Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


SCHACH-SPHINX/05423: Speculum mentis (SB)


Es geht uns leicht von den Lippen, denn wir sind es gewohnt, von Strategie und Taktik zu sprechen, als seien es zwei verschiedene Welten, getrennt durch eine Schwelle, die quer durch unser gesamtes Denken verläuft. Es ist dies das Erbe der analytischen Tradition, deren sezierender Blick die Schachpartie in zwei ordnungsgemäße Bereiche aufsplittert. Jeder Bereich hat sich dann der Logik der Entfremdung entsprechend rasend weiterentwickelt, indem Antworten auf Fragen gefunden wurden, die noch gar nicht gestellt waren. Auch haben wir darüber gelernt, Antworten höher zu schätzen als Fragen, die in ihrer Essenz die größte Nähe zu den unbewältigten Schwierigkeiten bargen. Und das macht im Grunde genommen den eigentlichen Brandherd unseres Unvermögens aus, nämlich das vitale Ganze einer Spaltung der Interessen zu unterwerfen. Basil Willey drückte diesen Umstand folgendermaßen aus: "Der Trend zur Spezialisierung, zur Unterteilung in engbegrenzte Fächer und zur Aufsplitterung in den geistes- und Naturwissenschaften hat heute ungeahnte Ausmaße erreicht ... und wir bedürfen heute mehr denn je eines speculum mentis, eines umfassenden Überblicks oder Atlanten der Welt des Geistes, durch die ein gewisses Gespür für das Ganze erreicht und gewahrt werden kann." Nun darf man allerdings nicht außer acht lassen, daß holistische Konzepte oder Ganzheitsbetrachtungen immer nur eine blasse Reflexion der aus Teilen und Antworten zusammengezimmerten Ordnungssysteme darstellt, denn das bedeutet Ordnung ja im Kern: Dinge gegenüberzustellen, die in ihrer Einzigartigkeit keine Nahtstelle zueinander aufweisen. So ist das Bemühen, sich aus dem Konflikt herausstehlen zu wollen, indem die Teile schlechterdings mit dem Begriff des Ganzheitlichen harmonisiert werden, so ohnmächtig wie eine Augenwischerei. Wer nun jedoch eine Antwort einfordert, indem er im ersten Reflex fragt, was dann, wenn nicht Teilen, der hat wohl einen langen Augenblick lang vergessen, daß Teilung zur Herrschaftsideologie gehört. Aufschlußreich ist in diesem Sinne das heutige Rätsel der Sphinx, weil nämlich Meister Kotow, der mit den schwarzen Steinen nach einer Aktivierung seiner unnütz herumstehenden Figuren fahndete, ausgerechnet auf die Idee verfiel, sich mit dem Bauernopfer 1...e5-e4? einen Brückenkopf auf e5 schaffen zu wollen. Was hatte er dabei übersehen, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05423: Speculum mentis (SB)

Boleslawski - Kotow
Moskau 1942

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Meister Grünfeld hatte seine Falle so gut getarnt, daß er schließlich selbst auf sie hereinfiel, denn natürlich brauchte sein Kontrahent Torre nicht auf die Folge 1...Ld6xe5? 2.Lb2xe5 Df6xe5 3.f3xe4 De5xa1 4.Sb1-c3 einzugehen. Torre spielte statt dessen 1...Ld6-c5+ 2.Kg1-h1 Se4xg3+! und gewann, denn das Matt war nicht mehr zu verhindern; auf 3.h2xg3 wäre 3...Df6-h6+ mit baldigem Matt gefolgt.


Erstveröffentlichung am 14. April 2002

24. März 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang