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FORSCHUNG/146: Forschen in Gesellschaft - Citizen Science als Modell für die Sozialwissenschaften? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 150/Dezember 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Forschen in Gesellschaft

Citizen Science als Modell für die Sozialwissenschaften?

von Martina Franzen und Iris Hilbrich


Kurz gefasst: Citizen Science ist heute in aller Munde. Mit der Einbeziehung des Bürgers in die akademische Wissensproduktion werden sowohl Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Wissenschaft als auch Befürchtungen um Qualitätsverluste verbunden. Während auf der EU-Ebene aktuell an einer Citizen-Science-Strategie gearbeitet wird, bleibt eine Dimension bislang unterbelichtet: die Diversität der Wissenschaft. Der Beitrag eruiert, ob und inwiefern Citizen Science auch als Modell für die Soziologie taugt.


Citizen Science wird derzeit in den Feuilletons heiß diskutiert. Doch nicht nur das: Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am wissenschaftlichen Prozess wird vom Bund und von der Europäischen Union subventioniert. Und der interessierte Bürger ist zur Stelle - ob nun Sterne gezählt, Krebszellen identifiziert oder Insekten bestimmt werden sollen. Zunehmend werden Erfolge der Bürgerwissenschaftler gemeldet: "Niederländische Lehrerin entdeckt neues astronomisches Objekt", ist eine Meldung dieser Art. "Hannys Objekt" heißt seitdem offiziell eine grüne Gaswolke in der Region, in der Sterne entstehen. Die Zahl der Citizen-Science-Projekte steigt kontinuierlich. Eines ist im Blick auf die bislang angebotenen Partizipationsmöglichkeiten der Wissenschaft jedoch augenfällig: Die Sozialwissenschaften sind von all dem seltsam unberührt. Warum? Verspielen die Sozialwissenschaften, und die Soziologie im Besonderen, dadurch Innovationspotenzial? Bevor wir uns dem besonderen Fall der Soziologie widmen, lohnt ein genauerer Blick in die Programmatik von Citizen Science.


Das Modell Citizen Science

Die Citizen-Science-Bewegung ist angetreten, die Wissenschaft zu revolutionieren. Seit einigen Jahren hat sich in Europa eine Szene etabliert, die von der politischen Mission geprägt ist, Wissenschaft näher an die Gesellschaft zu bringen. Für Deutschland lässt sich hier das Bausteinprogramm zur Entwicklung von Citizen-Science-Kapazitäten in Deutschland BürGEr schaffen Wissen - WiSSen schafft Bürger (GEWISS) anführen, ein Konsortiumprojekt von Einrichtungen der Helmholtz- und der Leibniz-Gemeinschaft mit ihren universitären und außeruniversitären Partnern, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Einen zentralen Baustein bildet die Internet-Plattform buergerschaffenwissen.de. Im Rahmen der "Citizen-Science-Strategie 2020 für Europa" wird von dem Konsortium zurzeit ein Rahmenpapier zu Citizen Science in Europa erarbeitet. Ganz im Sinne der bürgerwissenschaftlichen Ideale liegt das Papier online zur Konsultation vor, und alle sind aufgerufen, daran mitzuwirken.

Die Idee von Citizen Science trifft nicht überall auf euphorischen Zuspruch. Während manche in der neuen Bürgerwissenschaft ein treffliches Mittel sehen, die Wissenschaft endlich aus ihrem Elfenbeinturm herauszuholen, sprechen andere von einem Autonomieverlust der Wissenschaft und warnen vor Qualitätsproblemen. Wissenschaftspolitisch könnte man den Förderern blinden Aktionismus vorwerfen, denn das Innovationspotenzial von Citizen Science lässt sich empirisch noch kaum nachweisen. Die Partizipationsbereitschaft ist jedoch relativ hoch: Im deutschen Wissenschaftsbarometer 2014 gab immerhin rund ein Drittel der Befragten an, sich an Citizen-Science-Projekten beteiligen zu wollen. Auch wenn es voreilig ist, daraus Rückschlüsse auf soziales Handeln ableiten zu wollen: Diese Werte signalisieren zumindest eine allgemeine Sympathie mit dem, was Citizen Science ausmacht.

Unter diesen Bedingungen sollte die Wissenschaft den Bürgerwillen ernst nehmen. Nach Meinung des Wissenschaftstheoretikers Peter Finke leidet die professionelle Wissenschaft an Politisierung, Ökonomisierung und Bürokratisierung. Eine nutzbringende gesellschaftliche Wissensproduktion sei unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich. Eine Bürgerwissenschaft im engen Sinne des Wortes begreift Finke als Ausweg, um eine autonome Wahrheitssuche zum Nutzen aller zu gewährleisten. Mit dem Konzept Citizen Science proper setzt er auf die Sonderwissensbestände und die Entdeckerfreude der Amateure, die die verkrusteten Strukturen der Wissenschaft aufbrechen sollen. Solch romantische Vorstellungen von Citizen Science werfen wichtige, doch gleichzeitig schwer zu beantwortende Fragen auf: Auf welche Weise können interessierte Laien sinnvoll am wissenschaftlichen Forschungsprozess beteiligt werden?


Forschungsprobleme für die breite Öffentlichkeit aufbereiten

Die Inklusion von Nicht-Professionellen in die Wissenschaft im Rahmen von Citizen Science wird bislang vor allem in datenintensiven Bereichen der Naturwissenschaften betrieben und gefördert. Auch die Geisteswissenschaften sind mit mehreren Projekten vertreten, so zum Beispiel die Kunstgeschichte in der kollektiven Beschreibung von Bildern in webbasierten Umgebungen. In den Sozialwissenschaften allerdings muss man nach Citizen Science lange suchen. Neuere Ansätze für die Beteiligung von Bürgern an der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion, wie die von der Open Knowledge Foundation gegründete Plattform FragDenStaat.de, dienen eher der gesellschaftlichen Selbstaufklärung, ein sozialwissenschaftlicher Forschungsauftrag ist dabei nicht zu erkennen.

Die Frage ist allerdings, wie genuin sozialwissenschaftliche Citizen-Science-Projekte aussehen könnten. Gamification-Ansätze, also die Anwendung spieltypischer Elemente im Rahmen des Crowdsourcing, erreichen erfahrungsgemäß eine besondere Popularität. Eines der prominenten Projekte aus dem Bereich Molekularbiologie ist Foldit, ein Computerspiel, das von Wissenschaftlern an der Universität Washington mit dem Ziel entwickelt wurde, Proteine bestmöglich zu "falten". Foldit-Spielern gelangen seit dem Start 2008 einige wissenschaftliche Durchbrüche, darunter die Entschlüsselung der Struktur des monomerischen Proteins M-PMV-Protease. Wenn man dieses Erfolgsmodell auf die Sozialwissenschaften und die Soziologie im Besonderen übertragen will, lautet die Preisfrage: Wie lassen sich soziologische Rätsel formulieren und für Citizen Science einsetzen?


Das ambivalente Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit

Die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft unterhält seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Sie hat es schwer, Laien ihre Themen zu vermitteln. Eine öffentliche Wahrnehmung der deutschen Soziologie ist heute abseits populärer Zeitdiagnosen kaum vorhanden. Dies mag zum einen mit ihrem Abstraktionsgrad zusammenhängen, zum anderen mit einem Desinteresse der Öffentlichkeit an der scheinbaren Profanität des Alltags.

