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SCHULE/301: Viele hören Musik bei den Schulaufgaben und können sich trotzdem konzentrieren (mundo/TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 12/10

Hornhaut auf den Ohren?
Viele Schülerinnen und Schüler hören Musik bei den Schulaufgaben und können sich trotzdem konzentrieren

Von Meike Jotzo


Das Geheimnis der Musik hat ihn fasziniert - und beschäftigt. Seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere erforscht Prof. Günther Rötter die Wirkung von Musik auf den menschlichen Körper, auf Verhalten und Gefühle. Er hat etliche Studien erstellt, bei denen stets gezeigt wurde, dass Musik den Körper aktiviert. Auch andere Forscher fanden, dass sich der Herzschlag beschleunigt, sich die Atemfrequenz erhöht und Hormone ausgeschüttet werden, um nur einen Teil der insgesamt 50 verschiedenen Parameter zu nennen. Eine seiner Studien führte 1990 beispielsweise zu dem Ergebnis, dass Musikhören beim Autofahren in hektischen Verkehrssituationen zu mehr Unfällen führte. Der Körper werde durch die Musik noch zusätzlich gereizt, sei also insgesamt überreizt. Dadurch werde die Aufmerksamkeit gestört. Das Ergebnis seiner neuesten Studie hat Rötter nach seinen bisherigen Erfahrungen somit überrascht: Laute Musik hat anscheinend keinen Einfluss auf die Konzentrationsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Ob sie nun Musik hören oder nicht, spielt keine Rolle. Sie erledigen ihre Aufgaben stets gleich gut oder gleich schlecht.

Welche Verantwortung er mit seinem Ergebnis trägt, dessen ist sich Rötter bewusst. Vorbei ist die Zeit, in der Eltern ihre Kinder ermahnen können, die Musik bei den Hausaufgaben auszustellen. Die Wissenschaft spricht nun nämlich gegen sie. Darum wollte der Musikwissenschaftler auch ganz sicher gehen. Er wiederholte sein Experiment. Einmal, zweimal. Stets war es das Gleiche: Die Schüler, die Musik hörten, konnten sich genauso gut konzentrieren wie diejenigen, die keine Musik hörten. Als Versuchspersonen wählten er, sein Student Erhard Strauß und der Lehrer Lars Hartmann insgesamt 88 Schüler der Holzkamp-Gesamtschule in Witten. Der Forschungsansatz war aus Rötters Seminar Angewandte Musikpsychologie im Wintersemester 2009/10 hervorgegangen. Für den ersten Durchlauf des Experiments sollten zwei zehnte Klassen ihre Konzentrationsfähigkeit an bestimmten Aufgaben beweisen, rund 30 Schüler pro Klasse. Nur die Schüler einer Klasse durften dafür ihre iPods, MP3-Player, Handys oder Sonstiges mitbringen. Hauptsache, sie hörten über Kopfhörer ihre eigene Musik. Denn, so Rötter: »Wir wollten keinen unnatürlichen Laborversuch machen, das Experiment sollte so nah wie möglich an der Realität stattfinden.« Also kein Bach, kein Mozart, aber auch kein HipHop, wenn die Schüler diese Musik nicht mochten. »Sie haben ihre Musik dann in Lautstärken gehört, die man auch außerhalb des Ohrhörers hören konnte«, berichtet Rötter. Eben ganz wie in der Realität. Der Musikwissenschaftler Rötter durfte bei dieser Gelegenheit übrigens die Bekanntschaft von so genannter 'Atzenmusik' machen, einer Mischung aus Ballermann und Techno. »Das erfordert schon eine gewisse Professionalität, sich damit zu beschäftigen«, meint Rötter und schmunzelt.

Konzentration ist eine Eigenschaft, die bei allen Arten von Hausaufgaben notwendig ist. Deshalb stellte sie für Rötter und seinen Studenten Strauß die optimale Variable dar, anhand derer ein Einfluss der Musik zu sehen wäre. Generell ist es bei der sozialwissenschaftlichen Untersuchungsmethode Experiment so, dass es mindestens zwei verschiedene Versuchsgruppen geben muss. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht in dem 'experimentellen Stimulus', der in einer Gruppe existiert, in der anderen nicht. In diesem Fall ist dieser Stimulus, die so genannte 'unabhängige Variable' in der Gleichung, das Hören von Musik. Ob dieser Stimulus einen Einfluss auf die Gruppe hat oder nicht, zeigt sich dann an der 'abhängigen Variable'. In diesem Fall war das die Konzentrationsfähigkeit der Schüler. Um die Konzentration messen zu können, verwendeten die Forscher standardisierte Konzentrationstests. Durch die erreichte Punktezahl jedes Schülers hatten sie konkrete Zahlen, mit denen sie eventuelle Zusammenhänge ausrechnen konnten.

