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SCHACH-SPHINX/06511: Ein verhängnisvoll langer Gedanke (SB)


Zu lange über einen Gedanken zu brüten, kann die Partie kosten, und das aus einem einfachen Grund - nämlich dem des Vergessens. Es erscheint seltsam, aber wer kennt nicht solche Augenblicke aus dem eigenen Leben. Da überlegt man eine Nebensache, behält sich aber fest im Sinn, die Hauptsache nicht aus dem Kopf zu verlieren. Solange man es sich immer wieder vorsagen kann, geht es gut, doch dann schießt plötzlich ein wildfremder Gedanke in die Überlegung hinein, und ehe man den Weg wieder zurückfindet zum Eigentlichen, hat man sich in den Nebeln verirrt. Dem armenischen Großmeister Tigran Petrosjan war es so auf dem Kandidatenturnier in Amsterdam 1956 ergangen. Vor ihm auf dem Brett stand eine gewonnene Stellung. Prächtig hatte er bis dahin gespielt und seinem Kontrahenten David Bronstein jede Konterchance genommen. Petrosjan hätte nun einfach seine angegriffene Dame wegsetzen müssen. Statt dessen kam er ins Grübeln. Was wäre, wenn...? Er bemerkte die Irritation wohl, unterschätzte sie jedoch. Und als er sich mehr und mehr von der Gefahr entfernte, die seiner Dame drohte, zog er mit dem Springer. Er hatte einfach aus dem Sinn verloren, daß seine Dame immer noch angegriffen war. Bronstein erinnerte sich später: "Nie werde ich den Blick des Schreckens vergessen, mit dem Petrosjan das Verschwinden seiner Dame vom Brett registrierte. Mit einem Ausdruck hoffnungsloser Resignation stoppte er schweigend die Schachuhr. Tragisches Ende einer Partie, die die beste seines Lebens hätte sein können." Später, nach Ende des Turniers, als die Herren Großmeister zur Abschlußfeier zusammen am reichgedeckten Tisch saßen - neben allerlei Leckerbissen stand auch eine Torte auf dem Tisch, mit Schachfiguren aus Zuckerwerk verziert-, schnitt Bronstein jenes Stückchen der Torte mit der weißen Dame ab und reichte sie Petrosjan, dabei wie zur Versöhnung flüsternd: "Hier hast du deine Dame zurück." Viele Jahre später in Hastings 1977 ließ Petrosjan seine Gedanken erst gar nicht abschweifen, sonst ergriff sofort zu, um im heutigen Rätsel der Sphinx mit den weißen Steinen seinen englischen Kontrahenten John Nunn zur Kapitulation zu zwingen, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/06511: Ein verhängnisvoll langer Gedanke (SB)

Petrosjan - Nunn
Hastings 1977

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Nach 1.a2-a4 war die Not nah und die Rettung schien fern, aber mit 1...Ke4-d3 2.Se3-d5 Kd3-e2 3.Sd5-f4+ Ke2xf2 4.Sf4xh3 - guter Einfall, aber... - 4...Kf2-f1! 5.Sh3-f4 g4-g3 6.Sf4-g2 Kf1-f2 7.a4-a5 h5-h4 8.Sg2-f4 Kf2-f1 9.Sf4-g2 h4-h3 10.Sg2-e3+ Kf1-f2 11.Se3-g4+ Kf2-e2 konnte Michail Botwinnik dank der Mattdrohung 12...g3-g2# die Partie doch noch für sich entscheiden.


Erstveröffentlichung am 25. März 2005

21. März 2018


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