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TIERVERSUCH/429: Alternativen zum Tierversuch (ForschungsReport)


ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 1/2009
Die Zeitschrift des Senats der Bundesforschungsanstalten

Alternativen zum Tierversuch
Durch neueste Technologien lassen sich Experimente mit Tieren verringern

Von Barbara Grune, Daniel Butzke und Andrea Seiler (Berlin)


Im Jahr 2007 wurden in Deutschland über 2,6 Millionen Wirbeltiere in Tierexperimenten und zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg um mehr als 90.000 Tiere. Die stärksten Zunahmen wurden im Bereich der Grundlagenforschung verzeichnet. Zudem erwarten Experten, dass im Rahmen der neuen Europäischen Chemikalienverordnung REACH die Zahl der Versuchstiere EU-weit zunehmen wird. An der ZEBET (Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch) des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) in Berlin wird nach Möglichkeiten gesucht, Tierversuche durch Alternativmethoden zu ersetzen oder zumindest die Zahl der Versuchstiere zu verringern. Dabei sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ganz unterschiedlichen Gebieten fündig geworden.

Im Tierschutzgesetz heißt es: "Bei der Entscheidung, ob Tierversuche unerlässlich sind, ist insbesondere der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde zu legen und zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann." Die Prüfung und Entwicklung solcher Alternativen ist Aufgabe der ZEBET in Berlin. Dabei wird das 3R-Konzept zugrunde gelegt. Darunter sind alle wissenschaftlichen Methoden zu verstehen, die mindestens eine der drei Anforderungen erfüllen:

durch die Anwendung der Methode werden Tierversuche ersetzt ("Replacement");
die Zahl der Versuchstiere wird reduziert ("Reduction");
das Leiden und die Schmerzen der Versuchstiere werden vermindert ("Refinement").

Eine neuartige Suchmaschine für das Internet

Das Internet bietet eine unendliche Fülle von Informationen, darunter auch viele Hinweise auf mögliche Alternativmethoden zu Tierversuchen. Dennoch ist es schwierig, aus dieser Fülle die passenden Informationen zu extrahieren. Vor dieser Herausforderung stehen sowohl Wissenschaftler als auch Behördenvertreter, die damit beauftragt sind, die Unerlässlichkeit von Tierversuchsvorhaben zu prüfen. Millionen potenziell relevanter Dokumente sind über Internet, Patentdatenbanken und Literaturdatenbanken verstreut. Recherchen zu Alternativmethoden sind auch und gerade im Zeitalter des Internets zeitraubend und mühsam. Aufgrund der Vielfalt und der täglich anwachsenden Menge an Informationen stoßen die herkömmlichen Suchmaschinen, die im Freitext oder mit Suchbegriffen aus einem festen Vokabular (Thesaurus) recherchieren, an ihre Grenzen. Einen Ausweg aus dieser Problematik verspricht "Go3R", die weltweit erste wissensbasierte Suchmaschine für Alternativmethoden zu Tierversuchen. Entwickelt wurde sie von der ZEBET im Verbund mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Dresden und der Transinsight GmbH (Dresden). Im April 2008 wurde die Beta-Version der Suchmaschine unter www.GO3R.org im Internet kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die technische Basis der semantischen Suchmaschine Go3R ist spezifisches Expertenwissen, abgelegt in Form einer Ontologie. Die Ontologie ist ein Netzwerk von hierarchisch organisierten "Konzepten" (Themengebieten), die repräsentativ für ein definiertes Forschungsgebiet stehen. Diese "Konzepte" enthalten Informationen über synonyme Begriffe und natürlichsprachliche Definitionen.

Semantische Suche in Go3R / Startseite:

WHAT:
Ontologie für schnelles semantisches Sortieren der Suchergebnisse "intelligent table of contents"

WHO/WHERE/WHEN:
- Wer sind die Autoren?
- Welche Zeitschriften sind führend?
- Wo sind die Forschungsstandorte?
- Wann wurde publiziert?

Die Ontologie beschreibt die relevanten Begriffe eines Themengebietes und stellt Beziehungen zwischen den Begriffen her. Eine semantische Suchmaschine nutzt diese inhaltlichen Beziehungen. Sie erweitert Suchanfragen mit einfachen Begriffen durch das Herstellen von Beziehungen zu anderen relevanten Begriffen. Was hier für Außenstehende sehr abstrakt klingt, lässt sich durch ein Gedankenspiel verdeutlichen, in dem es darum geht, einen bestimmten Presseartikel zu einer Thematik aus der schier unüberschaubaren Menge aller Beiträge der gängigen Tageszeitungen herauszufiltern (s. Ein "semantisches" Gedankenspiel (unten)). Innerhalb einer großen Menge von Suchergebnissen ist es mit Go3R möglich, die Ergebnismenge mit ein paar "Klicks" auf die für den Suchenden relevanten Aspekte einzuschränken. Die präsentierten Suchergebnisse werden automatisch in die Kategorien der 3R-Ontologie vorsortiert. Der Nutzer erhält die Liste der Suchergebnisse zusammen mit einem "intelligenten Inhaltsverzeichnis". Durch Klicken auf ein Konzept des Inhaltsverzeichnisses werden dem Nutzer die dazugehörigen Publikationen präsentiert. Sucht ein Nutzer zum Beispiel nach Publikationen zur Thematik "eye irritation" und gibt diesen Suchbegriff ein, zeigt ihm Go3R unter anderem die folgenden Kategorien an:

"eye irritation" ->
- Substances, Preparations & Products
- Drugs
- Cosmetics
- Animal Experiments
- Diseases & Symptoms
- Product Testing & Assessment
- Toxicity Testing Strategy, 3Rs
- Mechanistic Test
- In Vitro Test Battery
- Integrated Testing Strategy
- Tiered Testing Strategy