Ein Beispiel innerhalb des Tests war die Aufgabenstellung, Zahlen im Kopf zu behalten und gleichzeitig zu rechnen. »Zählen Sie 4 + 7 + 3 + 8, was erhalten Sie? Diese Zahl merken Sie sich bitte und subtrahieren davon 2, davon 5, davon 2 und davon noch einmal 3. Was kommt dabei heraus? Und jetzt ziehen Sie bitte die kleinere von der größeren Zahl ab«: Das richtige Ergebnis wäre 12 gewesen. Während dieser Aufgaben durften sich die Schüler keine Notizen machen. Dabei auch noch laute Musik auf den Ohren zu haben, ist keine angenehme Vorstellung. Darum ist auch das Erstaunen Rötters nachvollziehbar, als er feststellte, dass die Musik im Schnitt keinen Einfluss hatte. Er überprüfte anschließend sofort die Extreme, die besonders guten und die besonders schlechten Schüler. Gab es eventuell bei der Klasse, die keine Musik hören durfte, mehr besonders gute Schüler? Auch Fehlanzeige. Doch das Ergebnis konnte auch Zufall sein. Also wiederholte Rötter den Versuch.

Dieselben Klassen bekamen neue Konzentrationsaufgaben, doch diesmal mit vertauschten Rollen. Die, die vorher keine Musik hören durften, durften das jetzt tun und umgekehrt. Das Ergebnis: Wieder war kein Einfluss der Musik erkennbar. In Zahlen heißt das, dass das Signifikanzniveau bei 0,9 lag. Das bedeutet: Würde man den Versuch einhundert mal wiederholen, käme 90 mal etwas anderes dabei heraus. Was wiederum bedeutet, dass das Hören von Musik überhaupt keine Vorhersagen darüber erlaubt, ob ein Schüler bei den Tests gut oder schlecht abschneidet. Rötter startete einen dritten Versuch. Dieses Mal waren es Schüler einer elften Klasse, die einen Leistungskurs Mathemathik belegten. Und wieder gab es keinen Unterschied zwischen Musikhörern und Nichthörern. »Also gut«, dachte sich Rötter an dieser Stelle, »dann ist das wohl so« - und gab die Studie an die Pressestelle weiter. »Es rauschte mehrere Wochen durch die gesamte Presse von ntv und Süddeutsche über Frankfurter Rundschau bis hin zu holländischen, schweizerischen und österreichischen Medien«, sagt Rötter: »Die Studie hat anscheinend den Nerv aller getroffen, die früher niemals Musik bei den Hausaufgaben hören durften.«

Vergleichbare Untersuchungen hat es auch schon seit den 1990er Jahren immer wieder gegeben. Dabei gab es allerdings widersprüchliche Ergebnisse. Bisher war aber noch kein Experiment direkt auf die Variable Konzentration ausgerichtet, stattdessen wurden andere Merkmale gemessen. In einer Studie wurde zum Beispiel festgestellt, dass Kinder weniger Wörter in ihren Aufsätzen schrieben, wenn sie dabei Musik hörten. Für Rötter ein problematisches Kriterium. »Meiner Meinung nach ist es kein Zeichen für eine bessere geistige Leistung, wenn ein Kind einfach mehr Wörter verwendet«, erklärt er. Bei der Bewertung anderer Studien zu dem Thema muss zudem beachtet werden, dass zehn Jahre alte Studien heute als ziemlich veraltet gelten. Denn der Musikkonsum hat sich in den vergangenen Jahren rasant geändert, zusammen mit dem technischen Fortschritt in diesem Bereich. Der Walkman ist uralt, der CD- und Player ist mittlerweile bei den Jüngeren auch nicht mehr zu finden. Heute gibt es fast schon in jedem Handy einen eingebauten MP3-Player. Auf dessen Speicher passen Hunderte von Liedern, ständig verfügbar. Der typische Alltag eines jungen Menschen sieht so aus: Morgens hört er Radio, CD oder MP3s aus der Stereoanlage. Geht er aus dem Haus, nimmt er die Musik auf seinem Player einfach mit, Kopfhörer auf und die Außenwelt ist abgeschaltet. Trifft er seine Freunde, kann er auch ohne Kopfhörer Musik hören, er stellt einfach die Lautsprecher auf laut und alle haben etwas davon. Alle, die ab und zu U-Bahn fahren, kennen dieses Phänomen. Nachmittags schauen sich die Jugendlichen dann vielleicht ein paar Musikclips in einem Videoportal an an oder laden sich ein paar neue Lieder aus irgendeinem Musikportal herunter. Schon sind sie mit der neuesten Musik versorgt.

