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POLITIK/474: Kosmetik, REACH und Tierversuchs-Richtlinie (tierrechte)


tierrechte 3.08 - Nr. 45, August 2008
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Tierversuche - Problem und Lösungsansatz
Kosmetik, REACH und Tierversuchs-Richtlinie: Paradigmenwechsel ein Wunschtraum?

Von Christiane Baumgartl-Simons / Marion Selig


Derzeit scheint auf EU-Ebene wenig Aussicht zu bestehen, dass Tierversuche in großem Maß durch tierversuchsfreie Verfahren ersetzt werden - selbst für Kosmetika, wo dies sogar gesetzlich vorgesehen ist. Diese enttäuschende Situation muss dennoch Ansporn für Tierversuchsgegner und Tierrechtler sein, weiter für den ausnahmslosen Ersatz von Tierexperimenten zu kämpfen.


Kosmetik

Als 1993 die EU erstmals das Verbot der Vermarktung von an Tieren getesteten Kosmetika ab 1998 beschloss, wussten wir nicht, wie viel Schall und Rauch tatsächlich in Gesetzen wohnen können. Wir ahnten nicht, wie wenig das ehrenwerte Ziel und der notwendige Paradigmenwechsel 'weg vom Tierversuch - hin zu wissenschaftlich und ethisch guten Testverfahren' Politik, Wissenschaft und Industrie anspornen würden, weltweit gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um neue Testverfahren zu etablieren. Doch heute, 15 Jahre und mehrere Terminverzögerungen später, servieren Forschung und Industrie der Politik noch immer die kärgliche Kost ihrer bisherigen Ergebnisse zu tierversuchsfreien Teststrategien.

Dabei könnten luxuriöse Speisen aufgetafelt werden, wenn denn alle Köche rechtzeitig die richtigen Zutaten zu Erfolgsrezepten gemischt hätten. Von Politik und Industrie wären hierfür ausreichende Gelder notwendig gewesen. Die fähigsten Wissenschaftler hätten sich weltweit dieser Thematik in Forschung und Lehre zudem mit großer Dringlichkeit widmen müssen. Mit dem Willen zum Erfolg gäbe es heute mehr tierversuchsfreie Verfahren, die es zumindest zuließen, dass das inzwischen für 2013 vorgesehene Vermarktungsverbot der EU für im Tierversuch getestete Kosmetika nun endlich greift.

Das Inkrafttreten des EU-Beschlusses steht jedoch in den Sternen, denn nach heutiger Einschätzung wird es bis dahin keine anerkannten tierversuchsfreien Verfahren geben, die das Verhalten der Substanzen und Produkte im Organismus untersuchen. Auch eventuelle Schädigungen Ungeborener sind heute nach Aussagen der Wissenschaftler nicht tierversuchsfrei herauszufinden.

Für uns hat es lange genug geköchelt - das Vermarktungsverbot von im Tierversuch getesteten Kosmetika darf nicht noch einmal verschoben werden und muss 2013 in Kraft treten! Dieses Ziel ist von allen Beteiligten mit aller Dringlichkeit zu verfolgen. Unser Bundesverband wird nicht nachlassen, bei allen Verantwortlichen ihre Bringschuld einzufordern.


REACH

Es steht zu befürchten, dass das Chemikalien-Testprogramm in der EU, besser bekannt als REACH [1], ab 2009 eine Tierversuchslawine ungeheuren Ausmaßes auslösen wird, weil hier - ebenso wie für die Kosmetik - Ersatzverfahren nur ausnahmsweise zur Verfügung stehen. Vom 1. Juni bis zum 1. Dezember 2008 melden Unternehmer ihre registrierpflichtigen Stoffe bei der zuständigen Agentur in Helsinki an. Mit dieser Vorregistrierung soll erreicht werden, dass gleiche Substanzen, die von mehreren Firmen angemeldet werden, nur einmal getestet werden. Das spart Tiere und den Unternehmen Kosten. Ab 2009 beginnen die Überprüfungen der Chemikalien, darunter auch circa 30.000 Altsubstanzen. Die Testverfahren müssen dann gestaffelt nach der jährlichen Produktionsmenge bis Dezember 2010 (1.000 Jahrestonnen), 1. Juni 2013 (100 Jahrestonnen) und 1. Juni 2018 (1 Jahrestonne) abgeschlossen sein.


Endspurt zur Rettung von Tieren vor REACH

ECVAM [2]), das Europäische Zentrum zur Validierung von Alternativmethoden, bemüht sich, noch vor Beginn der REACH-Tierversuche weitere tierversuchsfreie Testmethoden zur Anerkennung zu bringen. Derzeit befinden sich etwa 40 Methoden in der Validierung, also im Anerkennungsverfahren für tierversuchsfreie Methoden. Die Validierungszeit von sonst üblicherweise sieben bis zehn Jahren konnte durch ECVAM auf fünf Jahre gesenkt werden. Weitere Regelungen sollen die Tierzahlen reduzieren. Hochrechnungen gehen von bis zu 45 Millionen Wirbeltieren aus, die für REACH leiden und sterben müssen. Exakte Angaben sind nicht zu ermitteln. Als Hilfsmaßnahme in letzter Minute hat ZEBET, die Berliner Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsverfahren zum Tierversuch, den Vorschlag gemacht, statt die schädigenden Auswirkungen von Substanzen auf die Fortpflanzungsfähigkeit von Ratten über zwei Generationen zu prüfen, einen Test über eine Generation anzuerkennen. Diese Maßnahme würde pro Substanz 1.400 Ratten vor dem Tierversuch bewahren.


