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SCHULE/210: Psychisch krank in der Schulbank (Agora - Uni Eichstätt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2007

Psychisch krank in der Schulbank

Von Carl Heese


Die Berichterstattung zu Gewalt und Amokläufen an Schulen wirft regelmäßig die Frage auf, wie man psychischen Störungen präventiv im Unterricht begegnen kann. Die Fachdiskussion widmet sich dem Thema bislang nur vereinzelt.


Der Fall des Amoklaufs von Sebastian B. an seiner ehemaligen Realschule in Emsdetten ist noch in frischer Erinnerung und die Ankündigung einer unmittelbaren Wiederholung hielt Baden-Württemberg über Tage in Atem. Mittlerweile müssen wir uns offenbar an Vorkommnisse dieser Art gewöhnen. Der Hintergrund solcher Amokläufe im Seelenleben der Täter ist öffentlich diskutiert worden. Die Einschätzungen zu Sebastian B. waren mehr oder weniger deutliche psychopathologische Kategorisierungen. Ein Kliniker der Medizinischen Hochschule Hannover deutete im Fernsehen das Ereignis als einen depressiven Wutexzess. Ein Kommentator, der in der ZEIT die bekannten Fakten resümierte, wies auf die Anerkennungskrise dieses "Übersehenen" hin, der sich mit seiner Tat gewaltsam die Beachtung erzwungen habe, die er als arbeitsloser Außenseiter dringend benötigt hätte. Sogar in einer Beratungsstelle hatten seine Geltungsansprüche nicht adäquat Aufnahme finden können.

Das grelle Ereignis des Amoklaufs erzwingt die Frage nach seiner Vermeidbarkeit. Eine unmittelbare Möglichkeit hierzu besteht bereits im Ernstnehmen der beinahe regelmäßigen Vorankündigungen. Für eine allgemeine Prävention sind Möglichkeiten eines hilfreichen Umgangs mit psychischen Störungen, denen die Institution Schule begegnet, zu suchen. Dieses Thema wird in der Fachdiskussion vereinzelt behandelt, es bedarf aber, nicht nur im Hinblick auf den aktuellen Anlass, einer noch stärkeren Beachtung. Die Prävention stellt in diesem Komplex jedoch nur einen Teilbereich dar, andere Fragen sind beispielsweise: In welchem Ausmaß sind Schulen, Schultypen, Jahrgangsstufen von psychisch kranken Schülerinnen und Schülern betroffen? Welche Anforderungen sind an Schul- und Unterrichtsgestaltung sowie an die Qualifikation des Lehrpersonals zu stellen, wenn berücksichtigt werden soll, dass ein erheblicher Anteil an Schülerinnen und Schülern mit psychischen Beeinträchtigungen am Unterricht teilnimmt? Wie kann bei Berücksichtigung von psychischen Erkrankungen die Unterrichtsintention trotzdem aufrechterhalten werden?

Diese Fragen wurden in der akademischen Diskussion bereits angearbeitet, sie sind aber bei weitem nicht in suffizienter Weise beantwortet. Dazu fehlte es an grundlegenden Voraussetzungen. So war lange Zeit der Grad der Belastung des Unterrichts durch psychisch kranke Schülerinnen und Schüler gar nicht zu beziffern. Die herrschende Einschätzung zu dieser Frage wurde von der Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Renate Harter-Meyer ironisch so kommentiert, dass es keine psychisch kranken Kinder in der Schule geben könne, weil sie ja sonst nicht in der Schule wären. Inzwischen zeichnet sich ein einigermaßen deutliches Bild hinsichtlich des Umfangs der Problematik ab. Der Forschungsstand zur psychiatrischen Epidemiologie des Kinder- und Jugendalters wird zwar immer noch als defizitär eingeschätzt, eine Quote von circa 20 Prozent an Schülerinnen und Schülern, die mit mindestens einer psychiatrisch relevanten Diagnose am Unterricht teilnehmen, kann aber mittlerweile als gut bestätigt gelten. Aktuell läuft zu dieser Frage die Auswertung der Bella-Studie, einer repräsentativen epidemiologischen Erhebung, die einen Teil des Großprojekts des Robert-Koch-Instituts mit Namen "Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland" (KIGGS) darstellt.

