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KIRCHE/868: Besteht noch der Konsens der Kirchen in ethischen Fragen? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2009

Wider eine schlechte Arbeitsteilung
Besteht noch der Konsens der Kirchen in ethischen Fragen?

Von Eberhard Schockenhoff


Lange Zeit betrafen ökumenische Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen vor allem den Bereich der Glaubenslehren oder der liturgischen Praxis. In grundlegenden moralischen Fragen der individuellen Lebensführung und in wichtigen sozialethischen Wertüberzeugungen herrschte dagegen ein weitreichender Konsens, der seinen Ausdruck in gemeinsamen Memoranden, Arbeitspapieren oder ähnlichen Stellungnahmen fand.

Die gegenwärtige Lage der Ökumene zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche ist durch einen bemerkenswerten Wandel geprägt. Die jahrzehntelange Suche nach Gemeinsamkeiten und das Streben nach Annäherung weichen dem Bedürfnis, die eigene konfessionelle Identität durch eine stärkere Abgrenzung vom jeweiligen Partner herauszustellen. Dabei spielen zunehmend nicht mehr nur dogmatische Lehraussagen auf dem Feld der Rechtfertigungslehre, des Kirchen- und Amtsverständnisses, der Sakramententheologie und der Eucharistielehre, sondern auch unterschiedliche Moralauffassungen und divergierende Standortbestimmungen in aktuellen bioethischen Konflikten eine Rolle.

Was die Einschätzung alternativer Lebensformen zur Ehe und die ethische Bewertung der Stammzellforschung oder neuer Verfahren der Fortpflanzungsmedizin anbelangt, werden die Differenzen immer deutlicher erkennbar. Während es beiden Kirchen vor einigen Jahren in einem schwierigen Abstimmungsprozess noch gelang, sich in dem ökumenischen Memorandum "Gott ist ein Freund des Lebens" auf ein gemeinsames Bekenntnis in der gesamten Bandbreite bioethischer Konflikte vom Lebensanfang (moralischer Status des Embryos, pränatale Diagnostik, verbrauchende Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik) bis zum Lebensende (Sterbebegleitung und Euthanasie, Patientenverfügung) zu verständigen, haben protestantische Sozialethiker, aber auch die öffentlichen Stellungnahmen des damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands, des Berliner Bischofs Wolfgang Huber, die theologischen Grundlagen dieses gemeinsamen Bekenntnisses inzwischen in Frage gestellt. Die ersten öffentlichen Äußerungen seiner Nachfolgerin im Ratsvorsitz der EKD, Margot Käßmann, erweckten den Eindruck, als rücke sie auch von den klaren Positionen zur Tötung auf Verlangen und zur ärztlichen Suizidbeihilfe ab, die bislang von den beiden großen christlichen Kirchen unseres Landes gemeinsam vertreten wurden (vgl. dieses Heft, 601 ff.).


Um die Aufkündigung des bisherigen Konsenses zu rechtfertigen, wird schweres theologisches Geschütz aufgefahren. Von neuen ethischen Grunddifferenzen zwischen den Konfessionen ist die Rede, die aus unterschiedlichen theologischen Denkstilen hervorgehen und gegensätzliche philosophische Prämissen (relationales Personenverständnis versus Substanzontologie) ans Licht bringen. Gefordert wird eine neue Ökumene der Profile, die bestehende Gegensätze nicht abschwächt, sondern als konfessionelles Unterscheidungsmerkmal anerkennt, wovon sich insbesondere die protestantische Seite ein stärkeres Identitätsbewusstsein erhofft.

Hinter den gängigen Gegenüberstellungen - hier eine prinzipienorientierte, lehramtshörige, zum Rigorismus neigende katholische Autoritätsmoral, dort eine leidsensible, konfliktnahe, abwägungsfähige, schriftgemäße evangelische Ethik - stehen freilich nicht nur divergierende theologische Sachinteressen, wie es die Rede von der konfessionellen Grunddifferenz und dem ökumenischen Profil nahelegt, sondern auch unterschiedliche Anschauungen darüber, wie beide Kirchen auf die Erosion gemeinsamer Wertüberzeugungen in der Gesellschaft und den wachsenden Pluralismus von Lebensformen und Moralauffassungen reagieren sollen.


