griff die Werteentwicklung zugunsten der Tiere auf und bezeichnete sie nun als Mitgeschöpfe. Erstmals wurden Kommissionen zur Beurteilung von Tierversuchen eingerichtet, in die auch Tierversuchsgegner berufen wurden. Kurzum, das gelebte Bürgerengagement der Tierversuchsgegner fand eine beachtliche gesellschaftliche Unterstützung und leitete einen politischen Lernprozess zugunsten der "Versuchstiere" ein.


Weitere Entwicklungen

Vor dem Hintergrund der nicht nachlassenden Kritik am Tierversuch rückten in den 90er Jahren die tierversuchsfreien Verfahren ins Licht der Öffentlichkeit. Diese versprachen genügend Potenzial, um mit den Tierversuchen Schluss machen zu können. Wiederum waren es die Tierversuchsgegner, die Gesellschaft und Politik über die neuen Methoden informierten und die Medien zur Berichterstattung anhielten. Für wahr keine leichte Aufgabe! Denn tierversuchsfreie Verfahren sind nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht eine komplizierte Angelegenheit und erfordern deutliche Kraftanstrengungen. Anders als beim weltweit etablierten Tierversuch, dessen einfaches Strickmuster vergleichsweise schnell zu Anerkennung führt, müssen Wissenschaftler der tierversuchsfreien Liga echte Pionierarbeit leisten. So mancher Forscher und so manches Forschungsergebnis bleibt hierbei auf der Strecke. Zu wenig Geld und nur geringe gesellschaftliche Aufmerksamkeit tragen dazu bei, dass dieser Wissenschaftszweig eher vor sich hin dümpelt, anstatt sich voll zu entfalten. Dabei täte gerade das jetzt Not, denn die Tierversuchsgegnerbewegung war erfolgreich und hat in jüngster Zeit zwei Meilensteine für die neuen Methoden setzen lassen. Seit 2003, anlässlich der Parlamentsdebatten um anstehende Tierversuche zur Prüfung von Chemikalien (REACH) trauten sich Wissenschaftler und Politiker erstmals das auszusprechen, was Tierversuchsgegner von Anbeginn kommunizierten: Der Paradigmenwechsel "weg vom Tierversuch - hin zu tierversuchsfreien Verfahren" muss stattfinden. Denn der Goldstandard Tierversuch bröckelt, nachdem auch Wissenschaftskreise seine Leistungsmängel nicht länger verschweigen. Damit war ein Meilenstein gesetzt. Ein weiterer folgte Ende 2010, als Brüssel einen elementaren Punkt aufgriff. Die EU-Mitgliedstaaten formulierten in der neuen EU-Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU) sehr präzise, dass diese Rechtsvorschrift einen wichtigen Schritt zur Erreichung des letztendlichen Ziels darstelle, Verfahren mit lebenden Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken und zu Bildungszwecken vollständig zu ersetzen.(*) Mit dieser Formulierung wurde zum allerersten Mal in einer Gesetzesschrift der Ausstieg aus dem Tierversuch in dieser Eindeutigkeit formuliert. Jetzt kommt es darauf an, dass dieser Anspruch auch erfüllt wird.


