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SCHACH-SPHINX/05569: Ein philosophischer Holzkopf (SB)


Bedauerlich, daß selbst große Philosophen, die die Natur als höchstes Prinzip verehrten, zuweilen so arg danebengriffen und die simpelste, ausgehöhlteste und seit Menschengedenken wohl naivste Form zum Erlernen des Schachspiels wählten. Mit einem Wort: Jean-Jacques Rousseau, dessen Forderung "zurück zur Natur" ihm über das Grab hinaus Ruhm einbrachte, war solch ein Holzkopf gewesen. Wir hören ihn selbst: "Nachdem ich die Züge, so gut es ging, gelernt hatte, waren meine Fortschritte so gewaltig, daß ich Bagueret einen Turm vorgeben konnte, obwohl es vorher umgekehrt war. Ich brauchte nichts mehr. Ich war völlig schachverrückt. Ich kaufte ein Schachbrett. Ich kaufte das Buch von Greco. Ich schloß mich in mein Zimmer ein und verbrachte da Tage und Nächte, um alle Partien auswendig zu lernen, meinen Kopf wohl oder übel vollzustopfen und endlos allein zu spielen. Nach zwei oder drei Monaten Studium auf diese Art und nach unglaublichen Entbehrungen, ging ich ins Café mit blassem und eingefallenem Gesicht, benommen und fast blöd. Ich machte einen Versuch, spielte wieder mit Herrn Bagueret. Er schlug mich einmal, zweimal, zwanzigmal. In meinem Kopf kreisten all die schönen Kombinationen durcheinander, und meine Vorstellungskraft war so abgestumpft, daß ich wie benebelt dasaß." Was hatte unser lieber Philosophenkopf falschgemacht? Er wollte bloß auf fauler Haut nachahmen, Trittbrettfahrer sein, und so huldigte er der blutleeren Künstlichkeit, anstatt den eigenen Wuchs und inneren Drang zu formen. Was halfen ihm zuletzt all die aufgeschriebenen Partien Grecos, die er nachäffte? Anders handhabte die Kunst dagegen Meister David Bronstein. Nicht Schildkröte war er, die sich im eigenen Bau versteckte, sondern ein biß- und krallengefährlicher Tiger. Er schärfte seine Sinne im wildesten Schachdschungel, und heraus kam, wie im heutigen Rätsel der Sphinx, ein unvoreingenommener Denker. In seiner Partie gegen den litauischen Meister Vladas Mikenas setzte er mit den weißen Steinen auf unnachahmlich kombinationsfreudige Weise matt. Kopf angestrengt, Wanderer, dann geht's!



SCHACH-SPHINX/05569: Ein philosophischer Holzkopf (SB)

Bronstein - Mikenas
Rostow 1941

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Byrne zog 1.Sb3-d4! und traf seinen Kontrahenten Balaschow am schwächsten Nerv. 1...Lf5-g6 war wegen 2.h4-h5 völlig indiskutapel, während 1...e5xd4 an 2.Td1-e1+ scheiterte. In seiner kargen Not opferte Balaschow daher mit 1...Dc4xd4 seine Dame, was ihm jedoch weder etwas einbrachte, noch seine Lage verbesserte: 2.Td1xd4 Tc8xc2 3.Sd5-c7+ Ld8xc7 - 3...Tc7xc2+ 4.Kb1-a1 e5xd4 Tg1-e1+ - 4.Dg2-a8+! - der entscheidende Hammerschlag - 4...Ke8-e7 5.Tg1-g7+ Ke7-f6 6.Da8xh8 und Balaschow gab sich geschlagen.


Erstveröffentlichung am 06. September 2002

17. August 2015


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