Der Nutzer entscheidet sich zum Beispiel für die Kategorie "Toxicity Testing Strategy, 3Rs". Im nächsten Schritt grenzt er seine Recherche mit einem Klick auf die Kategorie "In vitro Test Battery" ein. Auf diese Weise hat er aus einer großen Menge von Informationen mit zwei Klicks die für ihn relevanten Publikationen herausgefiltert. Als Prototyp sucht Go3R Beta in der bekannten Literaturdatenbank "PubMed". Es ist vorgesehen, dass Go3R das gesamte Internet, darunter auch diverse Literatur- und Patentdatenbanken, durchsucht und somit eine weit reichende Menge von Informationen in einer einzigen Suchmaschine zusammenfasst. Bereits heute erweitert Go3R die Suche auf Synonyme des Suchbegriffes; sucht ein Nutzer zum Beispiel nach "eye irritation", sucht die Suchmaschine automatisch auch nach "ocular safety".

Die semantische Suchmaschine Go3R enthält einen "3Rs-relevant-Filter", mit dem sie die Dokumente markiert, die Informationen zu Alternativmethoden enthalten.


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Ein "semantisches" Gedankenspiel

Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären am Wochenende zufällig von einem Journalisten in der Fußgängerzone angesprochen worden, der eine Umfrage zum Thema "beliebteste Politiker" durchführt. Am Montag wollen Sie nun gerne den Artikel in der Zeitung lesen. Dummerweise haben Sie vergessen, sich den Namen des Journalisten und die Tageszeitung zu notieren, in welcher der Artikel erscheinen soll. Was tun? Sich alle Zeitungen des Tages besorgen und dann diesen meterhohen Stapel in mühseliger Kleinarbeit durchmustern? Eine nahezu unmögliche Aufgabe!

Stellen Sie sich nun vor, sie hätten eine ganze Schar von Mitarbeitern, die für Sie alle Tageszeitungen durchmustert und jeden einzelnen Artikel in Ordnern mit bestimmten Oberbegriffen abgelegt haben. In dem für Sie vorbereiteten Schrank (Go3R-Inhaltsverzeichnis) gäbe es dann zum Beispiel einen Ordner zum Thema "Persönlichkeiten der Gegenwart", mit dem Unterordner "Politiker". Nun wäre es leicht für Sie, den gesuchten Artikel zu identifizieren, denn der Umfang der in Frage kommenden Artikel wäre wesentlich geringer. Das ganze Wissen Ihrer vielen Mitarbeiter (Expertenwissen) würde sich in der Art und Weise spiegeln, wie die Artikel bestimmten Thematiken zugeordnet und in Ordnern abgelegt worden sind (Ontologie).

Durch manuell klassifizierte Beispieldokumente wird der Filter im Rahmen des Forschungsprojektes stetig verbessert.


Embryonale Stammzellen statt Versuchstiere

ZEBET im BfR sucht nicht nur innovative Wege im Informationsdickicht, um bereits vorhandene Methoden aufzuspüren, sie entwickelt auch selbst neue Alternativen zu Tierversuchen. So zum Beispiel, um zu prüfen, ob bestimmte Chemikalien die Entwicklung des Nervensystems beeinträchtigen können - eine besondere Gefahr für Kinder. Entwicklungsneurotoxizität lautet der entsprechende Fachbegriff. Er beschreibt die möglichen funktionellen und morphologischen Effekte auf das sich entwickelnde Nervensystem der Nachkommen, die durch Exposition während der Schwangerschaft und der frühen Entwicklungsphase nach der Geburt auftreten können. Entwicklungsneurotoxizität gehört zu den schwerwiegendsten Nebenwirkungen, die eine Chemikalie oder ein Arzneimittel aufweisen kann.

Die Prüfung auf entsprechende Eigenschaften erfolgt traditionell im Tierversuch. Für den Test an nur einer Substanz sind bisher bis zu 140 Muttertiere und 1000 Jungtiere, in der Regel Ratten, nötig. Die Versuche sind außerdem sehr zeit- und kostenintensiv. Im BfR bei der ZEBET ist nun eine neue, vielversprechende Alternativmethode entwickelt worden, bei der nicht mehr Ratten, sondern embryonale Stammzellen der Maus verwendet werden. Bei der neuen Methode werden Stammzellen, die in der Zellkultur zu verschiedenen Typen von Nervenzellen ausdifferenzieren (Neurone, Astrozyten und Oligodendrozyten), mit den zu prüfenden Stoffen behandelt. Dabei zeigt sich ein eventuelles entwicklungsneurotoxisches Potenzial der Chemikalien, und es kann beurteilt werden, ob Stoffe die Entwicklung von Nervenzellen schädigen. Dies geschieht zum Beispiel anhand ausgewählter spezifischer neuronaler Markerproteine, die in der Lage sind, stellvertretend die neurale Entwicklung in der Zellkulturschale abzubilden. Lässt sich im Vergleich zum unbehandelten Kontrollansatz keine veränderte Ausbildung der neuronalen Markerproteine feststellen, geht man davon aus, dass möglicherweise kein entwicklungsneurotoxisches Potential vorliegt.

Das neue Verfahren könnte dazu beitragen, die Zahl der Tierversuche auf diesem Gebiet zu reduzieren.


Dr. Barbara Grune, Dr. Daniel Butzke, Dr. Andrea Seiler,
Bundesinstitut für Risikobewertung, ZEBET, Diedersdorfer Weg 1, 12277 Berlin
E-Mail: zebet@bfr.bund.de


Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


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Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 1/2009,
Heft 39 - Seite 30-32
Herausgeber:
Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsanstalten
c/o Johann Heinrich von Thünen-Institut
Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL)
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016, Fax: 0531/596-1099
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2009