Als Teil des NORDWIND Festivals[1] fanden am Samstag, den 9. Dezember 2017, auf Kampnagel die Tanzperformances GULA von dem Choreographen und Tänzer Vincent Sekwati Koko Mantsoe und JE(U) von Laurent Chétouane (Choreographie) und Mikael Marklund (Choreographie und Tanz) statt.
"Den ersten Teil des geteilten Abends stellt JE(U), ein Solo des
Tanz- und Körperphilosophen sowie Kampnagel-Stammgasts Laurent
Chétouane. In dieser Arbeit wagt sein schwedischer Tänzer Mikael
Marklund eine neue tänzerische Selbsterfahrung. Nichts Visuelles soll
die Bewegung bestimmen, sondern der Körper selbst, seine Schwere und
Materialität. Chétouane inszeniert ein melancholisches Spiel mit der
eigenen Fremdheit ..."
(Vorankündigung: http://www.kampnagel.de/de/programm/jeu-gula/)
In einem großen quadratisch angelegten Raum plazierten sich fünfzig
Menschen um die Tanz-/Bewegungsfläche. Auch der Choreograph Laurent
Chétouane saß unter ihnen. Er hatte vor Beginn der Performance darum
gebeten, die Zuschauer möchten am Boden Platz nehmen, um das Stück
aus einer ihm angemessen Sicht wahrnehmen
zu können. Gespanntsein war zu spüren. Es wurde still. Beides hielt an
bis zum Ende der Darstellung. Die Form des Raumes und die Verteilung
der Zuschauer um die Fläche herum erzeugten gleich zu Beginn
eine erhöhte Konzentration, welche sich in einem herkömmlichen
Theatersaal erst aufbaut, wenn
der Vorhang sich öffnet oder das Licht ausgeht. Hier war die Spannung
von Anfang an gegeben. Gewartet wurde nur noch auf den Tänzer. Aber
der saß bereits mitten unter ihnen.
Durch Bewegung gibt er sich zu erkennen. Zuerst lockern sich
die Beine, strecken sich aus. Der Körper folgt ihnen aus der sitzenden
Position heraus flach auf den Boden gleitend und dort vom Rand
wegstrebend in den Raum hinein, wo er innehält und wie schlafend zu
liegen kommt. Sich wieder bewegend, rollt und dreht sich der Körper
über den Boden, verdreht die Gliedmaßen, stellt Teile davon auf und
legt sie wieder ab, formt eckige Gebilde mit Armen oder Beinen und
weicht diese wieder auf. Der Körper verrenkt sich, das Unmögliche
suchend.
Langsam richtet der Körper sich auf; von einem imaginären
Marionettenfaden nach oben gezogen? Dann, als ziehe er sich selbst
hinauf. Der Körper betrachtet sich in all seinen Facetten, die Hand
wird zum Spiegel. Bewunderung ist auf dem Gesicht zu lesen. In
aufrechter Haltung bestaunt er die Welt. Mehr Bewegung kommt in sein
Spiel - 'Jeu', wie der Name schon sagt. Der Körper dreht sich im Raum,
füllt ihn, gelangt an Grenzen - des Raumes, an seine eigenen? Er
strebt hinein in den Raum. Rückwärts gehend ertastet er sich selbst.
Dann mit ausgestreckten Armen sucht er nach der Substanz um sich
herum. Erneut nimmt er den Raum ein, besetzt ihn. Ein Sprung. Ein
Flug? Ein Hüpfer. Der Körper kreiert balettähnliche Figuren. Staunt.
Oh welch ein Wunder. Hält inne.
Er kehrt zurück auf alle Viere, legt sich nieder. Das Gesicht spiegelt
den Ausdruck: Was soll das? Wo bin ich hier? Der Körper richtet sich
auf, dreht sich, nimmt die Arme zuhilfe. Tänzerische Figuren
entstehen. Der Körper sucht, erfährt den aufrechten Gang, dann
drehendes Fallen ohne aufzukommen. Rückwärts gehen, vorwärts
schreiten, den ganzen Raum einnehmen und annehmen. Der Körper wird zur
Schlenkerpuppe und bald wieder Körper mit festen Teilen.
