Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

FORSCHUNG/096: Eine Wahl macht noch keine Demokratie (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2009

Eine Wahl macht noch keine Demokratie
Forscher der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung untersuchen,
wie Europa und die Welt gerecht regiert werden könnten

Von Josef Zens


Der Dienstagnachmittag nach der Europawahl in Frankfurt am Main ist schwül, ein Gewitter wird sich am Abend entladen. Bis es soweit ist, werden wir drei Wissenschaftler kennenlernen, die über Demokratiedefizite, Mitbestimmung und Konflikte diskutieren. Sie arbeiten an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und beschäftigen sich mit der Europäischen Union, Bosnien-Herzegowina sowie generell mit Verträgen und Konflikten zwischen Staaten. Und alle drei räumen mit einigen weit verbreiteten Vorurteilen auf.


Zum Beispiel mit dem vermeintlichen Demokratiedefizit der Europäischen Union. "Wenn es nur um die parlamentarische Mitsprache und Kontrolle ginge, könnte man einen Mangel sehen", sagt Dirk Peters, "aber Demokratie ist mehr als Wahlen und Parlamentarismus." Gerade bei großen und heterogenen Gebilden wie der EU sei der Schutz von Minderheiten sehr wichtig, und der ist Peters zufolge "in der EU exzellent". Die komplizierten Abstimmungsregeln bei EU-Beschlüssen, die viele in Deutschland als hemmend empfänden, seien dabei zentral, denn ohne sie sei die Gefahr groß, dass kleinere Staaten stets überstimmt würden. So aber sind auch die mächtigen Mitglieder immer wieder zu Verhandlungen und Konzessionen gezwungen. Doch sind es nicht gerade die vielen Verhandlungsrunden mit immer neuen Akteuren, die die EU undurchschaubar machen? "Das stimmt schon", räumt Dirk Peters ein, "aber ich kenne kaum eine Organisation, die so transparent ist wie die EU - man findet auf den Webseiten alles." Das Problem sei nur, dass die EU "so völlig anders als jeder der Mitgliedsstaaten funktioniert." Selbst die, die sich mit politischen Systemen gut auskennen, durchschauen in der EU zunächst wenig.


Dauerzustand Große Koalition

Hinzu kommt die fehlende Personalisierung. Da die EU-Kommissare und ihr Präsident nicht vom Europaparlament gewählt werden, ist der Wahlkampf gewissermaßen nur ein halber. Schlimmer noch: Selbst die Partei-Kandidaten, die sich in den Mitgliedsstaaten zur Wahl stellen, gehen später in Fraktionen auf, die dem einzelnen Wähler fremd sind. Die SPD etwa sitzt dann bei den europäischen Sozialisten, die Union bei den Konservativen. "De facto haben wir in der EU seit Jahren eine große Koalition", sagt Peters. "Es stimmt übrigens auch nicht, dass die Europa-Abgeordneten machtlos sind", fügt der HSFK-Forscher hinzu, "mittlerweile müssen zwei Drittel der EU-Beschlüsse durchs Parlament." Er hielte es aber für einen Fehler, das Europaparlament zum Beispiel in der Sicherheitspolitik mit Befugnissen auszustatten, wie sie der Deutsche Bundestag hat. "Da würden die Interessen der Mitgliedsländer weniger austariert als derzeit."

Was passiert, wenn sich Volksgruppen dauerhaft benachteiligt sehen, konnte man im auseinanderbrechenden Jugoslawien beobachten. "Da waren die Wahlen zunächst wie eine Art Volkszählung, die nach einzelnen Gruppen sortierte", berichtet Thorsten Gromes. Und: "Die Parteien, die Krieg führten, waren zuvor gewählt worden." Gromes, der die Konflikte dort seit mehr als sieben Jahren untersucht, sagt: "Wir Westeuropäer nehmen Demokratie als Normalzustand wahr und vergessen, dass der Weg dorthin mit Konflikten einhergeht." Man müsse sich nur klar machen, was es für alte Eliten heißt, Macht abzugeben. Für internationale Organisationen, die helfen wollten, ergeben sich daraus wichtige Lehren: "Es gibt immer Verlierer der Demokratisierung. Doch sieht sich eine ganze Volksgruppe als dauerhafte Verliererin, ist das ein Rezept für Bürgerkrieg." Wahlen, die keine Gewaltkonflikte provozieren oder verschärfen, so Gromes, "sind voraussetzungsreich".

