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INTERNATIONAL/193: China - #FreeTheFive (frauensolidarität)


#FreeTheFive

Pressefreiheit, die 'Feminist Five' und 26 Jahre Tian'anmen-Massaker in China

von Astrid Lipinsky


Am Vorabend des Internationalen Frauentages dieses Jahres verhaftete die Polizei in Beijing, Hangzhou und Guangzhou - also landesweit - mehrere Aktivistinnen. Die Frauen hatten geplant, Aufkleber gegen sexuelle Belästigung im öffentlichen Nahverkehr zu verteilen, aber wahrscheinlich ist ihre Verhaftung Teil der aktuellen Verfolgung von NGOs in China.

In einem Lehrbuch für Journalist_innen zum "Chinesischen Traum" von Staatschef Xi Jinping steht: "Anders als in westlichen Ländern ist es die wichtigste Aufgabe der Medien in unseren Ländern, Ohren, Augen, Kehle und Zunge der Kommunistischen Partei und des Volkes zu sein." Im April 2014 wurde die 70jährige Journalistin Gao Yu verhaftet, weil sie ein "geheimes" Dokument an ausländische Pressevertreter_innen weitergeleitet hatte. Gao hatte in den 1990er-Jahren bereits fünf Jahre wegen "Landesverrat" im Gefängnis gesessen.

Am 30. Juni 2014 verabschiedete China "Maßnahmen für den Umgang mit Informationen, an die Journalist_innen bei ihrer Tätigkeit herankommen", die der Presse die Verbreitung von "nicht publiziertem Material" und "Nachrichtenprodukten" bei Strafe verbieten, also de facto alles. Das gilt besonders für Informationen an Ausländer_innen, was grundsätzlich ein "Verrat von Staatsgeheimnissen" ist.

Im September 2014 sahen 80 % der befragten ausländischen Journalist_innen in China eine kontinuierliche Verschlechterung des Presseumfelds seit der Lockerung für die Olympischen Spiele 2008. Während ausländische Journalist_innen maximal ausgewiesen werden können - oder ihr Visum nicht verlängert wird -, werden ihre chinesischen Kolleg_innen direkt bedroht, was von der Durchsuchung ihrer Wohnungen bis zur Verhaftung reichen kann. Dasselbe galt für die Weltfrauenkonferenz 1995, als plötzlich im März 1996 die Gründung des Media Monitor for Women Network möglich wurde, Chinas erste Frauen- und Medien-NGO. Heuer fungiert China als Co-Gastgeber_in beim Forum der Vereinten Nationen zu 20 Jahren Beijinger Aktionsplattform und verhaftet in China Medien-Aktivistinnen. Nichts gelernt?


Ist sexuelle Belästigung in China erlaubt?

Partei und Regierung haben die zunehmende sexuelle Belästigung von Frauen in der Öffentlichkeit als Problem identifiziert. Ihr Lösungsvorschlag: Erstens sind die Frauen selbst verantwortlich, und zweitens sollten sie halt keine Miniröcke und Hot Pants anziehen ... Chinesische Feministinnen, wie die Feminist Five, sind anderer Meinung und sehen Handlungsbedarf.


Feministische Aktion

Die Feminist Five planten am Internationalen Frauentag die Verteilung von Stickern gegen sexuelle Belästigung im öffentlichen Nahverkehr. Sie werden nach § 293 chinesischem StGB wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" angeklagt, bevor sie das "Verbrechen", das mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann (bei mehrfacher Tathandlung mit bis zu zehn Jahren), überhaupt begangen hatten. Sie kamen nicht weiter, als ihren Plan der Aktion gegen sexuelle Belästigung im Internet zu streuen.

Die Gemeinsame Interpretation von Oberstem Gerichtshof und Oberster Staatsanwaltschaft vom Juli 2013 verlangt für die "Störung" einen öffentlichen Ort wie eine Busstation, einen Markt, einen Bahnhof "oder einen anderen öffentlichen Ort", wozu Internet-Mailinglisten kaum gezählt werden können. Als "Internet-Verbrechen" nach § 293 Nr. 4 chinesischem StGB gilt nur die "Verbreitung von (falschen) Gerüchten im Internet". Nach § 293 angeklagt und im Gefängnis sitzen vor allem Menschenrechtsanwält_innen wie Pu Zhiqiang.

Die Anklage der Feminist Five bedeutet auch, dass der Staat Aktivistinnen genauso ernst nimmt (und fürchtet) wie männliche Aktivisten. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Verhaftung der Anwältin Wang Yu der Beijinger Kanzlei Fengrui Law Firm am 9. Juli 2015 um vier Uhr früh. Es gelang ihr noch, Freund_innen zu informieren, dass Fremde versuchten, ihre Wohnungstür aufzubrechen, bevor sie spurlos verschwand. Wang Yu ist nur eine von zahlreichen Menschenrechtsanwält_innen. Über den Hashtag #FreeRightsLawyers wird versucht, international Druck für ihre Freilassung aufzubauen.


