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SCHULE/212: Die Deutschstunde von morgen (uni.kurier.magazin Erlangen)


uni.kurier.magazin - 107/September 2006
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die Deutschstunde von morgen
Konsequenzen nach PISA für Schule und Lehrerbildung

Von Volker Frederking


Eine "konkrete Vision" des potentiellen Beitrags der Deutschdidaktik zur Zukunftsgestaltung ist nur vor dem Hintergrund ihres disziplinären Selbstverständnisses und spezifischen Aufgabenprofils zu vermitteln. Dieses lässt sich wie folgt bestimmen: Deutschdidaktik ist die Wissenschaft vom fachspezifischen Lehren und Lernen im Zusammenhang mit deutscher Sprache und Literatur. Unter Anwendung wissenschaftstheoretischer Schlüsselbegriffe von Jürgen Mittelstraß lässt sich ergänzen: Deutschdidaktik ist - wie alle Fachdidaktiken - wissenschaftlich transdisziplinär ausgerichtet und sichert die Ausbildung und Vermehrung von fachbezogenem Verfügungs- und Orientierungswissen durch die konzeptlonelle Entwicklung, theoretische Fundierung und empirische Erforschung fachspezifischer Lehr-Lern-Prozesse innerhalb und außerhalb der Schule unter Berücksichtigung germanistischer, erziehungswissenschaftlicher und anderer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse. Damit obliegt ihr die fachbezogene Auswahl und Begründung von Inhalten und Methoden des Deutschunterrichts für die jeweiligen Schularten und Jahrgangsstufen, die Entwicklung sach- und adressatengerechter Lehr-Lern-Arrangements sowie ihre Evaluation mit dem Ziel der Optimierung.

Ausgehend von fachlichen Fragen und in Auseinandersetzung mit diesen leistet Deutschdidaktik überdies einen entscheidenden Beitrag zur Unterstützung der Heranwachsenden bei der Entwicklung eines tragfähigen Selbst- und Weltverständnisses und verantwortungsbewusster Handlungsdispositionen. Als zentrale Säule der Lehreraus- und -weiterbildung vermittelt Deutschdidaktik darüber hinaus Grundlagen- und Spezialwissen über fachbezogene Lehr-Lern-Prozesse, trägt zur Entwicklung von Diagnosefähigkeit der Lehrenden bei und zeigt Fördermöglichkeiten für unterschiedliche Begabungstypen auf.

Vor diesem Hintergrund wird das breite Spektrum erkennbar, innerhalb dessen die Deutschdidaktik einen Beitrag zur Zukunftsgestaltung im Bereich der muttersprachlichen Bildung leisten kann und leisten muss. Mit den Ergebnissen der PISA-Studien der Jahre 2000 und 2003 sind innerhalb dieses breiten Aufgabenspektrums spezifische Problemfelder erkennbar geworden, die fortan in das Zentrum der Deutschdidaktik rücken müssen. Notwendig ist insbesondere trans- bzw. interdisziplinär ausgerichtete empirische Forschung, für die es an der Erzieungswissenschaftlichen Fakultät durch die Konzentration von Fachdidaktiken, Erziehungswissenschaften und Pädagogischer Psychologie innerhalb einer Fakultät und dem angegliederten Zentrum für interdisziplinäre Lehr-Lern-Forschung (ZILL) bundesweit fast singulär günstige Rahmenbedingungen gibt.

Die gemeinsam von Prof. Dr. Annette Scheunpflug (Pädagogik), Prof. Dr. Hartmut Heller (Volkskunde) und Prof. Dr. Volker Frederking 2005 herausgegebene Studie "Nach PISA. - Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung nach zwei Studien" ist ein erster Ausdruck der transdisziplinären Synergieeffekte, die an der Fakultät im Bereich der Bildungsforschung bestehen und am Lehrstuhl für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in den kommenden Jahren in empirischen Forschungsprojekten vertiefend genutzt werden sollen. Drei Ansatzpunkte, die sich unter den Oberbegriffen "Basaler Lesekompetenzaufbau", "Wissenschaftspropädeutische Spitzenförderung" und "Fachspezifische Mediennutzung" subsumieren lassen, werden dabei nach gegenwärtigem Planungsstand eine besondere Rolle spielen.


Lesen und Schreiben: Unverzichtbare Kulturtechniken

Ein alarmierender Befund der PISA-Studien 2000 und 2003 ist die große Zahl von Schülern und Schülerinnen in Deutschland, die Lesekompetenzleistungen lediglich unterhalb oder auf der ersten von insgesamt fünf Leistungsstufen erbringen. Besonders groß ist innerhalb dieser Gruppe die Zahl der 15-Jährigen aus bildungsfernen Elternhäusern und solchen mit Migrationshintergrund. Die Ursachen sind vielfältig und bedürfen der systematischen Überprüfung und Erforschung. Gleiches gilt für mögliche Lösungsansätze. Doch schon auf der Grundlage der im Rahmen von PISA ermittelten Befunde lassen sich Ansatzpunkte benennen. Neben außerschulischen Maßnahmen wie einer vorschulischen Sprachförderung von Migrantenkindern oder bereits im Kindergarten einsetzender regelmäßiger Vorleserunden sind verstärkte Anstrengungen und veränderte fachdidaktische Konzepte im Deutschunterricht der Grundschule und vor allem der weiterführenden Schulen notwendig. Denn während es der Grundschule offensichtlich noch recht gut gelingt, ihre Schüler - hier: Viertklässler - sowohl im Bereich der Lesemotivation als auch der Lesekomptenz im internationalen Vergleich im oberen Drittel zu platzieren und Leistungsschwächen in der Breite zu begrenzen, wie die 2003 veröffentlichte IGLU-Studie gezeigt hat, ist in den weiterführenden Schulen ein signifikantes Leistungs- und Motivationsabfall binnen vier bis fünf Jahren zu verzeichnen, wie PISA 2000 und 2003 zeigen.

Hier muss deutschdidaktische Forschung ansetzen. Neben der differenzierten Analyse von Schwachstellen im Deutschunterricht von Hauptschule, Realschule und Gymnasium wird die Entwicklung und Evaluation geeigneter fachspezifischer Lehr-Lern-Arrangements zur Förderung von Lesekompetenz gerade auch bei leistungsschwachen Schülern ein besonderer Schwerpunkt sein. Denn Deutschland kann es sich nicht leisten, dass ein Viertel seiner Schulabsolventen nicht einmal basale Kompetenzniveaus in Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben erreicht.


Exzellenz durch exzellente Pädagogen

Ein zweiter, ebenso erstaunlicher wie bedenklicher Befund der PISA-Studie ist, dass die bundesdeutsche Leistungsspitze in Bezug auf die Lesekompetenz im internationalen Vergleich trotz der deutschlandspezifischen selektiven Konzentration im Gymnasium keine überdurchschnittlichen Ergebnisse erreicht hat, sondern signifikant unter den entsprechenden Ergebnissen anderer PISA-Teilnehmerstaaten geblieben ist. So erreichten die besten 10 % bundesdeutscher Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit der Lesekompetenz bei PISA 2000 mit 619 Punkten und die besten 5 % mit 650 Punkten nicht die Vergleichszahlen der Leistungsspitze von Neuseeland (661/692), Australien (656/685), Finnland (654/681), Kanada (652/681), Großbritannien (651/682), Irland (641/669), Belgien (634/659) und Norwegen (631/660). Auch Bayern macht hier leider keine wirkliche Ausnahme. Denn selbst die besten 5 % der bayerischen Gymnasiasten erreichten im internationalen Vergleich der Leistungsspitze mit 661 Punkten nur den 8. Platz - hinter Ländern wie Finnland, Kanada, Neuseeland, Australien, Irland oder Großbritannien.

Auch hier gilt es, die Ursachen für die fehlenden Spitzenleistungen unserer Schülerinnen und Schüler im Bereich der Lesekompetenz systematisch empirisch zu erforschen, geeignete konzeptionelle Ansatzpunkte zur Optimierung zu entwickeln und diese nach eingehender Prüfung in den Fachunterricht zu integrieren. Es geht mit anderen Worten um wissenschaftspropädeutische Spitzenförderung im Bereich textbezogener Analyse- und Transferfähigkeiten, zu der die Deutschdidaktik in Kooperation mit der germanistischen Fachwissenschaft, der Erziehungswissenschaft und der Pädagogischen Psychologie erfolgreiche Konzepte entwickeln und erforschen muss. Denn die Exzellenz-Initiativen auf Hochschulebene laufen ins Leere, wenn selbst unsere Leistungselite in den Schulen im internationalen Vergleich nur durchschnittlich ist.

Wer Exzellenz will, muss deren Ausbildung in der Schule durch exzellente, weil fachwissenschaftlich wie fachdidaktisch exzellent ausgebildete Lehrkräfte fundieren. Anderenfalls erhalten wir Elite- Universitäten ohne Leistungs-Elite. Dass dazu die personelle Ausstattung und curriculare Verankerung der Deutschdidaktik - angesichts einer Betreuungsrelation von 1:500 und vier Semesterwochenstunden in der aktuellen Lehramtsprüfungsordnung für den Gymnasialbereich - zu erhöhen ist, sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt.


Computer als Vermittler der Schriftkultur

Ein dritter Schwerpunkt gegenwärtiger und zukünftiger deutschdidaktischer Forschung an der Universität Erlangen-Nürnberg ist die Entwicklung und Erforschung von Ansätzen zur Überwindung der immer noch stark buch- bzw. printorientierten Grundausrichtung des Deutschunterrichts durch die Integration neuer Medien. Diese können einen spezifischen Beitrag zur Entwicklung und Förderung von Lesemotivation und zum Aufbau eines positiven fachspezifischen Selbstkonzepts leisten. Denn zwischen Lese- und Medienkompetenz besteht ein enger Zusammenhang. Lesen und Schreiben sind zu multimedial konstituierten Modi der Weltaneignung und -verarbeitung geworden.

Ein ausschließlich buch- bzw. printorientierter Deutschunterricht entspricht deshalb weder den digitalen Facetten der Lese- und Schreibkultur der Gegenwart, noch der Lese- und Mediensozialisation heutiger Kinder und Jugendlicher. Gerade die bei PISA sowohl im Bereich der Lesekompetenz als auch des Leseinteresses als markante Problemgruppe in Erscheinung getretenen Jungen könnten über Computer und Internet einen stärker interessegeleiteten Zugang zur Schriftkultur finden, weil sie erwiesenermaßen eine besondere Affinität gegenüber technischen Medien besitzen.

Umso bedenklicher ist deshalb eine, OECD-Statistik zur Computernutzung im schulischen Bereich. Deutschland belegt hier hinter Russland und knapp vor Mexiko und Brasilien den drittletzten Platz. Bezeichnenderweise haben die meisten der in die Untersuchung einbezogenen Länder mit signifikant höheren Computer-Nutzungszahlen auch im Bereich der Lesekompetenz bei PISA besser abgeschnitten. Hier wird erkennbar, wie dringend der Deutschunterricht die neuen Digitalmedien verstärkt einbeziehen muss, um die Schüler zukunftsfähig zu machen. Die Deutschdidaktik hat dafür geeignete Konzepte zu entwickeln, zu erforschen und per Aus- und Weiterbildung zu vermitteln.

Das unter Leitung des Lehrstuhls für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Kooperation mit Kollegen der Universitäten Bamberg und Würzburg für die Virtuelle Hochschule Bayern entwickelte E-Learning-Seminar "Mediendidaktik Deutsch" trägt diesem Erfordernis ebenso Rechnung, wie die im Rahmen von public-private-partnership erfolgende Beteiligung an der Entwicklung und Evaluation fachspezischer innovativer Lernsoftware wie dem Learn::Web der AMMMa AG, das 2005 mit den beiden ranghöchsten bundesdeutschen Bildungsmedienpreisen, dem DIGITA und dem COMEMIUS-SIEGEL, ausgezeichnet wurde. Ein positiv begutachtetes BMBF-Projekt unter Leitung von Prof. Frederking und in Kooperation mit sieben bundesdeutschen Hochschulen zur fachspezifischen Mediennutzung in der Ausbildung von Deutschlehrern und -Lehrerinnen wartet aufgrund der strukturellen Veränderungen und der ungeklärten Haushaltslage des Bundes infolge der vorgezogenen Bundestagswahl noch der endgültigen Genehmigung. Projekte zur empirischen Erhebung gelingender Nutzung neuer Medien im Deutschunterricht sind in Planung.

All diese Ansätze haben das Ziel, den immer noch printdominierten "monomedialen" zum medienintegrativen "symmedialen" Deutschunterricht weiter zu entwickeln und so einen fachspezifischen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der heranwachsenden Generationen zu leisten.


Prof. Dr. Volker Frederking ist seit Oktober 2000 Inhaber des Lehrstuhls für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Jahr 2005 erschien der Sammelband "Nach PISA. - Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung nach zwei Studien", den er gemeinsam mit Prof. Dr Annette Scheunpflug (Lehrstuhl für Pädagogik der EWF) und Prof. Dr Hartmut Heller (Lehrstuhl für Volkskunde der EWF) herausgegeben hat.


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 107/September 2006, S. 10-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August