EU-Tierversuchs-Richtlinie

Die seit 1986 geltende EU-Tierversuchs-Richtlinie 86/609 setzt Mindeststandards für die Durchführung von Tierversuchen in der EU, die von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen sind. Bereits seit mehreren Jahren befasst sich die EU-Kommission mit der Novellierung der Richtlinie. Dies ist dringend notwendig, denn bei ihrem In-Kraft-Treten hatte u.a. die Gentechnik noch nicht den heutigen Umfang und gentechnisch veränderte Tiere werden infolgedessen mit keinem Wort erwähnt. Außerdem gilt die Richtlinie bislang nicht für die Grundlagenforschung, bei der etwa ein Drittel der 'Versuchstiere' verwendet wird.

Das Netzwerk der Tierversuchsgegner in der EU, die Europäische Koalition zur Beendigung von Tierversuchen, bei der der Bundesverband Mitglied ist, hat der EU-Kommission eine Stellungnahme übersandt. Verschiedene EU-Gremien wurden ebenfalls einbezogen, eine Internet-Umfrage, bei der sich die über 42.000 Teilnehmer mehrheitlich ablehnend zum Tierversuch geäußert hatten, wurde bereits 2006 durchgeführt, doch getan hat sich bislang nichts. Ein Entwurf der neu gefassten Richtlinie sollte schon im Sommer 2007 vorgelegt werden, doch die EU-Kommission hat auch ein Jahr später noch nichts verlauten lassen. Es bleibt eher unwahrscheinlich, dass noch vor den EU-Wahlen im Juni 2009 ein Entwurf präsentiert wird.


Fazit

Zur Entwicklung und Anerkennung tierversuchsfreier Verfahren ist es neben genügender finanzieller Ausstattung genauso notwendig, in Politik, Wissenschaft und Industrie den Ehrgeiz zu wecken, auf diesem Gebiet nicht nur forschen, sondern Spitzenleistungen vollbringen zu wollen. Hier könnte die Politik als Katalysator wirken. So könnte der Preis für tierversuchsfreie Forschung, den die Bundesregierung jedes Jahr verleiht, zu einem Ereignis gemacht werden, von dem sämtliche Medien berichten. Zukunftskongresse könnten nicht nur zur Gen- oder Nanotechnologie, sondern auch zum Thema Forschung ohne Tierversuche veranstaltet werden. Und schließlich könnten vermehrt Lehrstühle für tierversuchsfreie Verfahren an den Universitäten eingerichtet werden. Der Bundesverband wird dies weiterhin mit aller Kraft einfordern - damit der Paradigmenwechsel kein Wunschtraum bleibt!


Anmerkungen:

[1] REACH: Registrierung, Evaluation und Autorisierung von Chemikalien. Firmen, die Chemikalien produzieren, müssen alle relevanten Daten der Substanzen in einer zentralen Datenbank registrieren lassen. Diese Daten werden von den Behörden evaluiert (bewertet). Die Chemikalien werden dann zugelassen (autorisiert) bzw. als gefährlich eingestufte Substanzen eingeschränkt oder gar nicht zugelassen.

[2] ECVAM: European Centre for the Validation of Alternative Methods - Europäisches Zentrum zur Validierung von Alternativmethoden mit Sitz in Ispra, Italien.


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Mindestforderungen des Bundesverbandes

Immerhin ist noch Zeit, weiter darauf zu dringen, dass die Forderungen des Bundesverbandes Eingang in den Richtlinien-Entwurf finden. Was für uns allerdings nurmehr Mindestforderungen sind, empfindet die Politik bereits als eine schier unüberwindbare Hürde. Doch wir lassen nicht locker und verfolgen das Ende der Tierversuche geradlinig weiter, auch wenn bereits kleine Zwischenschritte hart erkämpft werden müssen.

Die Neufassung der EU-Tierversuchs-Richtlinie muss mindestens Folgendes enthalten:

Ausweitung der Richtlinie auf alle Tiere:
Embryonen, wirbellose Tiere
Tiere, die für Zellkulturen oder Organentnahme getötet werden
gentechnisch veränderte Tiere
Tiere, die bei Zucht, Haltung und Transport sterben oder getötet werden

Ausweitung der Richtlinie auf alle Bereiche:
Grundlagenforschung
Aus-, Fort- und Weiterbildung

Verbot von:
Affenversuchen
Tierversuchen für militärische Zwecke
Alkohol- und Tabakversuchen
besonders schmerzhaften Tierversuchen
gentechnischer Manipulation (einschließlich Xenotransplantation)
Klonen von Tieren
Tierverbrauch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung
Mehrfachversuchen (durch Datenbanken, zwingenden Datenaustausch, zwingende Publikation auch negativer Ergebnisse)

Einführung von Ethik-Kommissionen mit mindestens 50 Prozent Tierschutzvertretern, mit rigoroser Überwachung, Beurteilung und Öffentlichmachung jedes Tierversuchs vor und nach dessen Durchführung


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Quelle:
tierrechte - Nr. 45/August 2008, S. 10-11
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de

"tierrechte" erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2008