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SCHACH-SPHINX/05308: Historischer Etikettenschwindel (SB)



Es geht Schachspielern leicht von den Lippen, wenn sie behaupten, auch das Schachspiel habe seine Göttin. Dann sprechen sie ihren Namen aus, als küßten sie den Wind, voller Zärtlichkeit und Dank. Caissa heißt die Vielumworbene, nur daß es diese gute Fee oder Muse des Schachspiels in den Legenden nie gegeben hat. Und auch ihr Name ist nur aus einem Übersetzungsmißgeschick in die Welt hineingeboren worden. Der Ursprung des Irrtums liegt weit zurück in der Vergangenheit. Im Jahre 1513 schrieb der Bishof Hieronymus Vida mit graziler Feder zur Ehre des Schachspiels ein 700 Hexameter umfassendes Gedicht mit dem Titel "Scacchia Ludus". In diesem Mammutwerk steht nun die Mär geschrieben, wie der römische Hauptgott Jupiter auf die Erde herabkam, um mit der Waldnymphe Scacchia - wie es alle Götter gerne taten - ein kleines Liebesabenteuer einzugehen. Als er schließlich von ihr ging, machte er ihr für die schönen Stunden ein kostbares Schachspiel zum Geschenk. Als das Brett später in die Hände der Menschen geriet, begann der Siegeszug des Schachspiels durch die Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte. 250 Jahre auf dem irdischen Kalender später übersetzte ein englischer Gelehrter, der ebenso vernarrt in das Gedicht war wie vom Schachspiel besessen, das Werk des Hieronymus Vida in seine Muttersprache. Nur beim Wörtchen Scacchia kam er ins Straucheln. Offenbar reimte es sich nicht mit dem Englischen, und daher verwandelte er den Nymphennamen Scacchia kurzerhand in Caissa. So war aus dem Schaum der Dichtung die uns heute wohlbekannte Hüterin des Königlichen Spiels erschaffen worden. Aber nun zurück zum heutigen Rätsel der Sphinx. In der Diagrammstellung kam es, ähnlich wie bei der Schachmuse, zu einem groben Fall von falscher Etikettierung. Meister Wladimirow zog mit den weißen Steinen 1.Lb5- d7+?, was ein ernster Fehler war, aber Smyslow revanchierte sich nach 1...Ke6-e7 2.Ld7-b5+ mit 2...Ke7-e6? Derselbe Fehler wiederholte sich nochmals: 3.Lb5-d7+? Ke6-e7 4.Ld7-b5+ Ke7-e6? und nun erst begriff Meister Wladimirow, daß er sich nicht mit dem Etikettenschwindel eines Remis begnügen mußte und fand den richtigen Gewinnzug. Finde auch du ihn, Wanderer!


SCHACH-SPHINX/05308: Historischer Etikettenschwindel (SB)

Wladimirow - Smyslow
UdSSR 1961

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Das Glück ist bekanntlich ein wechselhaftes Ding, und so ließ es Meister Gufeld in dem Augenblick im Stich, als er sich seines Sieges am sichersten wähnte. Als sein Kontrahent Kähmann nämlich 1...Db2xc2! zog, mußte Gufeld sofort aufgeben. 2.Tc1xc2 scheiterte an 2...Tf5-f1# und auf 2.d7-d8D wäre 2...Dc2-g2# gefolgt. Bliebe im Grunde nur 2.De3xg3, aber nach 2...Dc2xc1+ hätte der weiße Materialverlust ein erdrückendes Maß erreicht.


Erstveröffentlichung am 28. Dezember 2001

29. November 2014





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