Protestantische Ethiker sehen in dem größeren Binnenpluralismus, der innerhalb des protestantischen Christentums gegensätzliche Positionen auch in zentralen Fragen der persönlichen Lebensgestaltung und der staatlichen Gesetzgebung im Bereich des Lebensschutzes zulässt, einen Vorzug, der eine größere Modernitätsfähigkeit des Protestantismus begründet: Die Freiheit zum eigenen Standpunkt sei ein Kennzeichen des Protestantismus. Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit habe die protestantische Tradition nur selten verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. Fragen der Lebensform, der Lebensgestaltung und der Ethik gehörten dazu in der Regel nicht.

Die Behauptung, dass Eindeutigkeit des Handelns und Bestimmtheit der Lebensgestaltung kein Erfordernis glaubwürdiger Evangeliumsverkündung im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes sind, enthält eine in mehrfacher Hinsicht denkwürdige These. Sie verdient über den aktuellen Anlass hinaus Beachtung, denn in ihr bündeln sich wichtige Einzelmotive der neueren protestantischen Theologie zu einer markanten Behauptung, der obendrein der Rang einer neuen protestantischen Unterscheidungslehre zugesprochen wird.


Lässt sich begründet von einer ethischen Grunddifferenz sprechen?

Auch wenn sie in der ökumenischen Ethikdiskussion bisher nur selten mit solcher Klarheit ausgesprochen wurde, finden sich in dieser Grundaussage viele Einzelthemen wieder, unter denen die protestantische Ethik im 20. Jahrhundert ihren eigenen Standort reflektierte. Allem voran ist hier die Rechtfertigungslehre sowie die aus ihr folgende Unterscheidung von Person und Werk zu nennen; innerhalb der lutherischen Theologie weisen die Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium und die Versuche zur Neuinterpretation der Zwei-Reiche-Lehre in die gleiche Richtung, die darin keine getrennten Bereiche, sondern die theologisch gebotene Unterscheidung zwischen dem Gottesverhältnis und dem Weltverhältnis der Christen oder zwischen dem Gnadenhandeln und dem Schöpfungshandeln Gottes sehen.

Schließlich können für die Behauptung einer fortbestehenden oder neu auftretenden Grunddifferenz auf ethischem Gebiet auch der "transmoralische" Charakter des protestantischen Gewissensverständnisses und das Fehlen einer institutionell-sakramentalen Heilsvermittlung durch die Kirche in Anspruch genommen werden. Dennoch erweist sich die Formel von der ethischen Grunddifferenz zwischen den christlichen Konfessionen in mehrfacher Hinsicht als problematisch.


Die vorrangige Orientierung an bestimmten Wegmarken der eigenen reformatorischen Ethiktradition und das Brachliegen anderer Einsichten reformatorischer Theologie führen in der gegenwärtigen protestantischen Ethik zu einer inhaltlichen Konzentration und zu einer Neugewichtung ihrer zentralen Aussagen, die aus katholischer Sicht irritierend wirken. Wenn die entscheidende Botschaft, die das protestantische Christentum im Horizont säkularer Pluralität zu artikulieren gewillt ist, in der Mündigkeit des Individuums und seinem Recht zum eigenen Standpunkt gesehen wird, dann ist dies unbestreitbar ein ureigenes protestantisches Thema, das den Brückenschlag zwischen Evangelium und Kultur, Glaube und Vernunft, reformatorischem Erbe und gegenwärtigem Zeitgefühl scheinbar mühelos zu bewältigen vermag.

Doch wodurch unterscheidet sich die Botschaft von der Mündigkeit des Individuums und seinem Recht zum eigenen Standpunkt von dem, was auch sonst allenthalben als gemeinsame Plattform für die geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart angeboten wird? Soll die Freiheit zum eigenen Standpunkt nicht beliebig unbestimmt bleiben, stellt sich zumindest innerhalb einer theologischen Ethik die Frage nach dem bestimmenden Grundsatz und dem maßgeblichen Kriterium, wodurch der je eigene Standpunkt zu einem christlich geprägten, im Anspruch des Evangeliums gewonnen wird.

