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BERICHT/097: Nordwind Festival - Vollverwandlungen ... (SB)




GULA von Choreograph und Tänzer Vincent Sekwati Koko Mantsoe ist Part 2 am Abend des 9. Dezembers 2017 im Rahmen des NORDWIND Festivals[1] auf Kampnagel.

Die stimmliche Wiedergabe von Pfeifen bzw. Zwitschern ist immer schon Teil »afrikanischer« Kultur bzw. Tradition gewesen; die Kunst, sich im Raum zu bewegen bzw. Raum zu definieren bietet eher eine heilige Bühne, um mit der Natur oder mit Tieren zu kommunizieren. Das Vokabular meiner Arbeit erzählt einfach von Menschen und Menschheit, dem natürlichen Lauf der Dinge, der Überführung des Geistes eines Menschen in den eines Vogels.[2]
Vincent Sekwati Koko Mantsoe


Gespannte Stille. Der Raum ist dunkel. Alle Scheinwerfer sind ausgeschaltet und das Publikum kniet, sitzt oder hockt erwartungsvoll an den vier Wänden des Theaters. Man hört, wie sich eine Tür öffnet und gleich darauf wieder schließt. Schritte sind zu vernehmen, die sich von einer Ecke aus durch den Raum bewegen und schließlich in der Mitte des Tanzteppichs innehalten. Plötzlich ertönt ein Vogelzwitschern. Nein, es ist doch ein menschliches Pfeifen. Es ruft nach jemandem oder etwas.

Langsam erhellen die Scheinwerfer den Raum und präsentieren einen afrikanischen Mann, der weite wadenlange Hosen mit einem Vogelmuster trägt. Sein weißes T-Shirt hat er sich zur Hälfte über den Kopf gezogen, sodass man sein Gesicht nicht erkennt. Er beginnt sich langsam aber zielstrebig diagonal durch den Raum zu bewegen, mit einer Hand sein T-Shirt festhaltend, den anderen Arm in die Luft gestreckt. Währenddessen gibt der Tänzer immer wieder Laute von sich, die dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, dass sich ein Vogel mit ihnen im Raum befindet. Ein Pfeifen, ein Zwitschern - als ob er einen anderen Vogel anlocken wolle.

Im nächsten Moment befreit er sein Gesicht von dem Shirt und es findet eine Verwandlung statt. Der Tänzer ist nunmehr nicht nur ein Mensch, sondern stellt etwas Animalisches dar. Sein Kopf zuckt - wie man es von Tauben kennt, die auf der Straße nach etwas Essbarem Ausschau halten - hin und her und rauf und runter; alles sehr akzentuiert.

Der Körper des Tänzers unterstützt das Bild des Vogels, indem er wellenartige Bewegungen durch seinen Oberkörper sowie auch durch seine Arme laufen lässt und somit die Illusion von Flügeln und einem atmenden kleinen Vogelkörper erzeugt.

Plötzlich bricht er die langsam erzeugte Spannung des Raumes auf, indem er sich schnell in die entgegengesetzte Diagonale vorwärts bewegt. Dies vollzieht er durch Sprünge und Stampfen und erzeugt somit die Illusion eines suchenden Vogels. Das animalische Pfeifen und Zwitschern kehrt zurück, während er sich den weißen Stoff erneut über den Kopf zieht und seine Bewegungen ihn zurück in einen Menschen 'verwandeln'.

Diese Szenen haben in Stille stattgefunden mit Ausnahme des Zwitscherns. Doch nun ertönt ein Musikstück, das hauptsächlich von Percussion dominiert wird, jedoch ebenfalls eine Melodie integriert, die von einer 'Hang drum' gespielt wird. Der Tänzer entledigt sich des T-Shirts vollends und verwandelt sich zum letzten Mal vom Menschen zum Tier. Die Bewegungen werden wieder animalisch, tragen ihn durch den gesamten Raum, wobei er dem Publikum sehr nahe kommt und man jeden Atemzug vernehmen kann.

Zum Ende des Stückes verstummt die Musik und das Zwitschern kehrt zurück, sowie auch die suchenden Kopfbewegungen. Das Licht geht aus und das Publikum verfällt in begeisterten Applaus.


Portrait von Vincent Sekwati Koko Mantsoe - Foto: © 2017 by Schattenblick

Vincent Sekwati Koko Mantsoe
Foto: © 2017 by Schattenblick

Vincent Sekwati Koko Mantsoe (46), der aus Soweto in Südafrika stammende Tänzer und Choreograph, kreiert schon seit weit über 20 Jahren Tanzproduktionen. In seinen Schaffensprozessen beschäftigt er sich mit den unterschiedlichsten Themenbereichen, die jedoch immer auf eine gewisse Art mit seiner Herkunft und Kultur in Verbindung stehen. Denn Vincent Mantsoe gehört einer Linie von Sangomas an, traditionellen Heilern, die in afrikanischen Kommunen einen hohen Stellenwert einnehmen. Die Sangomas oder auch Schamanen leiten traditionelle Heilungsrituale in ihren Stämmen, während derer sie sogenannte 'trance dances' durchführen. Diese Tänze stellen einen wichtigen Teil der Rituale dar, da die Sangomas sich durch die tänzerischen Bewegungen in eine Trance versetzen und somit in Kontakt mit den 'Spirits', den Geistern ihrer verstorbenen Vorfahren, treten. Durch diese Rituale wird nicht nur physisches Leiden geheilt, sondern die Sangomas fungieren auch als eine Art Psychologen für viele ihrer Stammesmitglieder, da nach ihrem Glauben Körper und Geist in Balance miteinander sein müssen, um auch physische Gesundheit zu erreichen.

Tanz spielt demnach eine entscheidende Rolle in vielen afrikanischen Stämmen. Somit wuchs Vincent Mantsoe mit traditionellen Bewegungen auf. Sein Wissen über Tanz, sowie auch sein gesamtes Bewegungsrepertoire wurde jedoch stark geprägt, als er 1992 ein einjähriges Stipendium an der 'Moving into Dance' Schule in Newtown in Südafrika erhielt. Hier kam er zum ersten Mal in Kontakt mit zeitgenössischem Tanz, sowie Ballett, Jazzdance und vielen anderen Tanzformen.

1993 entwickelte Mantsoe GULA als Teil des Stipendiums und kreierte somit sein eigenes Tanzstück, welches seitdem viele Preise gewann. Im Original war GULA (übersetzt: Vogel) ein nur 2-minütiges Solo-Stück. Doch mit der Zeit wurde das Solo länger und ebenfalls zu einem Gruppenstück erweitert. Bis heute wurde GULA bereits weltweit performt, ob als Solo oder in der Gruppe.

Vincent Mantsoe ist durchweg für seinen ganz eigenen, ehrlichen und ausdrucksstarken Stil bekannt. Er kreiert Stücke in 'Afro-Fusion', was bedeutet, dass er afrikanische Einflüsse mit zeitgenössischem Tanz vereint, jedoch innerhalb der Bewegungen immer seinen schamanistischen Wurzeln treu bleibt.



GULA (Bird) (Vogel)
Choreograph und Tänzer: Viencent Sekwati Koko Mantsoe
Musik: von Gabrielle Roth and The Mirrors
Zeit: 20 Minuten
Keine Sprache



Anmerkungen:

[1] Als Teil des NORDWIND Festivals auf Kampnagel wurden am Samstag, den 9. Dezember 2017, die Tanzperformances Part 1 JE(U) von Laurent Chétouane (Choreographie) und Mikael Marklund (Choreographie und Tanz) und Part 2 GULA von dem Choreographen und Tänzer Vincent Sekwati Koko Mantsoe aufgeführt.
»JE(U)« und »GULA« von Laurent Chétouane und Vincent Sekwati Koko Mantsoe finden statt im Rahmen von 'Songs of a melting iceberg - Displaced without moving', ein Projekt im Rahmen von NORDWIND, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds Berlin und weiteren Institutionen. In Kooperation mit Kampnagel Hamburg, Silent Green, SAVVY Contemporary, Kunstquartier Bethanien, KW Institute for Contemporary Art, XJAZZ Festival Berlin, Theater der Nationen in Moskau.
http://www.kampnagel.de/de/programm/jeu-gula/?rubrik=archiv

[2] Vincent Sekwati Koko Mantsoes Antwort auf eine Frage von Melanie Zimmermann, Tanzdramaturgin auf Kampnagel, die Vorgehensweise betreffend: "... das körperliche Material im Raum zu verorten"; aus dem Tagesflyer zur Veranstaltung am 9. Dezember 2017.


13. Dezember 2017


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