Rötter vergleicht Musik für junge Hörer mit einem Accessoire. »Die Musik wird gar nicht mehr wahrgenommen«, erklärt er, »sie hat nur noch eine Funktion, die mit dem Krokodil auf einem Marken-T-Shirt vergleichbar ist. Und das stört nicht weiter.« Die Theorie aus der Psychologie, die sich hinter diesem Phänomen verbirgt, ist die Habituation, also im Prinzip eine Gewöhnung. Täglich strömen ohne Unterlass Reize auf das Gehirn ein. Darum besitzt es so genannte Neuheitsdetektoren. Diese prüfen, ob ein Reiz schon einmal da war und ob er eventuell gefährliche Konsequenzen hat. »Wenn ich aber zum zehnten Mal einer Schlange auf den Schwanz trete und es passiert nichts, dann wird registriert: Die Schlange ist nicht giftig, du brauchst keine Angst zu haben«, nennt Rötter ein Beispiel für dieses System. Das gleiche geschieht mit der Musik. Ist sie ständig zugegen, stumpft das Gehirn ab, will sich dadurch nicht mehr aktivieren lassen. Der Körper wird nicht mehr angeregt, es gibt keinen schnelleren Herzschlag, keine Hormonausschüttung. So ist es zu erklären, dass die Schüler auch mit lauter Musik auf den Ohren genau die gleichen Leistungen bringen. Ob auch unbeliebte Musik keinen Einfluss auf das Konzentrationsvermögen hat, wäre ein weiterer möglicher Forschungsansatz. Genauso könnte die Frage erörtert werden, wie die Musik bei Schülern anderen Alters wirken würde. Mit 15 bis 17 Jahren waren die Versuchspersonen genau in dem Alter, in dem die Dauerbeschallung durch Musik sehr offensichtlich ist. »Kleine Kinder kennen diese Kultur mit iPods und MP3-Playern noch nicht«, erklärt Rötter die Wahl seiner Versuchspersonen. Vielleicht sei der Rat an Grundschulkinder, die Musik auszustellen, doch nicht so verkehrt. Auch bei Erwachsenen ist das Musikverhalten durchaus noch anders.

Einen interessanten Untersuchungsaspekt sieht Rötter auch in der Zukunft der jetzigen Zehntklässler. »Was ist, wenn die später mal Autofahrer werden?«, bezieht er sich auf seine frühere Studie: »Dann hat die Musik womöglich auch keinen Einfluss mehr.« Die Studie von 1990 hatte er zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Helga de La Motte-Haber durchgeführt. Mittels eines Fahrsimulators untersuchten sie damals das Verhalten von Autofahrern, die bei der Fahrt Musik hörten. Außer der möglichen Überreizung bei einem hohen Verkehrsaufkommen gab es damals ein zweites Ergebnis: Fahren die Versuchspersonen auf einer ruhigen Strecke, aktiviert Musik und hilft somit gegen Eintönigkeit und Langeweile. Dieser Einfluss ist somit positiv, der Bremsweg wurde zum Beispiel kürzer. Für die jetzt getesteten Jugendlichen und alle anderen in ihrem Alter könnten bei dem Autofahrer-Experiment in Zukunft völlig neue Ergebnisse herauskommen.

Rötter selbst lässt in hektischen Verkehrssituationen sowie beim Arbeiten die Musik lieber aus, was bei ihm durchaus einen anderen triftigen Grund hat: »Da ich beruflich ständig mit Musik umgehe, bin ich ganz froh, wenn ich einmal nichts damit zu tun habe", erklärt er und nennt ein recht eindrucksvolles Beispiel: »Ein Fischhändler, der den ganzen Tag Rotbarsch und Garnelen verkauft, würde bestimmt zum Abendessen keinen Rotbarsch essen wollen - und auch keine Garnelen.«


Zur Person

Dr. Günther Rötter, geboren 1954 in Addernhausen (Kreis Friesland), ist seit 1996 Professor für Musikwissenschaft im Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund. Seit 2006 ist er zudem Dekan des Fachbereichs Kunst- und Sportwissenschaften. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der systematischen Musikwissenschaft, speziell auf der Musikpsychologie. Seit 1985 veröffentlicht er regelmäßig Studien zu dem Thema. Günther Rötter studierte Schulmusik, Erziehungswissenschaft und Philosophie in Detmold und Paderborn. Anschließend studierte er Musikwissenschaft an der TU Berlin, wo er 1985 promovierte. Nach Forschungstätigkeiten an der TU Berlin und am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin wurde er 1989 wissenschaftlicher Assistent an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, dann folgte eine zweijährige Lehrstuhlvertretung an der Hochschule Vechta. 1996 habilitierte er sich an der Universität Osnabrück.


Kontakt:
E-Mail: guenther.roetter@tu-dortmund.de


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 12/10, S. 66-71
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2010