Diese Frage kann nicht nochmals durch den formalen Hinweis auf die Freiheit zum eigenen Standpunkt beantwortet werden, sondern bedarf einer inhaltlichen Präzisierung - etwa durch das biblische Liebesgebot und seine Konkretisierung in den Dekaloggeboten und den ethischen Weisungen der Bergpredigt Jesu - soll die Formel vom eigenen Standpunkt nicht notorisch unterbestimmt bleiben. Eine ähnliche Diagnose ist für die Rezeption des Pluralismusbegriffs durch die theologische Ethik zu stellen. Pluralismus als geistige Signatur der Moderne bezeichnet die Ausgangslage, in der sie sich vorfindet, nicht aber das eigentliche Ziel, zu dem sie gläubige und ungläubige Menschen befähigen will. Pluralismusfähigkeit kann somit nur eine ihrer Voraussetzungen unter gegenwärtigen Bedingungen, aber nicht der zentrale Inhalt ihrer Botschaft sein.

Wird dagegen der Pluralismus als Inbegriff dessen verstanden, was protestantische Ethik den eigenen Gläubigen als Maßstab einer vor dem Evangelium verantworteten Lebensgestaltung und der Gesellschaft als Orientierungshilfe in ihren moralischen Konflikten anbieten kann, bleibt das Wichtigste ungesagt, was protestantische Ethik in einer doppelten Treue zu den Bedürfnissen unserer Zeit und zu ihrer eigenen reformatorischen Ethiktradition zu sagen hätte. Die Hoffung, dass protestantische Ethik den Nachweis ihrer Modernitätsfähigkeit am besten dadurch antritt, dass sie das ganze Erbe reformatorischer Theologie ungeschmälert im Sinne einer zeitgemäßen Unzeitgemäßheit zur Geltung bringt, wird sicherlich von vielen protestantischen Theologen geteilt. Diese Hoffnung lässt sich indessen nur einlösen, wenn der Plausibilitätshorizont der Moderne nicht insgeheim als hermeneutischer Filter für das dienen darf, was protestantische Ethik inhaltlich sagen kann und sagen will.


Die Ambivalenz des Individualisierungsprozesses

Charakteristisch für die Moderne ist nicht nur das Erwachen des Individuums zu sich selbst, die Befreiung des Subjekts aus den Fesseln eines vorgegebenen Ordnungsrahmens und die Einsetzung des seiner selbst bewussten Ich in autonome Freiheitsrechte. Zur Moderne und ihren von der Dialektik der Aufklärung hervorgerufenen Spätfolgen gehört auch das Erstarken von Fehlformen einer selbstbezogenen Individualität, der übersteigerte Kult eines aus allen Bindungen und Einschränkungen freigesetzten Individuums, eine aus zahlreichen Quellen gespeiste Ethik der Selbstsorge, in deren Mittelpunkt das eigene Ich und seine Wünsche stehen. Diese Strömung gegenwärtigen Denkens tendiert dazu, individuelle Autonomie als Freisetzung aus den moralischen Ansprüchen der anderen zu verstehen.

Die emphatische Rede von der Mündigkeit des Individuums darf aber nicht nur eine religiöse Verstärkerrolle für die in sich ambivalenten Selbstbehauptungstendenzen des Individuums spielen. Vielmehr muss theologische Ethik gegenüber den Zwängen individueller Selbstinszenierung und einer ästhetischen Stilisierung der eigenen Existenz auch den Mut zur Entzauberung eines fragwürdigen moralischen Ideals aufbringen. Wenn sie ihr eigenes reformatorisches Erbe im geistigen Bewusstsein der Gegenwart selbstbewusst vertreten möchte, muss sie den Willen und die Kraft zur Entmythologisierung der Legitimationsmythen eines gesellschaftlich vorherrschenden Lebensstiles unter Beweis stellen, der sich nicht einfach als Variation protestantischer Wertschätzung von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie unter heutigen Bedingungen verstehen lässt.

Das Ideal autonomer Selbstgestaltung des eigenen Lebens kann auch zum Vorwand werden und zur Entsolidarisierung mit den Anderen und zur einseitigen Begrenzung der eigenen Verantwortung für sie führen. Die Anleitung zur Selbstsorge meint im postmodernen Lebensgefühl der Gegenwart eben nicht nur die Ermunterung zu einer christlich gebotenen Selbstliebe, die nach ihrer unheilvollen theologischen Diskreditierung durch eine einflussreiche Strömung protestantischer und katholischer Theologie inzwischen unbestrittenes Heimatrecht der christlichen Ethik fand.


Die Aufforderung zur Selbstsorge kann immer nur ein begleitendes und ermunterndes, aber nicht das erste und letzte Wort christlicher Ethik sein. Hier ist vielmehr mit Martin Luther an das erste Gebot und seine kritische Funktion gegenüber der Absolutsetzung innergeschichtlicher Werte zu erinnern, durch die der Mensch seine eigenen Vorlieben an die Stelle Gottes und seiner Gebote treten lässt. "Was heißt 'einen Gott haben', beziehungsweise was ist 'Gott'? Antwort: Ein 'Gott' heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. 'Einen Gott haben' heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; in diesem Sinne habe ich schon oft gesagt, daß allein das Vertrauen und Glauben des Herzens einem etwas sowohl zu Gott als zu einem Abgott macht. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott der rechte Gott, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Das nun, sage ich, woran du dein Herz hängst und worauf du dich verläßest, das ist eigentlich dein Gott."

Kann protestantische Ethik vor diesem Hintergrund wirklich sagen, die Bestätigung des Individuums in seiner eigenen Mündigkeit und das Recht zum individuellen Standpunkt seien unter den Bedingungen der Moderne die am besten geeignetsten Ausdrucksformen, um den Inhalt der christlichen Botschaft schriftgemäß und in Treue zur reformatorischen Tradition zur Sprache zu bringen? Müsste nicht viel stärker von der Angefochtenheit des Ich, seinem gebrochenen Selbstbezug und dem ureigenen Thema protestantischer Frömmigkeit, dem Sündersein des Menschen und seiner unverdienten Rechtfertigung durch Gott die Rede sein?


Die ethische Relevanz des Schöpfungsglaubens und der
Rechtfertigungslehre

Protestantische Ethik ist ihrem eigenen Selbstverständnis nach unerschütterlich im Bekenntnis zu den Grundlagen des reformatorischen Glaubens, insbesondere der biblischen Schöpfungslehre und der paulinisch-lutherischen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Zugleich möchte sie sich aber für eine situationsadäquate, den individuellen Freiraum des Gewissens achtende Übersetzung der Glaubensgewissheit ins konkrete Handeln offenhalten. Dieser sympathische Grundsatz einer prinzipienfesten und zugleich menschennahen, wertorientierten und zugleich fallbezogenen, unbeliebigen und zugleich abwägungsfähigen Moral wird von jeder vernünftigen Ethik in Anspruch genommen - von der protestantischen ebenso wie von der katholischen, von einer theologischen nicht anders als von einer philosophischen Ethik.

Die Balance von Prinzipienfestigkeit und Flexibilität auf einer konkreten Beurteilungsebene fordert jedoch, dass die Orientierung des konkreten handlungsleitenden Urteils am theologischen Prinzipienwissen des Glaubens in der Bestimmung des Konkreten erkennbar bleibt. Wenn auf der Ebene des Konkreten gegensätzliche, einander logisch ausschließende Antworten möglich erscheinen, die sich mit gleichem Recht aus denselben Fundamentallehren des protestantischen Glaubens herleiten, erscheint das emphatische Bekenntnis im Grundsätzlichen aus katholischer Sicht merkwürdig folgenlos, gleichsam als im Nachhinein entwertet.