26 Jahre Tian'anmen und fehlende Nachhaltigkeit

China verzeichnet seit dem Sturz des Kaiserreiches eine ganze Reihe von Student_innen-Protesten. International bekannt sind vor allem die "4. Mai-Bewegung" von 1919 und die am 4. Juni 1989 gewaltsam niedergeschlagenen Tian'anmen-Proteste. Schon 1989 wurde auf die zahlreichen (inhaltlichen) Wiederholungen gegenüber 1919 hingewiesen. Heuer, 2015, sind es erneut die gleichen Forderungen nach Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Auch die gewaltsamen Reaktionen von Partei und Staat sind die gleichen.

Aber: Die Feminist Five von 2015 waren größtenteils 1989 noch gar nicht geboren oder Kleinkinder. Hingegen sterben die "Mütter des Tian'anmen" allmählich aus. Für die Feminist Five dagegen ist Tian'anmen kein Bezugspunkt. Und obwohl sie sich durch die Nutzung von Internet und sozialen Medien unterscheiden, gibt es doch von außen betrachtet Gemeinsamkeiten: Auch die Feminist Five suchten pünktlich zum Internationalen Frauentag 2015 mit ihrer Kampagne gegen sexuelle Belästigung im öffentlichen Nahverkehr die breitere Öffentlichkeit, und genau wie für die Student_innen vom Tian'anmen war das für den Staat das Signal zum Eingreifen - und zwar bevor den Feminist Five die Massenmobilisierung vom Tian'anmen gelingen konnte und obwohl sie dafür neue Medien wie WeChat und Weibo oder mobile Anwendungen wie Surespot nutzten. Der Staat stellte unter Beweis, dass neue Medien keinen Schutz vor dem Massenmobilisierungsverbot bieten.


Zur Autorin: Astrid Lipinsky leitet das Wiener Zentrum für Taiwanstudien und gibt die Vienna Taiwan Studies Series heraus. Sie lebt in Wien.


Die Feminist Five

Wu Rongrong (30), Gründerin und Direktorin des Weizhiming Women's Center in Hangzhou.

Wei Tingting (27), Direktorin der LGBT-Nichtregierungsorganisation Ji'ande in Beijing, beteiligt an zahlreichen Frauenrechtsaktivitäten von NGOs gegen Diskriminierung und häusliche Gewalt.

Zheng Churan (25), auch Datu ("Giant Rabbit"), Angestellte der NGO Yirenping in Guangzhou, Gründerin der Feminist Youth Action Group, einem losen Netzwerk von Universitätsstudentinnen und NGOs; zahlreiche lokale Initiativen gegen sexuelle Gewalt und für Frauen mit Behinderungen.

Li Tingting alias Li Maizi (26), Managerin des LGBT-Programms von Yirenping in Beijing . Yirenping, gegründet 2007, setzt sich gegen die Diskriminierung von HIV/Aids-Infizierten und Behinderten ein.

Wang Man, Koordinatorin des Global Call to Action Against Poverty (GCAP) in Beijing und der Feminist Task Force, beides internationale NGO-Allianzen, die zu Gender in der Armutsbeseitigung arbeiten.


Chronik der Ereignisse

6. März, 16 Uhr: Verschleppung von Wei Tingting und Wang Man zur Haidian-Polizeistation in Beijing.

6. März, Mitternacht: Verhaftung von Li Tingting (alias Li Maizi) in ihrer Wohnung in Beijing.

6. März, Mitternacht: Verhaftung von Zheng Churan (alias Datu) in ihrer Wohnung in Guangzhou.

7. März, 14 Uhr: Verhaftung von Wu Rongrong bei ihrer Ankunft am Flughafen Hangzhou.
Zheng und Wu wurden beide für die Strafverfolgung nach Beijing gebracht, das heißt, ihr Verbrechen ist ein nationales.

14. April: Die Feminist Five werden "bedingt freigelassen", das heißt für ein Jahr unter polizeiliche Aufsicht gestellt, und haben Reiseverbot.

Die Feminist Five bleiben 37 Tage inhaftiert. Keine der Familien wird informiert. Im Weizhiming Women's Center in Hangzhou, gegründet von Wu Rongrong, wo Li Tingting und Zheng Churan arbeiten, wird eine Polizeirazzia durchgeführt, Computer und Telefone im Center und privat werden konfisziert. Nach erheblichem Druck auf Familienangehörige und Freund_innen muss das Center schließen.

Innerhalb und außerhalb Chinas gab es über den Hashtag #FreeTheFive einen Proteststurm, dem sich in den USA sogar Hillary Clinton anschließt.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 133, 3/2015, S. 10-11
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2015

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