Aktuelle Situation

Über tierversuchsfreie Verfahren wird heute einiges berichtet. Die mediale Aufmerksamkeit täuscht jedoch darüber hinweg, dass die tierversuchsfreie Forschung noch immer ein Außenseiterdasein führt. Das Gros der Wissenschaftler arbeitet nach wie vor tierexperimentell; dafür gibt es etliche Ursachen. Darunter auch sehr menschliche wie Bequemlichkeit oder gar Furcht, die eingefahrenen Pfade zu verlassen. Auch Bundes- und Länderregierungen trauen sich nicht, angemessene Forschungsetats auszuweisen, um den Wissenschaftlern den Wechsel zu neuen und tierleidfreien Technologien zu erleichtern. Jüngstes, eklatantes Beispiel hierzu kommt aus Hessen. Dieses Bundesland sträubte sich im Sommer 2010, eine Professur für tierversuchsfreie Methoden an einer Landesuniversität finanziell zu unterstützen. Doch im Januar 2012 förderte die Landesregierung mit einer ungleich höheren Summe von 30 Millionen Euro das Ernst-Strüngmann-Institut (ESI) in Frankfurt, das für seine tierexperimentelle Hirnforschung an Affen bekannt ist.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das hessische Beispiel steht stellvertretend für die allgemeine politische Unentschlossenheit, die Reduktion der Tierversuche zielstrebig zu verfolgen. Hierzu vermissen wir bis heute ein straffes Förderprogramm, das - beginnend mit der studentischen Ausbildung, über die Einrichtung von Professuren, Lehrstühlen, Excellenzinitiativen und weiteren Attraktionen - Deutschland zum Ideen- und Wissenspool für tierversuchsfreie Methoden aufrüstet. Erst mit diesem politischen Bekenntnis wird es auch gelingen, nicht nur mehr und besonders dringend benötigte Methoden zu entwickeln, sondern auch die schleppend verlaufenden Prüf- und Anerkennungsverfahren zeitlich drastisch zu verkürzen.


Ausblick

Das Wirken der Tierversuchsgegner in den letzten dreißig Jahren blieb nicht erfolglos. Die Information über Tierversuche, die Diskussionen mit der Zivilgesellschaft, das mediale Interesse und nicht zuletzt die Forderungen nach dem Ende der Tierversuche - gestützt durch Medikamentenskandale - haben zu einem politischen aber auch wissenschaftlichen Lernprozess geführt. Heute steht außer Frage, dass nicht Tierversuche, sondern tierversuchsfreie Verfahren für unsere Gesellschaft erstrebenswert sind. Damit aus dieser Feststellung auch Wirklichkeit wird, müssen wir Tierversuchsgegner uns weiter ins Zeug legen. Genau wie in den 80er Jahren gilt es, die Bürger aufzuklären, die Medien zu interessieren und vor allem gesellschaftliche Entwicklungen anzuschieben. Heute stehen nicht mehr primär Tierversuche, sondern das gesamte Spektrum der tierversuchsfreien Verfahren im Mittelpunkt. Welche Verfahren sind dringend nötig, wer fördert sie, wer behindert sie, welche politischen oder wissenschaftlichen Eitelkeiten verzögern Anerkennungsverfahren? Zugegeben, die Thematik ist nicht einfach, denn die durchweg schwierigen wissenschaftlichen Fragestellungen müssen allgemeinverständlich und auch interessant dargestellt werden. Das ist die Voraussetzung, damit sich unsere Gesellschaft positionieren und unsere Forderungen nach einem zielführenden Förderungsprogramm für tierversuchsfreie Methoden unterstützen kann. Unsere Aufgabe ist es dann, die politische Umsetzung zu verfolgen. So kompliziert und arbeitsintensiv dieses Thema auch ist, das Ende der Tierversuche führt nur über den anstrengenden Weg der tierversuchsfreien Verfahren.


Anmerkung:
(*) Wortlaut des Erwägungsgrundes 10 der EU-Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU):
'Obwohl es erstrebenswert ist, den Einsatz lebender Tiere in Verfahren möglichst durch andere Methoden zu ersetzen, bei denen keine lebenden Tiere verwendet werden, ist der Einsatz lebender Tiere weiterhin notwendig, um die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen. Diese Richtlinie stellt jedoch einen wichtigen Schritt zur Erreichung des letztendlichen Ziels dar, Verfahren mit lebenden Tieren für wissenschaftliche Zwecke und Bildungszwecke vollständig zu ersetzen, sobald dies wissenschaftlich möglich ist. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, die Weiterentwicklung alternativer Ansätze zu erleichtern und zu fördern. Diese Richtlinie zielt auch darauf ab, für Tiere, die in Verfahren weiterhin verwendet werden müssen, ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten. Diese Richtlinie sollte im Lichte der Fortschritte in der Wissenschaft und beim Tierschutz regelmäßig überprüft werden.'

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Quelle:
tierrechte 1.12, Nr. 59, März 2012, S. 5-6
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2012