Dies lässt sich anhand der Rolle belegen, die der biblische Schöpfungsglaube und die Rechtfertigungslehre in der biopolitischen Diskussion um die Schutzwürdigkeit der Anfangsphasen des menschlichen Lebens spielen. In dem öffentlichen Disput über die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre wurde von Seiten protestantischer Theologen vehement daran erinnert, dass hier der "articulus stantis et cadentis ecclesiae" auf dem Spiel stehe; die rechte Auslegung dieser zentralen Glaubenserkenntnis entscheide einschlussweise über alles weitere, das protestantischer Glaube und protestantische Ethik ansonsten zu sagen hätte. Insbesondere ergebe sich aus dem rechten Verständnis der protestantischen Unterscheidungslehren des "sola fide" und des "sola gratia" eine Konsequenz für das Selbstverständnis des Menschen, die in bewundernswürdiger Klarheit und aller denkbaren intellektuellen Stringenz eingefordert wurde.

Die Quintessenz dieser Übersetzungsversuche lautete: Kein Mensch muss das eigene Dasein vor irgendeiner menschlichen Instanz durch den Nachweis irgendeines Leistungsvermögens rechtfertigen! Jeder Mensch, wie unscheinbar und unauffällig sein Leben nach menschlichen Maßstäben auch sein mag, ist vielmehr voraussetzungslos im Urteil Gottes gerechtfertigt!


Gegen derartige Versuche, die Bedeutung der protestantischen Rechtfertigungslehre für die Ethik aufzuzeigen, ist auch katholischerseits nichts einzuwenden. Es ist indessen zu fragen, was solche Formeln im Blick auf konkrete Fragestellungen der Ethik tatsächlich bedeuten. Wenn die Bestimmung des Konkreten und die Fähigkeit zu einer angemessenen Wahrnehmung des jeweiligen Einzelproblems den Ernstfall der Ethik ausmachen, muss sich gerade hier zeigen, welche Bedeutung den Zentralaussagen des christlichen Glaubens in ihrem protestantischen Verständnis tatsächlich zukommt.

Aus der biblischen Aussage, dass die Welt auf den Menschen hin erschaffen und dieser von Gott als sein Ebenbild zur Übernahme von Freiheit und Verantwortung eingesetzt ist, ergibt sich aus katholischer Perspektive, dass der Mensch als ein mit Geist und Freiheit ausgestattetes Wesen als unbedingter Selbstzweck existiert. Eben dies ist der auch innerweltlich erfassbare und daher philosophisch zugängliche Sinn der biblischen Einsicht, dass der Mensch zum Lobpreis Gottes und zur Ehre seines Schöpfers erschaffen wurde. Diese Bestimmung für den höchsten Zweck seiner Existenz, die gerade im Freisein von allen innerweltlichen Zwecksetzungen, in der Ausrichtung auf das "soli Deo gloria" zum Ausdruck kommt, impliziert eine für die gegenwärtige bioethische Debatte bedeutsame Freisetzung von allen anderen Zwecken, denen Menschen aufgrund eines wachsenden technischen Verfügungswissens nutzbar gemacht werden können.


Zur Ehre seines Schöpfers erschaffen

Das Urteil über den Wert eines individuellen Menschenlebens und seine Schutzwürdigkeit kann daher keinen weiteren Bedingungen mehr unterworfen werden. Wenn es des Menschen höchste Würde ist, aus Gottes schöpferischem Wort hervorzugehen und zu seiner Ehre existieren zu dürfen, dann ist jeder Mensch vor aller mitmenschlichen Annahme und sozialen Wertschätzung in seinem Dasein gerechtfertigt, ganz gleich, wie angemessen und auf welcher Stufe er die natürlichen Differenzmerkmale erfüllt (oder nicht erfüllt), die das Menschsein gegenüber den anderen Geschöpfen auszeichnen. Er steht unter dem Anspruch, im geschöpflichen Gegenüber zu Gott zu existieren, aber er muss für sein geschöpfliches Dasein vor niemandem Rechenschaft ablegen. Weil ihm die Berechtigung seines Lebens im Urteil Gottes bedingungslos zugesprochen ist, hat er sie weder selbst zu erbringen noch von irgendeiner menschlichen Instanz ratifizieren oder bestätigen zu lassen.