Vom Raum zur Wand strebend - die Wand wird zum Boden -, die Wand
ertastend, sich ihr entgegen und wieder von ihr wegstreckend tritt er
in Kontakt zum Publikum. Blickkontakt, der nicht erwidert wird, dem
ausgewichen wird, aus Angst? Angst vor der Einbeziehung in die
Bewegung? Und doch ist das Gegenüber schon mittendrin.
Die Wand wieder verlassend, den Boden suchend, den Raum einnehmend vom Boden aus.
Verrenkungen, Zittern am ganzen Körper. Vierfüßlerstand: Rückwärts
oder vorwärts gehend? Das ist hier das Spiel. Während die Beine und
Hände rückwärts gehen, geht der Kopf, der zwischen den Beinen
geradeaus blickt in Richtung, in die die Beine rückwärts laufen - ein
Paradox. Bis zur Mitte des Raumes bewegt sich der Körper auf diese
Weise, dann richtet er sich auf, staunt. Sich drehend ertasten die
Hände den Körper und empfangen Geborgenheit. Pirouetten entstehen, der
Raum wird weiter erforscht durch Drehen, seitwärtiges Laufen, Vorwärts-
und Rückwärtsgehen auf das Publikum zu. Wechselnde Tanzfiguren,
wieder Niederbücken. Der Körper erscheint skelettlos. Ein merkwürdig
abgewinkelter Arm im Gegensatz zur im nächsten Augenblick wieder
entstehenden Schlenkerpuppe. So fällt er auf den Rücken und bewegt
sich, als sei er technisch programmiert, staunt, sucht mit dem Blick
nach oben gerichtet - den Himmel? Dann zur Tür strebend, doch kein
Durchgehen, sich nicht entfernen, sondern wieder in die Menge
abtauchen, am Rande Platz nehmen, sich umschauen und warten ...
Warten worauf? Auf die Reaktionen der anderen, die betroffen reagieren, nicht wissen, was jetzt kommt, ob JE(U) zu Ende ist oder gerade mittendrin, sie lenken sich ab, schauen hierhin, dorthin, blicken auf ihr Handy, kichern und flüstern bis ein einsames Klatschen nach gespannten fünf Minuten die Spannung durchbricht und andere Hände auffordern, sich ihnen anzuschließen.
JE(U), Laurent Chétouane
Foto: © Matija Lukic
JE(U) - sowohl ich (je) als auch das Spiel (jeu) - ist wie das Erwachen der Menschheit, das Darstellen seiner Entwicklungsgeschichte. Je (ich) kann auch gleichgesetzt werden mit Körper. Denn "ich" bin ein Körper. Auf die Frage, warum Laurent Chétouane dem Körper und seinen Möglichkeiten so auf den Grund geht, antwortet er: "Der Körper interessiert mich. Das Körperliche ist das, was man nie zeigt, was uns fremd ist. Der Körper ist aber das, was uns zusammenbringt."
Bei der Performance war eindeutig zu spüren, daß dieses Einmannstück das Publikum bewegt. Sie, die mehr Teilnehmer der Performance anstatt Zuschauer waren, fühlten sich eindrücklich berührt. Es gab Stimmen, die diese Erfahrung als Anregung für ihre eigene künstlerische Arbeitswelt mitnehmen konnten, und andere, die am liebsten direkt vor Ort in das Spiel von JE(U) mit eingestiegen wären. Was hielt sie zurück?