Denselben Begriff benutzt auch Klaus Dieter Wolf, stellvertretender Direktor der HSFK und Mitgründer des Exzellenz-Clusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen", an dem neben der Frankfurter Goethe-Universität auch die TU Darmstadt beteiligt ist. Um welche Voraussetzungen geht es? Für uns sei es normal, sagt Wolf, Mehrheitsbeschlüsse zu akzeptieren; normal, dass jemand, der eine Wahl verliert, später erneut antreten kann und nicht fürchten muss, im Kerker zu verschwinden. Wolf: "Demokratie bedarf einer kollektiven Identität." Die gab es in Ex-Jugoslawien nicht, und die gibt es auch nicht in der Welt. "Man stelle sich vor", sagt Wolf, "Deutschland müsste sich stets den Beschlüssen einer chinesischen Mehrheit fügen." Niemand sei gerne eine strukturelle Minderheit, dabei gehe die Selbstbestimmung verloren. Und deshalb ist Wolf zufolge der Wunsch nach einer Demokratisierung des grenzüberschreitenden Regierens auf Grundlage von Mehrheitsentscheidungen "mit vielen Ambivalenzen behaftet".


Legitimität auch ohne Wahlen

Wie sein Kollege Peters spricht Wolf von Minderheitenschutz und, auf zwischenstaatlicher Ebene, von Autonomie-Schonung. Hierbei spielten Wahlen und Mehrheitsbeschlüsse eine untergeordnete Rolle. Horizontale Formen politischer Steuerung, wie etwa durch internationale Verträge, seien weitaus wichtiger: "Der Beitritt muss freiwillig sein", unterstreicht Wolf, "wer nicht will, bleibt draußen." Die Freiwilligkeit verschaffe Legitimität und damit die Bereitschaft, dem Vertragstext zu folgen. Manche Entscheidungen seien sogar tragfähiger, wenn sie durch die Mitwirkung von Experten und Anspruchsgruppen (neudeutsch: "Stakeholder") legitimiert würden. Als Beispiel nennt Wolf die Verhandlungen zum Klimaschutz, die in Verträge wie das Kyoto-Protokoll mündeten: Regierungsvertreter, Nicht-Regierungsorganisationen und Experten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) sitzen am Verhandlungstisch. Dazu gab es kein EU-Referendum und keine Wahlen. "Im internationalen System ist Zwang nur schwer zu legitimieren", resümiert Wolf. So sehen alle drei HSFK-Experten Kriege, die zur Demokratisierung der angegriffenen Staaten führen sollen, mit großer Skepsis. Selbst freie Wahlen, die von Besatzungsmächten organisiert würden, führten nicht unbedingt zur Demokratisierung, sondern könnten im schlimmsten Fall erneut Bürgerkriege auslösen.

Aber auch einvernehmliche Lösungen müssen nicht unbedingt demokratisch sein - so wie in den vielen EU-Verhandlungsrunden. "Da liegt eine Gefahr verborgen", urteilt Wolf. Nationale Regierungen lagerten bewusst Entscheidungen aus, von denen sie annähmen, dass sie im eigenen Land keine Mehrheit fänden. "Danach kommt der Regierungschef dann zurück zu seinem Parlament und legt die Entscheidung zur Ratifizierung vor - stets mit der Warnung, ein Nein könne die EU gefährden." Da ist es also doch, das Demokratie-Defizit, das Wolf beispielsweise im Bologna-Prozess manifestiert sieht. Er wünsche sich mehr Kontrolle durch die nationalen Parlamente, etwa durch Begleitrechte. Interessanterweise gibt es bereits eine Instanz, die dem nahekommt: Die West-Europäische Union (WEU), die als Pendant zur NATO gedacht war, hatte ein Gremium installiert, in das jedes nationale Parlament Abgeordnete entsendet, eine Art transparlamentarische Versammlung. "Die gibt es noch", sagt Wolfs Kollege Dirk Peters. Doch er schränkt gleich ein: "Niemand hat wirklich Interesse daran, ein zweites EU-Parlament zu etablieren." Es bleibt also kompliziert, aber auch spannend für die Forscher. Und eines gibt Peters noch mit auf den Weg in den Abend nach dem Gewitter: "Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt der Weltgeschichte."


*


Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2009, Seite 10-11
Herausgeber: Leibniz-Gemeinschaft
Postfach 12 01 69, 53043 Bonn
Telefon: 0228/30 81 52-10, Fax: 0228/30 81 52-55
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de

Jahresabonnment (4 Hefte): 16 Euro, Einzelheft: 4 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2009