Auch der Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Gesundheitspädagogik der KU widmet sich schon seit langem diesem Themenkomplex und hat in den letzten drei Jahren Erhebungen zur Epidemiologie von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen unternommen. Im Fokus stand dabei aber nicht die allgemeine Prävalenz in der Bevölkerung, sondern die Belastung einzelner Schulen und Schultypen, die in der Oberpfalz und in Oberbayern untersucht wurden. Dabei hat sich in spezifischen Schultypen keine Abweichung von der Prävalenz gezeigt, die in allgemeinen bevölkerungsquerschnittlichen Untersuchungen gefunden worden ist.

Dieser Befund stand regelmäßig in einem starken Kontrast zur gefühlten psychopathologischen Belastung der Klassenverbände in der Einschätzung der Lehrkräfte. Das zeigt eine Verunsicherung durch die explizite Konfrontation mit psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen. Diese Konfrontation ging aktuell von den Untersuchungsfragen aus, im Alltag findet sie sich aber ebenso und geht hier von beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern aus, aber auch von Medien und Eltern, die das zunehmend popularisierte Wissen über psychische Syndrome von der Anorexie bis zur Zwangserkrankung als ungelöste Problematiken an die Lehrkräfte herantragen.

In Reaktion darauf widmet sich der Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Gesundheitspädagogik auch der Vermittlung von psychopathologischen Kenntnissen in der Ausbildung von Pädagogen und Lehramtsstudierenden. Als Ziel eines übergreifenden und anspruchsvollen Forschungsprogramms lässt sich die Konturierung einer pädagogischen Kompetenz formulieren, die einen differenzierenden Umgang nur psychisch kranken Schülerinnen und Schülern ermöglicht. Das Programm zielt neben der Entwicklung einer robusten diagnostischen Kompetenz auf ein didaktisches Handlungswissen, das in Einklang mit dem professionellen therapeutischen Behandlungswissen steht und so zumindest einer Verfestigung oder Verschlimmerung von Störungen entgegenwirkt. Der präventive Ansatz der Vermittlung von Lebenskompetenzen stellt dabei ebenso einen Baustein dar, wie die bereits ältere Idee der Umsetzung von humanistisch-psychologischen Kernbedingungen eines persönlichkeitsförderlichen Interaktionsstils in pädagogischen Kontexte, wie sie von Erhard Hischer und Anne-Marie und Reinhard Tausch in die pädagogische Diskussion seit den 70er Jahren eingebracht wurde. Das Ziel dieses Forschungsprogramms ist die Überwindung der von Harter-Meyer kritisierten Ignoranz alten Stils, aber an Stelle einer von Vielen kritisierten allgemeinen Therapeutisierung der Schule geht es um ein differenziertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten, das den Besonderheiten von einzelnen psychischen Beeinträchtigungen ebenso Rechnung trägt wie den Erfordernissen der Hauptintention der Schulsituation, Unterricht in Klassenverbänden durchzusetzen.

Eine inhaltliche Ausweitung und Vertiefung erfährt die Frage nach der Prävention psychischer Auffälligkeiten und Probleme im Unterricht in der "Schülerwertestudie", welche ebenfalls vom Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Gesundheitspädagogik verantwortet und durchgeführt wird. Im Rahmen dieser neuen Studie wird repräsentativ für die weiterführenden Schulen in Bayern der Frage nachgegangen, welchen Einfluss die Werteerziehung, das Schul-, Klassen- und Familienklima sowie Partizipationsstrukturen und Interaktionsgewohnheiten in Schule und Elternhaus auf die Wertstrukturen, prosoziale Einstellungen und Verhaltensweisen sowie das Engagement von Schülerinnen und Schülern haben. Dabei wird auch erhoben, ob beziehungsweise wie sich das Wertemilieu in Schule und Elternhaus in präventiver oder kurativer Hinsicht auf die psychischen Probleme des einzelnen sowie auf aggressive Akte und dissoziale Verhaltensweisen in der Schule auswirkt.

