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SCHULE/484: Chemiedidaktik - Was Schüler aus Modellexperimenten lernen (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin 2/216
Ruhr-Universität Bochum

CHEMIEDIDAKTIK


Was Schüler aus Modellexperimenten lernen

von Julia Weiler


Wenn es im Chemieunterricht knallt und brennt, haben Schüler meistens Spaß. Aber nehmen sie aus den Versuchen auch das mit, was sie verstehen sollen?


Wer sich an Chemiestunden in der Schule erinnert, dürfte das eine oder andere Modellexperiment vor Augen haben. Sie wären aus dem Unterricht nicht wegzudenken. Kaum ein Thema, zu dem es nicht auch einen Modellversuch gibt. Forschung gibt es dazu bislang aber keine.

Das möchte Prof. Dr. Katrin Sommer vom Lehrstuhl für Didaktik der Chemie der RUB ändern. Gemeinsam mit ihrem Team erforscht sie, inwieweit Modellexperimente helfen, Schülerinnen und Schülern den gewünschten Lernstoff beizubringen. Häufig wird den Kindern dabei eine gewisse Transferleistung abverlangt. Sie müssen eine Analogie zwischen Modellexperiment und Original erkennen.


Explosion im Chemieunterricht

In der siebten Klasse steht das Thema "Brände und Brandbekämpfung" auf der Agenda. Um zu verdeutlichen, wie eine Explosion entsteht, nutzen Lehrkräfte gern das Beispiel der Bremer Rolandmühle. Durch einen Kabelbrand kam es dort 1979 zu einer gewaltigen Mehlstaubexplosion. Das aufgewirbelte Weizenmehl bildete mit der Luft ein brennbares Stoffgemisch, das sich vermutlich an einem glühenden Kabel entzündete.


Staubexplosion

Ein Gemisch aus Staub und Luft kann explodieren, wenn der Staub aus brennbarem Material wie Mehl besteht. Je kleiner die Partikel, desto größer ist ihre gesamte Oberfläche und desto höher die Explosionsgefahr. Ein Funke kann reichen, um das Gemisch zu entzünden. Die Bremer Rolandmühle ist nur ein Beispiel dafür. Auch Farbpulver, das auf manchen Partys in die Luft geworfen wird, kann explodieren. Besonders brisant ist es daher, wenn es zusammen mit Pyrotechnik zum Einsatz kommt.


Das Unglück lässt sich auch mit einem Experiment im schulischen Chemieraum modellieren. Allerdings in der Regel nicht mit einem glühenden Kabel als Zündquelle, sondern mit einer Kerze, und nicht mit echtem Weizenmehl, sondern mit anderen Pulvern. Sommer erklärt den Grund für die Abweichung: "Weizenmehl wird relativ schnell feucht, dann funktioniert das Experiment nicht mehr." Viel zuverlässiger gelingt die Demonstration mit anderen Modellsubstanzen. Denkbar sind etwa Bärlappsporen, Maismehl oder Toner.


Toner statt Weizenmehl

Während hellgelbes Maismehl zumindest ähnlich heißt und aussieht wie Weizenmehl, ist der schwarze Toner namentlich und optisch weit von der Originalsubstanz entfernt. Ob das einen Einfluss auf das Verständnis der Schülerinnen und Schüler hat, hat Sommers ehemaliger Doktorand Dr. Henning Steff in seiner Promotion untersucht.

An der Studie nahmen insgesamt 234 Schülerinnen und Schüler aus neun siebten Klassen in NRW teil. Das Team testete sie im Alfried-Krupp-Schülerlabor an der RUB.


Stationenlernen im Schülerlabor

Im Schülerlabor absolvierten die Kinder zunächst ein Stationenlernen, wobei sie fünf verschiedene Versuche selbst durchführten, unter anderem eine Staubexplosion - mit einer neu entwickelten Apparatur; aber dazu später mehr. Ein Drittel der Kinder realisierte die Explosion mit der Originalsubstanz Weizenmehl, ein weiteres Drittel mit der original-nahen Substanz Maismehl, das letzte Drittel mit der original-fernen Substanz Toner. Die übrigen vier Experimente waren für alle Gruppen identisch und gingen nicht in die Analyse der Studie ein.

Nach den Experimenten lösten die Schülerinnen und Schüler zwei Aufgaben. Bei der ersten sahen sie einerseits Fotos der fünf Modellexperimente vom Stationenlernen und hatten andererseits fünf kurze Texte vorliegen, die reale Sachverhalte beschrieben, zum Beispiel einen Unfall oder einen technischen Prozess. Aufgabe war es, die Bilder den Sachverhalten zuzuordnen.


Toner erschwert Wissenstransfer

Die Kinder, die den Versuch mit Weizen- oder Maismehl durchgeführt hatten, konnten das Foto vom Modellexperiment "Staubexplosion" gut dem Text über die Mehlstaubexplosion in der Bremer Rolandmühle zuordnen. 96,5 Prozent aus der Weizenmehl-Gruppe und 86 Prozent aus der Maismehl-Gruppe antworteten richtig. Aus der Gruppe, die mit der original-fernen Substanz Toner gearbeitet hatte, lösten hingegen nur rund 56 Prozent der Kinder die Aufgabe.

