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TIERHALTUNG/589: Entschleunigung im Stall (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 1/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Entschleunigung im Stall

Von Stefan Johnigk



"Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen." (Mahatma Gandhi)


Kennen auch Sie das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben? Hektik und Geschwindigkeit prägen das Leben in der modernen Gesellschaft. Immer mehr Menschen leiden darunter. Sie sorgen sich, den wachsenden Anforderungen im Alltag nicht länger gerecht werden zu können. Nicht ohne Grund, denn ständiger Leistungsdruck macht krank. Depressionen und Burnout sind oft die Folgen, derentwegen sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage seit dem Jahr 2000 fast verdoppelt hat, wie der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Rainer Richter, im Dezember 2012 bekanntgab. Doch unter dem Motto "schneller, höher, weiter", das zum Weltbild der Leistungsgesellschaft gehört, leiden auch Millionen Nutztiere und Tausende von Landwirten. Es wird höchste Zeit, auf die Bremse zu treten, um größeres Elend zu vermeiden. Nicht nur unser menschliches Leben, auch die Tierhaltung muss sich entschleunigen.

Wie hoch der Leistungsdruck im Tierstall heutzutage ist, lässt sich anschaulich am Beispiel eines Schweinelebens zeigen. Schweine können, wenn man sie gut pflegt und nicht vorher schlachtet, durchaus 12 bis 15 Jahre alt werden. Dabei wachsen sie je nach Rasse und Geschlecht auf ein stattliches Körpergewicht von 150 bis 350 Kilogramm heran - immerhin das Zwei- bis Fünffache eines Menschen. Doch derart alte und schwere Schweine findet man nur noch selten in der Landwirtschaft. Für die Fleischerzeugung werden vorzugsweise junge Tiere geschlachtet. Ihr Fleisch gilt zum einen als zarter, zum anderen zählt bei der wirtschaftlich orientierten Tiermast vor allem eines: schnelles Wachstum, auch als hohe "biologische Leistung" bezeichnet. Und junge Tiere legen pro Tag nun mal mehr Körpergewicht zu als bereits ausgewachsene. Die für die Schlachtung gemästeten Schweine erreichen heutzutage in nur sechs bis acht Lebensmonaten ein Lebendgewicht von 100 bis 120 Kilogramm.

Immer mehr Leistung pro Zeiteinheit - genau dadurch entfaltet der Leistungsdruck seine leidvolle Wirkung auf Mensch und Tier. Will der Schweinemäster nicht wirtschaftlich untergehen, muss er seine Schweine möglichst schnell wachsen lassen, ohne dass sie deshalb erkranken oder verenden und dadurch finanziellen Schaden anrichten. Je weniger Futter und Zeit pro Schwein aufgewendet werden muss, je früher es mit dem optimalen Schlachtgewicht an den Fleischerhaken kommt, desto wirtschaftlicher läuft der Betrieb. Der nötige Aufwand für die Beobachtung und Pflege der Tiere und alle Bemühungen um eine möglichst verhaltensgerechte und tierschonende Aufzucht fällt unter solchen Bedingungen schnell dem Kostendruck zum Opfer. Das ist schlimm für die Schweine und bringt auch viele gestandene Landwirte in Wallung, wenn man sie unter vier Augen darauf anspricht.

Hubert Hümme ist Landwirt aus Leidenschaft. "Das ist kein Beruf, sondern eine Lebensform", sagt er. Schon seine Eltern und Großeltern waren Bauern. Die Familie hat die Politik des "schneller, höher, weiter" auf dem eigenen Hof hautnah miterlebt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die industrielle Erzeugung von Lebensmitteln in der Landwirtschaft voran getrieben wurde, nahmen viele Bauern diesen Prozess als Erleichterung der Wirtschaftsweise und Förderung des Wohlstands sehr positiv auf. Die Nachfrage am Markt stieg. Auch auf dem Hof der Familie Hümme wurde in neue Maschinen investiert, kamen vermehrt künstliche Düngemittel und chemischer Pflanzenschutz zum Einsatz, und neue Züchtungen von Nutzpflanzen und Tieren verbesserten die Produktivität. "Durch den Mangel vor und nach dem Krieg und geblendet vom Fortschrittsglauben haben wir die Frage der Nachhaltigkeit unserer Wirtschaftsweise verdrängt", sagt Bauer Hümme mit Bedauern. "Wenn Produkte nur noch einen Markt finden, wenn der Preis stimmt und billiger als bei der Konkurrenz ist, dann muss kostenoptimiert gewirtschaftet werden, um ein auskömmliches Einkommen zu erwirtschaften. Wirtschaftseffizienz durch Wachstum und Fortschritt ist Pflicht." Welche Folgen dies aber für seine Tierhaltung hat, sieht der kritische Landwirt mit unverhohlenem Grausen. "Kosteneinsparung durch bessere Futterverwertung, so lautet heute die Überlebensparole für uns Schweinehalter. Tierwohl wird vom Markt nicht als Leistung honoriert."