Daher ist man als katholischer Theologe geneigt, an das emphatische Bekenntnis zur Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade die Frage zu stellen, ob daraus auf biopolitischem Gebiet nicht eindeutigere Bestimmungen erfolgen müssten, die in der unantastbaren Würde, die jedem menschlichen Individuum vom Ursprung seiner Existenz an zukommt, eine notwendige ethische Näherbestimmung von Gottes rechtfertigendem Handeln an ihm sieht. Zumindest muss dies als eine Schlussfolgerung gelten, die sich unter genuin protestantischen Bedingungen, nämlich in dem Bemühen, die Tragweite der Rechtfertigungslehre bis in die Last ethischer Konkretion hinein zu erproben, geradezu aufdrängt. Schon deshalb, weil diese Antwort unter spezifisch protestantischen Voraussetzungen überaus plausibel ist und sich vom Sinngefälle der Rechtfertigungslehre her zwanglos nahelegt, erscheint die Vielstimmigkeit protestantischer Ethik auf der konkreten Urteilsebene als überraschender Kontrast zu der eindrucksvollen Einmütigkeit, die das protestantische Christentum im Bekenntnis zu den Grundlagen des Glaubens zeigt.


Die theologische Bedeutung einer relationalen Ontologie

Die Gefahr, dass theologische Denkformen, die der Auslegung von Glaubensaussagen - etwa dem Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen - ein spezifisch protestantisches Profil geben sollen, auf dem Feld des Ethischen zu widersprüchlichen Konsequenzen führen, kann auch aus der Berufung auf eine relationale Ontologie als angeblichem Gegensatz zu einem katholischen Substanzdenken erwachsen. Aus theologischer Perspektive ist der Mensch vor allen anderen Relationen, in denen er steht, durch das Gegenüber zu Gott bestimmt; es ist das Angerufen-Sein vonseiten Gottes, die Berufung zum Leben im Angesicht des Schöpfers, wodurch sich das Personsein des Menschen konstituiert.

Diese tragende Relation des Menschen zu Gott bleibt auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht folgenlos; sie führt vielmehr dazu, dass die radikale Abhängigkeit von Gott auf der geschöpflichen Ebene den kreatürlichen Selbststand des Menschen sichert. Die Kategorie der Person spricht den von Gott angerufenen Menschen in seinem eigenen Selbstsein an, das der Verfügung durch zwischenmenschliche Instanzen entzogen bleiben muss. Der Substanzgedanke lässt sich innerhalb einer theologischen Anthropologie nicht als Gegensatz zu einer relationalen Denkform begreifen; er kann innerhalb dieser jedoch die Funktion übernehmen, den schöpferischen Charakter der Anrede Gottes an den Menschen zu unterstreichen.


Die Pointe des Substanzgedankens innerhalb einer theologischen Begründung des Personseins zielt nicht darauf ab, die Begegnung mit dem mitmenschlichen Du oder dem sozialen Wir als unerlässliche Voraussetzung der Entfaltung personaler Identität zu relativieren. Sie will vielmehr sicherstellen, dass jeder Mensch als ein den anderen unverfügbarer Beziehungspartner in das horizontale Relationsgefüge eintreten kann, so dass zwar die soziale Entfaltung, nicht aber der tragende Grund des Personseins von der mitmenschlichen Beziehungsdimension abhängt. Diese kann sich nur in freier und gegenseitiger Anerkennung entwickeln, wenn die Begründung menschlicher Personalität der sozialen Akzeptanz jedes einzelnen Menschen voraus liegt.