Die Existenzberechtigung der Soziologie als professionelle Wissenschaft ist im Vergleich zu den Naturwissenschaften fragil. Ohne exklusiven Zugang auf ihren Gegenstand konkurriert die Soziologie potenziell mit allen, die sich als Mitglieder der Gesellschaft und damit als Experten in gesellschaftlichen Fragen verstehen. Soziologische Erkenntnisgewinnung erfordert nicht nur eine kritische Distanz zum Gegenstand. Die Geschichte der amerikanischen Soziologie, wie sie Stephen Turner anschaulich rekonstruiert hat, macht auf immanente Probleme der Abgrenzung aufmerksam: Dauerhaft im Spannungsfeld zwischen politischer Instrumentalisierung und Philanthropie gefangen, war es eine Errungenschaft der akademischen Soziologie, ein distanziertes, objektives Verhältnis zum gesellschaftlichen Geschehen zu entwickeln, um als Profession anerkannt zu werden. Soziologinnen und Soziologen neigen daher zur Pflege eines Fachjargons, um gewisse Abstandhalter einzuziehen. Wie lässt sich diese Distanz zu Zwecken der Wissenschaftskommunikation im öffentlichen Raum wieder aufheben?

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie hat 2012 mit der Initiative "DGS goes public" ihre Mitglieder zur Selbstreflexion und zum Dialog mit der Öffentlichkeit aufgerufen. Der SozBlog wurde eingerichtet, eine Plattform, auf der Soziologen und Soziologinnen über ihre aktuellen Forschungsthemen schreiben und sie zur Diskussion stellen. In dem DGS-eigenen Publikationsorgan, der Zeitschrift Soziologie, bezweifelt Ronald Hitzler 2012 die Möglichkeit, die Soziologie im Sinne einer erfolgreichen Popularisierung in die Öffentlichkeit zu integrieren. Ihr Gegenstandsbereich bestehe im Vergleich zur Physik eben nicht aus greifbaren Objekten, sondern aus vom Menschen geschaffenen Konstrukten. Stefan Selke dagegen sieht - in einem Beitrag zum selben Heft - gerade im Bezug zur Öffentlichkeit die Chance für die Soziologie, einer Art hypnotischer Redundanz zu entkommen. Die Positionen zur Public Sociology scheinen unvereinbar. Könnte das Modell Citizen Science eine Mittlerfunktion übernehmen? Ist die Bürgerwissenschaft sogar die langersehnte Lösung eines soziologischen Legitimitätsproblems?


Citizen Science als experimentelle Form der Public Sociology

Die Citizen-Science-Bewegung fordert die Integration lebensweltlichen Wissens in die Wissenschaft auf allen Stufen des Forschungsprozesses, beginnend mit der Formulierung von Forschungsfragen, der Festlegung des Forschungsdesigns, der Datenerhebung bis hin zur -auswertung, der Interpretation und Vermittlung. Blickt man allerdings genauer in die Projektbeschreibungen von Citizen Science, wie sie in Datenbanken gelistet sind, so gehen die Partizipationsmöglichkeiten bislang kaum über die Sammlung von (digitalen) Daten hinaus. Bürger treten somit vorrangig als "Zuarbeiter" der Wissenschaft auf, weit weniger in der Rolle des freien Amateurforschers, der den Kern von Finkes Vision einer Citizen Science proper im Unterschied zu Citizen Science light markiert. Die professionelle Rolle des Wissenschaftlers umfasst darüber hinaus - und dies wurde im Diskurs um Citizen Science bislang vernachlässigt - nicht nur die Seite der Produktion, sondern auch die der Rezeption, um das Wissen der anderen für eigene Forschungsvorhaben nutzbar zu machen. Wissenschaftler sind also stets Produzenten, Rezipienten und Kritiker von Wissen zugleich, was verschiedene Formen von Expertise in Anschlag bringt.

Dabei bietet Citizen Science für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Soziologie im Besonderen vor allem als Reflexionsinstanz ein Potenzial zur Innovation. Anders als andere Wissenschaftsbereiche muss die Soziologie sowohl ihr Erkenntnisinteresse als auch ihr Vorgehen kontinuierlich rechtfertigen. Für öffentliche Debatten um soziologische Erkenntnisse mangelt es derzeit an interaktiven Vermittlungsräumen, in denen die Stimmen der Wissenschaft sich erklären und die Stimmen des Publikums Gehör finden. Als spezifische Form einer Public Sociology könnte Citizen Science somit relevante Impulse für die soziologische Forschung erbringen, sei es um Forschungsfragen zu generieren oder Ergebnisse neu zu reflektieren. Eine Bürgerwissenschaft wäre demnach dazu geeignet, eine kommunikative Schnittstelle zwischen der Fachcommunity und einem allgemeinen Publikum zu bilden, wenn man sie als einen möglichen Bezug zu heterogenen Öffentlichkeiten versteht.

Aufgabe einer so verstandenen Public Sociology wäre es, der Gesellschaft den soziologischen Blick verständlich zu machen und Neugierde an soziologischen Erkenntnissen zu wecken. Citizen Science wäre insofern ein Mittel, Vertrauen zu schaffen, Interessen zu binden, aber auch Kritik produktiv werden zu lassen. Das Programm Citizen Science birgt zusammenfassend das Potenzial, der Debatte um Public Sociology eine neue Richtung zu geben. Im Ergebnis würde die Soziologie dort ankommen, wo sie hingehört: in der Mitte der Gesellschaft. Historische Vorläufer gibt es, doch fehlt es aktuell an allgemein akzeptierten Interaktionsformen. Die durch Digitalisierung eröffneten Inklusionsräume sind für wissenschaftliche Zwecke der Herstellung und Darstellung von Wissen bei Weitem noch nicht erschlossen. Mut und Experimentierfreude sind gefragt, um die Soziologie für Citizen Science und Citizen Science für die Soziologie anschlussfähig zu machen.


Martina Franzen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik. Sie forscht über das Verhältnis von Wissenschaft, Medien, und Öffentlichkeit, aktuell vor allem zu den Folgen der digitalen Wende der Wissenschaft. Ihr Hauptinteresse gilt dabei neuen Inklusionsmustern der Wissenschaft und neuen Bewertungspraktiken wissenschaftlichen Wissens.
martina.franzen@wzb.eu

Iris Hilbrich ist Masterstudentin der Soziologie an der Universität Wien. Sie befasst sich unter anderem mit dem sozialtheoretischen Verhältnis von Kultur und Gesellschaft, vor allem mit Blick auf Partizipation und Inklusion. Im Sommer 2015 war sie Forschungspraktikantin in der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik.
iris.hilbrich@gmail.com


Literatur

Dickel, Sascha / Franzen, Martina: "Digitale Inklusion: Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems". In: Zeitschrift für Soziologie, 2015, Jg. 44, H. 5, S. 330-347.

Finke, Peter: Citizen Science. Das unterschätze Wissen der Laien. Oekom Verlag 2014.

Hitzler, Ronald: "Wie viel Popularisierung verträgt die Soziologie?" In: Soziologie, 2012, Jg. 41, H. 4, S. 393-397.

Selke, Stefan: "Soziologie für die Öffentlichkeit - Resonanzräume fragmentierter Publika". In: Soziologie, 2012, Jg. 41, H. 4, S. 400-410.

Turner, Stephen: American Sociology: From Pre-Disciplinary to Post-Normal. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014.


Weiterführende Links:
GEWISS: Konsultation zur Citizen Science Strategie. 2015. Online:
http://www.konsultation.buergerschaffenwissen.de/13-citizen-science-ein-beitrag-zur-partizipationsdebatte-der-wissenschaft
(Stand 10.11.2015).

Bürger schaffen Wissen. Die Citizen Science Plattform. Online:
http://www.buergerschaffenwissen.de/projekte-finden
(Stand 10.11.2015).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 150, Dezember 2015, Seite 26-29
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2016

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