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SCHULE/253: "Schule für alle" (BI.research - Uni Bielefeld)


BI.research 33.2008
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Schule für alle"
Studierende fördern benachteiligte Kinder

Von Sabine Schulze


Der Fall von Kadre ist kein ganz typischer: Das kurdische Mädchen ist motiviert und möchte zu gerne auf die Realschule wechseln. Auch ihre Lehrerin traut ihr das zu - obwohl Kadre manchmal ohne Hausaufgaben zur Schule kommt. Studentin Ina soll ihr deshalb ein Jahr lang zur Seite stehen und ihr helfen, eine Arbeitshaltung zu entwickeln. "Schule für alle" heißt das Projekt, mit dem die Universität Bielefeld in Fachkreisen bereits Aufmerksamkeit errang. Angesiedelt ist es bei der Arbeitsgruppe "Schultheorie" der Fakultät für Erziehungswissenschaft. Ziel des Projektes, das Teil des Curriculums im Profil "Umgang mit Heterogenität" ist: Kinder, die sozial benachteiligt sind, zu fördern, und Studenten frühzeitig mit der Realität des Schulalltags zu konfrontieren. Wichtigster Partner ist die innerstädtische Bückardtschule in Bielefeld mit einem Migrantenanteil von 80 Prozent.


Die Sonderschule ist keine Lösung

Kadre ist nicht ganz typisch, weil es viel eher Kinder sind, die "auf Kippe" stehen, die in dem Projekt unterstützt werden; Kinder, bei denen überlegt wird, sie zur Förderschule zu überweisen oder bei denen eine Lernbehinderung diagnostiziert wurde. "Eine so genannte Lernbehinderung ist aber schwer zu greifen", sagt Projektleiterin Dr. Brigitte Kottmann. Denn was bedeute schon "schwerwiegende, langandauernde und umfängliche Probleme"? Das, sagt die Pädagogin, seien alles schwammige Begriffe. Und ursächlich für die Schulprobleme seien, wie eine Analyse der Herkunft der Sonder- und Förderschulkinder zeige, allzu oft Armut und Migrationshintergrund. Wie sollen die Kinder auch Unterstützung bei den Hausaufgaben bekommen und Schule bewältigen, wenn zuhause kaum Deutsch gesprochen wird? Die Sonderschule, ist Kottmann überzeugt, sei hier nicht die Lösung - "zumal eine Studie gezeigt hat, dass der IQ sinkt und die Rechtschreibleistung nachlässt, je länger ein Kind die Sonderschule besucht". Kottmann setzt auf die Regelschule, die den Kindern Lernvorteile biete, und auf eine gezielte, individuelle Förderung.


Einblick in ganz andere Lebensverhältnisse

"1200 Stunden wird Mittelschichtkindern vor ihrer Einschulung vorgelesen. Bei Migrantenkindern sind es 64 Stunden. Diese Kinder kann man nicht miteinander vergleichen. Hier müsste Schule eigentlich ausgleichen", sagt die Pädagogin. Was sie, wie PISA ergeben hat, nicht leistet. Was aber seit mittlerweile 14 Jahren Lehramtsstudenten der Bielefelder Hochschule leisten. Nebenbei gewinnen sie nicht nur Praxiserfahrung, sondern auch Einblicke in oft ganz andere Lebensverhältnisse: "Die meisten Lehramtsstudenten sind Mittelschicht-sozialisiert. Wenn sie in die Familien 'ihrer' Kinder kommen, werden sie oft wachgerüttelt: Sie erleben Kinder mit einer ganz anderen Lebenswelt, Kinder, die nicht Rad fahren oder schwimmen können, die noch kein lebendiges Tier gesehen haben und den Spielplatz eine Straße weiter nicht kennen, Familien, die wenige Möbel haben, in denen der Fernseher ununterbrochen läuft und das einzige Buch das Telefonbuch ist. Das sind schon beeindruckende, ungewöhnliche Erfahrungen, die hoffentlich später zu einem sensibleren, toleranteren Umgang mit benachteiligten Kindern führen", sagt Kottmann. Jeweils 20 bis 25 Studenten nehmen alljährlich an dem Projekt teil und betreuen intensiv ein ihnen zugewiesenes Kind: Sie hospitieren im Unterricht, helfen bei den Hausaufgaben, lesen vor, machen Spiele und auch mal einen Ausflug oder zeigen, wie man die Stadtbibliothek nutzt. Und oft genug werden sie belohnt durch schulische Erfolge ihrer Schützlinge: Kinder "auf Kippe" entwickelten sich zu stabilen Dritt- oder Viertklässlern. Und wenn in der Zeugniskonferenz über "eklatante Verbesserungen" berichtet wird, folgt als Erklärung oft der Satz: "Es ist im Projekt." Das habe, freut sich Mitarbeiterin Antje Drescher, die Kottmann derzeit während ihres Erziehungsjahres vertritt, Schulkarrieren positiv beeinflussen können. "Und es wirkt oft nachhaltig auf die Lernmotivation und Leistungsbereitschaft der Kinder."


Engagement über das erwartbare Maß hinaus

Zuweilen beweisen die Grundschüler auch große Anhänglichkeit. "Mancher Student macht mehr, als er müsste, und hält den Kontakt auch über das eine Jahr hinaus aufrecht", weiß Kottmann. Und um mit ihren Schützlingen auch einmal einen Ausflug machen zu können, haben die Studenten schon Waffeln gebacken und verkauft. Eine Studentin hat gar Eltern, deren Kind zur Sonderschule überwiesen werden sollte, durch alle Instanzen begleitet, um das (mit Erfolg) zu verhindern. Dabei vermittelt Kottmann durchaus auch eines: "Es gehört zur Lehrerprofessionalität, loslassen zu können." Die Studenten haben nicht nur regelmäßigen, engen Kontakt mit den Lehrern "ihrer" Kinder, sondern besuchen auch ein Begleitseminar von Kottmann oder Antje Drescher. In diesem Seminar wird Theoriewissen über Benachteiligung oder den Schriftspracherwerb vermittelt und werden die einzelnen Fälle reflektiert und in Fallstudien niedergelegt. "Die eine Seite ist, den Kindern Bildung zu vermitteln. Die andere ist, für die Studierenden Theorie begreifbar und erlebbar zu machen", sagt Kottmann: Wer zum dritten Mal erklärt hat, dass nach einem Punkt "groß" weiter geschrieben wird und erlebt, dass ein Kind das immer noch nicht umsetzt, wird mit anderem Interesse und anderem Erfahrungshorizont ein Fachbuch über den Schriftspracherwerb lesen.


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Quelle:
BI.research 33.2008, Seite 12-15
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009