Auf der horizontalen Ebene des Mitseins mit den anderen ist jeder Mensch diesen gegenüber als ein sich selbst gegebenes Wesen durch einen kreatürlichen Selbststand ausgezeichnet, der in der schöpferischen Außenbeziehung zu Gott, also in der tragenden Externrelation zum Ursprung seines kreatürlichen Seins gründet. Daher muss ein relationaleres Personverständnis gegen das Missverständnis geschützt werden, erst die soziale Anerkennung durch die anderen begründe das Personsein des Menschen. Gerade unter protestantischen Bedingungen ist mit allem Nachdruck zu betonen, dass Gottes Anrede des Menschen ein schöpferischer Vorgang ist, dem wir in unseren zwischenmenschlichen Relationen zu entsprechen haben. Daher kann die Anerkennung des Personseins der anderen kein quasi-kreatorischer Akt sein, der diese aus Nicht-Personen zu Personen macht oder ihnen den moralischen Status schutzwürdigen Menschseins zuallererst verleiht.


Das gemeinsame Profil des Christlichen in unserer Gesellschaft

Protestantischerseits ist in letzter Zeit wieder vermehrt von der notwendigen Selbstunterscheidung des Protestantismus von der katholischen Kirche und von einer in stärkerem Maße für ratsam gehaltenen oder als erforderlich empfundenen "Ökumene der Profile" die Rede. Das theologische Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die eigene Glaubenskraft, die katholische Theologen an der protestantischen Ethik bewundern, kann, darf und soll sich gewiss auch in einem erkennbaren Profil gegenüber dem katholische Christentum äußern. Darüber braucht niemand zu streiten. Doch ist angesichts der Herausforderungen, vor denen beide Kirchen in der säkularen Gesellschaft stehen, und auch angesichts unserer Verpflichtung auf das gemeinsame theologische und geistliche Erbe der ganzen Christenheit zu hoffen, das die Schärfung des je eigenen Profils nicht auf Kosten der Gemeinsamkeiten geht, die im ökumenischen Dialog der letzten Jahrzehnte mühsam erreicht wurden.

Die schärfere Herausforderung gedanklicher Profile ist aus theologischer Sicht allemal lohnender als diplomatische Konsens- oder pastorale Umgehungsstrategien, die dem noch Trennenden immer nur ausweichen. Doch sollten wir bei aller wieder gewonnenen Freude am eigenen Profil nicht vergessen, dass dieses auf lange Sicht nur dann prägende Kraft nach innen und außen entfalten kann, wenn das gemeinsame Profil des Christlichen in unserer Gesellschaft erkennbar bleibt. Ein Blick auf die Geschichte protestantischer Ethik lehrt, dass diese immer dann Großes und Bleibendes hervorbrachte - und eben dadurch auch ihr unverwechselbares Profil fand -, wenn sie ihre erste Aufgabe darin sah, in ihrer jeweiligen Zeit ohne falsche Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeiten des Publikums für den Glauben und die Ethik des Christentums einzutreten.


Protestantische Theologie und Verkündigung sollte - diesen Wunsch hege ich, weil ich ihre Leistungen auf dem Gebiet der akademischen Ethik aufrichtig bewundere - auch heute der Versuchung widerstehen, sich gegenüber der säkularen Gesellschaft als eine liberalere, modernitätsfähigere Variante des Christentums zu empfehlen, die sich vor allem auf die Hälfte der christlichen Botschaft konzentriert, die ihr in der katholischen Kirche zu kurz zu kommen scheint. Eine solche Art von Arbeitsteilung kann es vom Selbstverständnis jeder unserer beiden Kirchen und von der Aufgabe theologischer Ethik her nicht geben.

Vielmehr sind wir beide aufgerufen, im Gegenüber zu den Problemen unserer Gegenwart, in Respekt vor den Lebenserfahrungen der Menschen unserer Zeit, aber auch mit unerschrockenem Mut, das ganze Evangelium so zu verkünden, dass die Menschen unserer Zeit daraus Hilfe zum Leben, Aufrichtung in persönlicher Not und verlässliche Gewissensorientierung in moralischen Konflikten schöpfen können. Gewinner einer solchen Ökumene der Profile, bei der beide Seiten ihr Eigenes in die gemeinsame Aufgabe der öffentlichen Darstellung des Christlichen einbringen, wäre weder die protestantische noch die katholische Kirche, sondern die Sache des Christentums in dieser Zeit.


Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff (geb. 1953) ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und gehörte auch schon von 2001 an dem Nationalen Ethikrat an.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2009, S. 605-610
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2010