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INTERNATIONAL/058: Guatemala - Bürgerwehren verbreiten Angst und Schrecken (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2011

Guatemala: Zwischen Schutz und Repression - Bürgerwehren verbreiten Angst und Schrecken

von Danilo Valladares


Guatemala-Stadt, 20. Dezember (IPS) - Menschenrechts- und Sozialaktivisten in Guatemala werden zunehmend zur Zielscheibe staatlich unterstützter Bürgerwehren. Angesichts der verbreiteten Straflosigkeit in dem zentralamerikanischen Land haben die selbsternannten Ordnungskräfte weitgehend freie Hand.

"Maskierte Männer kamen in unser Büro und bedrohten uns", berichtet Enrique Boj, Aktivist einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in San Juan Sacatepéquez, die Armenviertel mit Wasserleitungen und sanitären Anlagen ausstattet. Die Ortschaft liegt rund 30 Kilometer von Guatemala-Stadt entfernt.

Der Vorfall wurde offenbar von Mitarbeitern organisiert. Einige Mitglieder der NGO seien mit den administrativen Abläufen nicht einverstanden gewesen, sagt Boj. "Sie holten sich die Gruppe zur Hilfe, um uns einzuschüchtern. Man hat uns beschimpft und Scheiben eingeworfen."

In den vergangenen vier Jahren haben die Bewohner von San Juan Sacatepéquez, wo vorwiegend Indigene vom Volk der Cakchiquel Maya leben, häufig Repressalien lokaler Sicherheitskomitees erdulden müssen. Maskierte Männer patrouillieren nachts mit Revolvern, Macheten, Stöcken und Steinen bewaffnet durch die Städte, angeblich um Verbrechen vorzubeugen.


300 Bürgerwehren

Die Gruppen wurden 1999 mit Unterstützung der Behörden gegründet, um nach Angaben des Innenministeriums "engere Bindungen zwischen der Nationalen Zivilpolizei und den Bürgern zu schaffen". In dem zentralamerikanischen Land gibt es mittlerweile mindestens 300 solcher Bürgerwehren.

Die Mordrate in Guatemala ist laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP mit 52 pro 100.000 Einwohner eine der höchsten der Welt. Nach Erkenntnissen der Weltbank leben 75 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Von ihren ursprünglichen Zielsetzungen haben sich die Bürgerwehren längst entfernt. Mehrere Mitglieder wurden unter dem Vorwurf verhaftet, gemordet, verschleppt und gefoltert zu haben. "In unserer Gemeinde haben sie ihre Macht missbraucht", sagt Boj. "Sie versuchen auch, Familien- und Grenzstreitigkeiten beizulegen."

Zwei frühere Mitglieder des Sicherheitskomitees in der im Nordwesten gelegenen Stadt Panajachel, einem beliebten Tourismusziel, wurden Ende Oktober von der Polizei festgenommen und der Entführung eines Mannes beschuldigt. Wie dessen Nachbarn beobachteten, geriet er mit Angehörigen der Gruppe in Streit und wurde seitdem nicht mehr gesehen.

"Wir haben inzwischen Angst, nachts durch die Straßen zu gehen. Man kann nicht mehr sein Haus verlassen", erzählt Néstor Buc, der einem Bus- und Taxiunternehmerverband angehört. Dem Unternehmer zufolge haben die Mitglieder des Komitees alle Betrunkenen zusammengeschlagen, denen sie begegnet sind.

Nach Ansicht von Buc sind die Gruppen aufgrund der hohen Kriminalitätsrate und der Ineffizienz der Nationalen Zivilpolizei erstarkt. Er fordert, dass die Sicherheitskomitees nur noch unter neuen Bestimmungen weiterarbeiten sollten. "Während sie Probleme auf der Straße zu beseitigen versuchen, schaffen sie erst Probleme", kritisiert er.

Nach bisherigen Erkenntnissen sind auch hochrangige Vertreter lokaler Behörden an den Übergriffen der Bürgerwehren beteiligt. Der Bürgermeister der im Nordwesten gelegenen Stadt San Juan Cotzal, José Pérez Chen, wurde Ende Juni festgenommen, weil er mit Hilfe eines örtlichen Sicherheitskomitees einen Polizisten gelyncht haben soll.

Nach Angaben des zuständigen Staatsanwalts war der Sohn des Polizisten von der Bürgerwehr festgenommen und misshandelt worden. Die Gruppe hielt ihn für das Mitglied einer Jugendbande. Als der Vater Fragen zum Tathergang stellte, wurde er umgebracht.


Verbrechen bleiben ungesühnt

Wie die von den Vereinten Nationen unterstützte Internationale Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG) kritisiert, werden die Verantwortlichen für Straftaten in 98 Prozent der Fälle nicht zur Rechenschaft gezogen. Das erklärt, warum viele Bürger das Recht in die eigene Hand nehmen wollen. Folterungen und Fälle von Lynchjustiz sind die Folge.

"Wir fordern die Aufhebung eines Abkommens, das den Sicherheitskomitees Macht gegeben hat. Diese Komitees befinden sich außerhalb des staatlichen Gefüges und haben die Beteiligung der Bürger an der Verbrechensbekämpfung pervertiert", sagt Iduvina Hernández von der Organisation 'Sicherheit in der Demokratie' (SEDEM) zu IPS.

Hernández prangert an, dass die Bürgerwehren zu der Einschränkung der Bewegungsfreiheit, illegalen Festnahmen, Folter und extralegalen Hinrichtungen beigetragen hätten. Sie appellierte an den scheidenden Präsidenten Álvaro Colom und den künftigen Staatschef Otto Pérez Molina, der im Januar sein Amt antritt, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um den Waffenbesitz im Land einzuschränken.


Bürgerwehren Relikt aus Zeiten des Bürgerkriegs

Jorge Santos vom Internationalen Zentrum für Menschenrechtsforschung (CIIDH) betont, dass sich die Sicherheitskomitees "in vielen Fällen auf alte paramilitärische Strukturen stützen, die auf die Zeit des Bürgerkriegs zurückgehen".

Während des 36-jährigen bewaffneten Konflikts von 1960 bis 1996 wurden mehr als 200.000 Menschen getötet, vor allem Ureinwohner aus armen ländlichen Regionen. Die Armee setzte in dieser Zeit so genannte Zivile Selbstschutz-Patrouillen (PAC) ein, die sich am Kampf gegen die linksgerichteten Rebellen beteiligten.

Den PAC werden zahllose Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkriegs zur Last gelegt. Nach dem Friedensabkommen 1996 wurden die Verbände zerschlagen. Dennoch sind Bürgerwehren in dem zentralamerikanischen Land weiterhin aktiv. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.sedem.org.gt/
http://www.ciidh.org/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99806
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106243

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2011