Der bereits eingangs festgestellte, bislang marginale Status des Fachdiskurses zu psychischen Erkrankungen, mit denen die Institution Schule konfrontiert wird, lässt sich an der Entwicklung und Implementierung des größten Präventionsprojektes in diesem Bereich an deutschen Schulen ablesen. Es wurde und wird seit nunmehr über zehn Jahren von außen an das Schulsystem herangetragen.

Das Projekt ist das Lions-Quest Programm "Erwachsen werden" als private Initiative der deutschen Lions-Clubs. Es handelt sich um ein für Unterrichtszwecke detailliert ausgearbeitetes Programm der Prävention, im engeren Sinn der Gewalt- und Drogenprävention, in einem weiteren Sinn der psychischen Präventionsarbeit nach dem so genannten Life-skills-Ansatz. Dieser aktuelle Ansatz der Gesundheitsprävention setzt wie die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie auf grundlegende Maßnahmen der Persönlichkeitsentwicklung und der sozialen Kompetenzförderung anstelle einer spezifischen Präventionsarbeit mit, beispielsweise, einer Aufklärung zu speziellen Risiken für psychische Störungen. Das Lions-Quest Programm "Erwachsen werden" wurde im Auftrag von Lions International entwickelt. Die deutschen Lions erwarben das Programm 1996 in Lizenz und beauftragten den Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann mit einer Adaption für deutsche Schulverhältnisse sowie einer Begleitforschung. Als präventive schulische Gesundheitsmaßnahme kann das Programm Maßstäbe der evidenzbasierten Medizin erfüllen, seine Einführung an Schulen hängt aber von privater Vermittlungsarbeit ab.

Der Bedarf, den die Lehrkräfte selbst an dieser Möglichkeit der unterrichtsgestützten Präventionsmöglichkeit anmelden, ist exorbitant. Mittlerweile haben mehr als 40 000 Lehrkräfte an weit über 1000 mehrtägigen Seminaren teilgenommen, in denen der Ansatz in einem spielerischen Selbsterfahrungsmodus standardisiert von eigens qualifizierten Trainern vermittelt wird. Statistisch gesehen ist bereits jede deutsche Schule mit dem Programm erreicht worden. Das Programm wurde inzwischen von den Schulverwaltungen mehrerer Bundesländer akkreditiert, es findet persönliche Patronanz durch Kultusminister und Schulsenatoren, das ändert aber nichts an seinem tendenziell systemfremden Charakter. Nach wie vor wird es auf der Basis der privaten Initiative der Lions von außen an Lehrkräfte, Schulen und Schulverwaltungen herangetragen und auch weiterhin privat finanziert als Sponsoring durch örtliche Lions-Clubs bei einer meist geringen Eigenbeteiligung der teilnehmenden Lehrkräfte. Das wird natürlich als erfolgreiche Public Private Partnership positiv gewendet, es bleibt aber dabei das unfreiwillige Eingeständnis einer ungenügenden internen Bemühung des Schulsystems, einschließlich der akademischen Ausbildung, um den Themenkomplex der psychischen Gesundheit und Krankheit von Schülerinnen und Schülern.

Vielleicht kann mit Hilfe der vorgestellten Projekte und Ansätze im komplexen Bedingungsgefüge von Amokläufen ein Beitrag gegen das Aufschaukeln von Wut und Gewaltpotenzialen geleistet werden.


Dr. Carl Heese ist Projektmitarbeiter des Lehrstuhls für Sozialpädagogik und Gesundheitspädagogik (Prof. Dr. Hens-Ludwig Schmidt) und arbeitet als Leitender Psychologe an der Klinik für Neurologie in Kipfenberg. Heese ist Mitglied des Lions Club Eichstätt.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
23.Jahrgang, Ausgabe 1/2007, Seite 30-31
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2007