Futter wird immer teurer, und die Schweinehaltung in Deutschland hängt am Tropf der Sojaimporte aus Übersee. Ein Mastschwein muss täglich rund drei Kilo Futter fressen, um ein Kilogramm an Körpergewicht pro Tag zuzulegen. Zum Vergleich: Nehmen Sie einmal beim Einkauf drei Kilopakete Müsli in die Hand und überlegen Sie dann, ob und wie Sie diese Menge bis zum Abend aufessen können. Mastschweine müssen das leisten. Ihnen bleibt außer dem Fressen auch keine weitere Möglichkeit der Beschäftigung. Verhaltensstörungen sind häufig die Folge. Bei Schweinen ist die Suche nach Nahrung untrennbar verbunden mit lustvollem Stöbern und Wühlen. Damit würden sie unter artgemäßen Haltungsbedingungen mehr als zwei Drittel des Tages verbringen. Das wird ihnen verwehrt. Sie nehmen das Mastfutter in Rekordzeit auf und werden trotzdem nicht richtig satt, weil im Futter zu wenige Ballaststoffe sind. Diese würden die Verdauung verlangsamen und damit den täglichen Zuwachs verringern, was den Ertrag schmälert.

Auch Bewegung im Schweinestall ist unerwünscht, wenn schnelles Wachstum und gute Futterverwertung zum Maß aller Dinge gemacht werden. Bewegung verbraucht Kalorien, die aus dem teuren Futter stammen. Wer sparen will und es schafft, dass seine Schweine nur noch 2,6 statt 3 Kilo Futter pro Kilogramm Zuwachs fressen müssen, spart pro Tier und Mastperiode mehr als neun Euro Kosten ein. "Das kann für einen Betrieb überlebenswichtig sein", erklärt Landwirt Hümme. Für die Schweine aber steigt damit der Leistungs- und Leidensdruck. Eine Entschleunigung im Stall würde das Leid mindern helfen.

PROVIEH sieht noch zahlreiche weitere Beispiele, wie durch eine langsamere und achtsamere Wirtschaftsweise Leid von Nutztieren abgewendet werden könnte. So werden Ferkel viel zu früh von ihren Müttern getrennt, Hochleistungskühe werden schon nach zwei bis drei Laktationsperioden an ihre physiologischen Belastungsgrenzen gebracht, und Hühner und Puten werden elendig schnell auf Schlachtreife getrimmt. "Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen", wird Mahatma Gandhi zitiert. Der Anwalt und Asket war nicht nur der geistige Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung im 20. Jahrhundert. Er kämpfte auch mit Nachdruck für ein neues, autarkes, von der bäuerlichen Lebensweise geprägtes Wirtschaftssystem. Vielen Vegetariern und Veganern unter den PROVIEH-Mitgliedern wird ein weiterer Ausspruch des friedfertigen Rebellen bekannt sein: "Ich glaube, dass spiritueller Fortschritt an einem gewissen Punkt von uns verlangt, dass wir aufhören, unsere Mitlebewesen zur Befriedigung unseres körperlichen Verlangens zu töten." Und allen Fleischessern, die sich mit PROVIEH für mehr Tierwohl und eine Entschleunigung im Stall einsetzen, sei folgender Ausspruch von Gandhi mit auf den Weg gegeben: "Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier."

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 1/2013, Seite 6-9
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2013