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MELDUNG/2111: Mittelgewicht um eine Attraktion reicher (SB)



Jermall Charlo steigt eine Gewichtsklasse auf

Wie seit längerem erwartet, hat Jermall Charlo den Aufstieg ins Mittelgewicht nun auch offiziell vollzogen. Der IBF-Weltmeister im Halbmittelgewicht legte seinen Titel nieder und kündigte an, er wolle sich künftig anspruchsvolleren Aufgaben stellen. Er habe schon geraume Zeit einen Wechsel der Gewichtsklasse in Erwägung gezogen, da es ihm bei seiner letzten Titelverteidigung sehr schwer gefallen sei, im Limit zu bleiben. Als er damals Weltmeister geworden sei, habe er den Gürtel bald darauf verteidigt, da er sich nicht sicher gewesen sei, wie lange er noch im Halbmittelgewicht antreten würde. Für Austin Trout und Julian Williams habe er dann aber noch ein Jahr angehängt. Jetzt sei die Zeit gekommen, im Mittelgewicht anzutreten, wo er sich nicht vor seinen Auftritten quälen müsse und sein volles Leistungsvermögen zur Entfaltung bringen könne. Champion in der zweiten Gewichtsklasse zu werden sei sein großes Ziel.

Charlos Schritt ist naheliegend und nachvollziehbar, zumal ihm in seinem angestammten Limit die angemessenen Gegner ausgegangen sind. Mit dem Kubaner Erislandy Lara (WBA) ist er befreundet und ebensowenig würde er mit seinem Zwillingsbruder Jermell (WBC) in den Ring steigen. Von diesen beiden Weltmeistern abgesehen bliebe im Grunde nur noch Demetrius Andrade, der jedoch nicht populär genug ist, um mit ihm einen wirklichen lukrativen Auftritt auf die Beine zu stellen. Jermall Charlo ist also mitnichten ein Boxer, der die Gewichtsklasse wechselt, weil er einer allzu gefährlichen Konkurrenz aus dem Weg gehen will.

Sein Debüt im Mittelgewicht ist für Mai angekündigt, ein passender Gegner wird noch gesucht. Vermutlich fällt die Wahl auf einen anspruchsvollen Kandidaten, da man Jermall Charlo ohne weiteres zutraut, in den höchsten Rängen dieser Gewichtsklasse mitzumischen, ja womöglich sogar in absehbarer Zeit um deren Führerschaft zu kämpfen. Er boxt so präzise, geschwind und wirkungsvoll, daß Gennadi Golowkin an ihm seine Freude haben würde. Dem Kasachen fehlt bekanntlich nur noch der Gürtel der WBO, um seine Trophäensammlung zu komplettieren. Davon abgesehen gehen ihm die allermeisten namhaften Rivalen tunlichst aus dem Weg, so daß er unablässig hochklassigen und einträglichen Kämpfen nachlaufen muß. Mit Charlo taucht endlich ein würdiger Widersacher auf, der vermutlich keine Angst hat und ihm einen Kampf auf Biegen oder Brechen liefern könnte.

Der 26jährige Charlo ist in 25 Kämpfen ungeschlagen, für den acht Jahre älteren Kasachen stehen 36 gewonnene Auftritte zu Buche, von denen er 33 vorzeitig beendet hat. Golowkin, der 2008 zum letzten Mal über die volle Distanz gehen mußte, ist in diesem Jahr allerdings so gut wie ausgebucht. Er trifft zunächst am 18. März im New Yorker Madison Square Garden auf Daniel Jacobs, den regulären Weltmeister der WBA, und dann im September auf Saul "Canelo" Alvarez, sofern der Mexikaner nicht abermals kalte Füße bekommt und mittels einer weiteren windigen Ausflucht das Gipfeltreffen vertagt. Man sagt "Canelo" und seinem gewieften Promoter Oscar de la Hoya nach, sie wollten Golowkin solange vertrösten, bis er aus Altersgründen nachlasse und zur leichten Beute werde. Da der stets in Bestform antretende Kasache aber keinerlei körperliche Probleme erkennen läßt, könnte das bis in alle Ewigkeit dauern.

Sollte "Canelo" seine Zusage brechen, weil sich Golowkin beispielsweise nicht mit einem Bruchteil der Einkünfte abspeisen läßt, könnte Jermall Charlo womöglich bereits im Herbst gegen den Kasachen zum Zuge kommen. Das ist jedoch recht unwahrscheinlich, da sich auch mit WBO-Weltmeister Billy Joe Saunders, dessen britischem Landsmann Chris Eubank jun. oder Daniel Jacobs gute und einträgliche Kämpfe auf die Beine stellen ließen, in denen Charlo in seiner neuen Gewichtsklasse in aller Ruhe Maß nehmen könnte, ohne sich zu überfordern.

Für Saul Alvarez und die Golden Boy Promotions ähnelt die Ankunft Jermall Charlos eher einer Hiobsbotschaft, da der Neuzugang die langgehegten Pläne zu durchkreuzen droht, Golowkins irgendwann einsetzenden Alterungsprozeß auszusitzen, um dann zuzuschlagen und das Mittelgewicht fortan mit eiserner Faust zu regieren, um es einmal etwas pathetisch auszudrücken. Den gleichaltrigen Charlo kann der Mexikaner nicht abwettern, und da der Texaner aus Houston den Eindruck erweckt, er könne noch zehn Jahre in bester Verfassung boxen, stünde "Canelo" an einer zweiten Front vor dem Problem, einen gefährlichen Gegner zu meiden, ohne sich in den Augen des Publikums zu diskreditieren. Wenngleich ihm seine begeisterungsfähige mexikanische Fangemeinde für immer und ewig die Treue halten wird, sofern er nicht gerade auf ihrer Ehre "herumtrumpelt", braucht ein Star des Bezahlfernsehens noch andere zahlungskräftige Zuschauer, um seine Tasche mit Millionen zu füllen.

Wartet Alvarez erst einmal ab, wie sich Charlo entwickelt, läuft er Gefahr, von dem talentierten Rivalen in den Schatten gestellt zu werden. Vor dessen Kampf gegen Julian Williams im Dezember ging man von einem Duell auf gleicher Augenhöhe aus, über dessen mutmaßlichen Sieger man sich streiten könne. Jermall Charlo bot jedoch einen überlegenen Auftritt, schlug den Kontrahenten dreimal nieder und konnte bereits in der fünften Runde eine weitere erfolgreiche Titelverteidigung feiern. Auch gegen Austin Trout, Wilky Campfort und Cornelius Bundrage machte Charlo eine gute Figur, wobei lediglich Trout volle zwölf Runden durchhielt. Das dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, daß Charlo nach glänzend geboxten sechs Runden plötzlich die Luft ausging, was vermutlich auf das extreme Abkochen vor dem Wiegen zurückzuführen war. "Canelo" ist in Charlo ein Rivale erwachsen, den zu besiegen außerordentlich schwer sein dürfte.

Bleibt noch nachzutragen, was aus dem nunmehr vakanten IBF-Titel im Halbmittelgewicht wird. Um Jermall Charlos Erbe streiten am 25. Februar in Birmingham, Alabama, Tony Harrison und Jarrett Hurd. Wollte man eine Prognose wagen, bekäme Hurd den Zuschlag, der als technisch versierter Boxer gilt, wenngleich er an seiner Defensive und dem Durchhaltevermögen noch arbeiten muß. Die beiden werden einander wohl einen sehenswerten Kampf liefern, was nichts daran ändert, daß Charlos verwaiste Stiefel eine Nummer zu groß für sie sind. [1]


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/02/jermall-charlo-moves-160-go-big-fights/#more-227569

19. Februar 2017


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