Je weiter die Modellsubstanz optisch von der Originalsubstanz entfernt war, desto schwieriger war es also für die Kinder, den Zusammenhang zu dem konkreten Sachverhalt - der Mehlstaubexplosion - zu sehen. Heißt das, dass sie aus Modellversuchen schlechter lernen, wenn die verwendeten Stoffe zu weit vom Original abweichen?

"Das kann man so pauschal nicht sagen", erklärt Christina Toschka, Doktorandin in der Didaktik der Chemie, die die Studien zu Modellexperimenten von Henning Steff fortsetzt. "Welche Substanz man einsetzen sollte, hängt davon ab, was man den Kindern beibringen möchte."

Führt ein Lehrer den Modellversuch mit der Originalsubstanz durch, können die Kinder ihn leichter auf das konkrete Ereignis übertragen. "Aber wenn man den Schülerinnen und Schülern das generelle Konzept einer Explosion beibringen möchte, könnte es eher ablenken, wenn Modell- und Originalsubstanz identisch sind", so Toschka. Diese Vermutung ergab die Auswertung der zweiten Aufgabe, die die Kinder im Schülerlabor nach dem Stationenlernen absolvierten.

In dieser Aufgabe bekamen sie ein Bild des Modellexperiments Staubexplosion vorgelegt. Sie sollten die einzelnen Komponenten beschriften und angeben, welchen Komponenten sie bei der Explosion in der Bremer Mühle entsprachen. Ein glühender Draht als Zündquelle im Modellexperiment entsprach zum Beispiel dem Kabel im Originalkontext.

Außerdem sollten die Schülerinnen und Schüler in ihren eigenen Worten beschreiben, wie es zu der Explosion gekommen war. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus. Ein Kind schrieb etwa: "Vielleicht sind irgendwelche bestimmten Stoffe im Weizenmehl, und wenn diese erhitzt werden und Luft dazu kommt, brennen sie." Eine andere Antwort lautete: "Sobald Luft dazu kam, wehte das Maismehl nach oben, und der Glühwendel glühte auf."

Nach einem genau definierten Kategoriensystem werteten die Forscher die Antworten aus. Entscheidend war zum Beispiel, ob die Kinder das Konzept eines brennbaren Stoffgemisches verstanden hatten.


Abstraktes Wissen erwerben

Hatten die Schüler das Modellexperiment mit der original-fernen Substanz Toner durchgeführt, konnten sie diese schwerer der Originalsubstanz Weizenmehl zuordnen. Dafür könnten sie ein abstrakteres Konzept von den Mechanismen einer Explosion erworben haben, vermuten die Forscher basierend auf den Schülerantworten. Dieser Idee wird Christina Toschka in ihren Studien weiter nachgehen.

Es ist also nicht pauschal zu sagen, dass es besser oder schlechter ist, mit original-nahen oder original-fernen Modellsubstanzen zu arbeiten. Eine original-ferne Substanz könnte eher den Konzepterwerb fördern. Eine original-nahe Substanz kann helfen, ein spezielles Ereignis zu verstehen. Abhängig vom Unterrichtskontext kann beides nützlich sein.

Die Forscher wollen kein Konzept vorschlagen, wie diese Erkenntnisse in den Unterricht einzubetten sind. Katrin Sommer erklärt: "Die Expertise ist bei den Lehrkräften aufgrund der Erfahrung vorhanden. Wir möchten die Lehrer dafür sensibilisieren, sich zu überlegen, was sie mit ihrem Modellexperiment erreichen wollen."


Apparatur garantiert Explosion

Dafür stellt das RUB-Team aus der Didaktik der Chemie etwas anderes Nützliches für den Unterricht bereit. Henning Steff entwickelte gemeinsam mit Kollege Thomas Philipp Schröder eine Apparatur, mit der sich die Staubexplosion zuverlässig durchführen lässt - mit verschiedenen Zündquellen und verschiedenen Substanzen. Ob Weizenmehl, Toner oder Farbpulver, die Bochumer Apparatur bringt alles zur Explosion.


Bastel-Workshop mit Lehrern

In einer Art Bastel-Workshop an fünf verschiedenen Orten in NRW haben Schröder und Steff ihre Erfindung bereits in die Praxis gebracht. Unterstützt vom Landesverband Nordrhein-Westfalen im Verband der Chemischen Industrie bauten sie die Apparatur mit hundert Lehrerinnen und Lehrern nach.

Nun kann die Staubexplosion an vielen nordrhein-westfälischen Schulen problemlos mit beliebigen Substanzen gezeigt werden.

Auch die Forschung zu den Modellexperimenten wird weitergehen. Christina Toschka konzipiert bereits neue Studien, die sich mit der Wahrnehmung von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Modellexperiment und Original beschäftigen. "Natürlich haben wir derzeit nur ein erstes kleines Forschungsergebnis vorliegen", sagt Sommer. "Es ist ein sehr weites Feld. Aber irgendwo muss man ja anfangen."

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin 2/2016, S. 42-45
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung mit dem
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2017

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