Gefragt, wie die Resonanz ansonsten beim Publikum sei, war die Antwort: "Sehr unterschiedlich. Manche weinen, andere zeigen gar nichts." Chétouanes Wunsch: Das Interesse des Publikums soll für den Körper des Tänzers geweckt werden. Sie sollen den Körper anschauen, nicht die Bewegungen. Sie möchten die Sache auf sich wirken lassen. "Hier ist der Tänzer. Er IST, er zeigt nicht, er teilt den Raum mit dem Publikum, er IST mit den Zuschauern. Er sucht nach den richtigen Fragestellungen." - "Zum Beispiel nach dem Himmel?" - "Vielleicht, er sucht etwas oben. Er sucht und richtet sich nach oben auf, in die Vertikale. Wie das Kind, das zuerst nach oben schaut und so das Begehren hat, nach oben zu gehen, sich aufzurichten. So entsteht das Aufstehen."
Laurent Chétouane arbeitet sowohl für das Theater als auch im Bereich Tanz. Er bringt beide Bereiche auf seine eigene Art zusammen. Nach seiner Intension gefragt, gibt er bereitwillig Auskunft: "Beim Tanzen steht die Bewegung im Vordergrund nicht der Körper. Der Tanz versteckt oder bedeckt den Körper. Prinzipiell ist der Körper das, was wir am wenigsten kennen und was uns immer fremd bleibt." Im Gegensatz zum Tanz vergesse der Körper nicht die Zeit. Klar, beim Tanz werde der Takt gezählt, eins zwei drei, aber ansonsten habe Tanz mit Raum zu tun, nicht mit Zeit oder Tod. "Der Körper aber vergißt die Zeit nicht. Er hat mit Zeit, Zeitlichkeit und Tod zu tun. Das interessiert mich."
Mikael Marklund
Foto: © 2017 by Schattenblick
Der schwedische Tänzer Mikael Marklund studierte Tanz an der Ballett Akademie in Stockholm (2002 - 2004), anschließend ließ er sich bei P.A.R.T.S. in Brüssel ausbilden, danach war er Mitglied von Anne Teresa De Keersmaekers Kompanie Rosas (2009 - 2012). Ab 2012 beteiligte er sich an allen Produktionen von Laurent Chétouane.
Eine Choreographie beinhaltet meist einen vorgeplanten Ablauf des Stücks, eine Dramaturgie. JE(U) wurde bereits früher aufgeführt im Juni 2016 auf dem Spider Festival in Ljubljana. Inwieweit hat sich das Stück bzw. die Aussage verändert oder erweitert, wurde tiefer in die Thematik des Körperlichen vorgedrungen? Auf diese Fragen antwortet der Tänzer Mikael Marklund, daß es jedes Mal anders sei, es gäbe bestimmte festgelegte Sequenzen, aber ansonsten sei jede Vorstellung einzigartig, da sie abhängig sei von den räumlichen Möglichkeiten und nicht zuletzt auch von den einbezogenen Zuschauern.
Gespannt sein kann das Publikum auf zwei weitere Stücke, die der Choreograph Laurent Chétouane und der Tänzer Mikael Marklund gemeinsam auf die Bühne bringen wollen. Im April des kommenden Jahres werden sie mit "Out of Joint / Partita 1" und "Duett für hörende Körper (working title) premiere" wieder auf Kampnagel zu sehen sein.
JE(U) mit Publikum: Eine Improvisation
Choreographen: Laurent Chétouane und Mikael Marklund
Tänzer: Mikael Marklund
Zeit: 30 Minuten
Keine Sprache
Den zweiten Teil des Abends gestaltete Vincent Sekwati Koko Mantsoe
mit seinem Stück GULA (Vogel). Dazu mehr in einem weiteren Bericht.
Anmerkung:
[1] »JE(U)« und »GULA« von Laurent Chétouane und Vincent Sekwati Koko
Mantsoe finden statt im Rahmen von 'Songs of a melting iceberg -
Displaced without moving', ein Projekt im Rahmen von NORDWIND,
gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds Berlin und weiteren
Institutionen. In Kooperation mit Kampnagel Hamburg, Silent Green,
SAVVY Contemporary, Kunstquartier Bethanien, KW Institute for
Contemporary Art, XJAZZ Festival Berlin, Theater der Nationen in
Moskau.
http://www.kampnagel.de/de/programm/jeu-gula/?rubrik=archiv
13. Dezember 2017
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang