Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → MEINUNGEN

DILJA/240: Lebensgefahr in deutschen Wohnungen? Berlinerin von der Polizei erschossen (SB)


Trauer um Andrea H.

Eine 53jährige Berlinerin wurde von der Polizei erschossen, weil sie sich ihrer Zwangspsychiatrisierung widersetzte


Am 24. August 2011 wurde in Berlin-Reinickendorf in einer Hochhauswohnung im Senftenberger Ring eine 53jährige Frau - Andrea H. - von einem Polizeibeamten erschossen. Was aus Sicht eines oberflächlichen, desinteressierten Zeitungslesers ein tragischer Einzelfall zu sein scheint, der mit der eigenen Lebenswelt keinerlei Verbindung aufweist, scheint vielmehr ein Fingerzeig auf eine gesellschaftliche Realität sein, die im asymmetrischen Spannungsgefüge zwischen Staatsgewalt und Staatsbürgern eine für letztere zunehmend bedrohliche Qualität angenommen hat. Andrea H. starb, nachdem sie sich dem aus ihrer Sicht höchst bedrohlichen Versuch zweier Polizeibeamter und einer Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Reinickendorfer Bezirksamtes, sie zu einer Anhörung beim Amtsgericht Wedding zu bringen, um sie dort in die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses einweisen zu lassen, widersetzen wollte.

Andrea H. wohnte in dem 14stöckigen, im Märkischen Viertel Berlins gelegenen Hochhaus in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Allem Anschein nach hatte sie, wie viele andere Menschen in Zeiten zunehmenden sozialen Drucks und massivster Überlebensnöte und -zwänge auch, Probleme, mit der Lebensbewältigung zurechtzukommen; andernfalls hätte sie kaum das Angebot, in diesem Wohnprojekt einer sozialen Einrichtung zu leben, angenommen. Die 53jährige Berlinerin war eher klein und schmächtig (160 cm Körpergröße bei nur 40 Kilo Körpergewicht). Sie habe unter den Nachbarn als "geistig verwirrt" gegolten; eine Anwohnerin bezeichnete sie als einen netten Menschen, der keinem etwas getan habe [1]. Dem wird polizeilicherseits nicht widersprochen. Andrea H. war nicht "polizeibekannt", sie war strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und hatte auch an ihrem Todestag keine Straftat begangen, die den gegen sie durchgeführten polizeilichen Großeinsatz hätte gerechtfertigt erscheinen lassen.

Die für sie tödlichen Ereignisse waren in Gang gebracht worden, nachdem gegen 14.30 Uhr Mitarbeiter der Reinickendorfer Sozialbetreuung die Polizei gerufen hatten, um mit deren "Amtshilfe" die Vollstreckung eines Vorführbeschlusses durchzusetzen. Freiwillig wollte die 53jährige nicht mitkommen. Wie Justizsprecherin Simone Herbeth gegenüber dem Berliner Tagesspiegel bestätigte, hätte Andrea H. zu einer Anhörung im Amtsgericht Wedding gebracht werden sollen, um sie - offensichtlich gegen ihren Willen - in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Stellt dies nicht eine Situation dar, in der der Berlinerin, die angesichts der Polizeiunterstützung einen gewaltsamen Übergriff auf sich sowie die ihr sicherlich angekündigte zwangsweise Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt fürchten mußte, das Recht auf Notwehr zugestanden hätte?

Losgelöst von der möglichen Beantwortung dieser bislang ungestellten Frage kann angenommen werden, daß Andrea H. in größter Not und Angst gehandelt hat, als sie sich gegen die Polizeibeamten zur Wehr setzte. So zumindest lautet die spätere Darstellung einer Polizeisprecherin, die angab: "Sie stürmte dann mit einem Messer aus der Tür und hat einen Kollegen am Unterarm verletzt." [1] Nach Darstellung der Polizei habe die Berlinerin sich, nachdem die Beamten Pfefferspray gegen sie eingesetzt hätten, in ihre Wohnung zurückgezogen. Die Polizisten hätten Verstärkung angefordert, woraufhin eine Einsatzhundertschaft und ein Krankenwagen erschienen seien. Als Andrea H. abermals mit einem Messer auf die anrückenden Beamten losgegangen sei, habe der für die Sicherung zuständige Polizeibeamte, bei dem es sich um einen erfahrenen Kollegen gehandelt habe, auf sie geschossen. Andrea H. verstarb, von einer Polizeikugel im Oberkörper getroffen, infolge innerer Blutungen nach erfolglosen Wiederbelebungsversuchen eines Notarztes noch in ihrer Wohnung.

Nach späteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft soll die Erschossene einen der Beamten mit einem Messer am Kopf bedroht haben. Wie ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft gegenüber der Presse erklärte, hätten vier Polizeibeamte die Wohnungstür eingerammt, "bevor die Frau aus einer Zimmerecke auf die Polizisten losstürmte" [2]. Sie hätte einen der Beamten, der zwar ein Schutzschild, jedoch keinen Helm getragen hätte, attackiert, und als dieser zu Boden stürzte, habe einer der anderen Beamten auf die Frau geschossen. Laut Staatsanwaltschaft "scheint es gegenwärtig bei vorsichtiger Einschätzung so zu sein, dass der Schuss nach dem Messerangriff aus einer Nothilfesituation abgegeben wurde" [2]. Diese Formulierung allerdings ist verräterisch, weil sie eine klare zeitliche Abfolge beinhaltet, derzufolge der tödliche Schuß auf die 53jährige erst nach ihrem (angeblichen) Messerangriff erfolgt sein soll.

Eine Nothilfesituation, die rechtlich zur Notwehr gehört, setzt jedoch voraus, daß ein Angriff in demselben Augenblick stattfindet oder unmittelbar bevorsteht. Steht er in einer eher unbestimmten Zeit zu erwarten oder wurde er bereits abgebrochen, kann keine Situation vorliegen, in der der polizeiliche Schußwaffeneinsatz durch die ihn in Einzelfällen rechtfertigenden Bestimmungen der Notwehr bzw. der Nothilfe legitimiert werden kann. Routinegemäß wurde zwar gegen den polizeilichen Todesschützen von der Mordkommission ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Da der Beamte nicht einmal vom Dienst suspendiert wurde, ist jedoch nicht damit zu rechnen, daß dieses Vorgehen für ihn noch ein weiteres juristisches Nachspiel haben wird. Gegenüber der öffentlichen Kritik am Vorgehen der Polizei nahm Bodo Pfalzgraf von der Deutschen Polizeigewerkschaft den Berliner Beamten in Schutz: "Wer Polizisten mit einem Messer angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden."

Da seitens der Polizei sowie der Ermittlungsbehörden kein Bedauern geäußert oder auf andere Weise zu erkennen gegeben wird, daß dieser Polizeieinsatz wenn nicht mit Tötungsabsicht durchgeführt, so doch zumindest unverhältnismäßig gewesen sei, kommt diese Erklärung des Polizeigewerkschafters einer Kampfansage gleich an alle Menschen, die sich, und sei es in einer für sie extrem bedrohlichen Situation und entgegen ihres sonstigen Verhaltens, veranlaßt sehen könnten, sich zur Wehr zu setzen. In kritischen öffentlichen Stellungnahmen zu diesem jüngsten Todesfall wurde desweiteren darauf aufmerksam gemacht, daß das Bundesverfassungsgericht am 23. März 2011 in einer Entscheidung die zwangsweise Behandlung psychisch Kranker im Maßregelvollzug für illegal erklärt hat. Zur Erläuterung: Maßregelvollzug wird gegen Menschen verhängt, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben, was auf Andrea H., die, ohne je eine Straftat begangen zu haben, in die Psychiatrie eingewiesen werden sollte, keineswegs zutraf.

Das Vorgehen der Berliner Behörden, in deren Verlauf die 53jährige ums Leben kam, stellt keineswegs einen Einzelfall dar, sondern läßt befürchten, daß mehr und mehr Menschen selbst in ihrer eigenen Wohnung in Lebensgefahr geraten können, so sie den gesellschaftlichen Anforderungen nicht vollauf zu genügen in der Lage oder willens sind. Von Zwangspsychiatrisierungen, die wie in diesem Fall mit Polizeigewalt durchgesetzt werden, können mehr und mehr Menschen betroffen und bedroht sein, zumal die Zahl psychiatrischer Erkrankungen rapide anwächst. Wie der Focus im Oktober vergangenen Jahres berichtete, hat die Zusammenfassung von Untersuchungen von 19 Professoren und Klinikchefs ergeben, daß etwa 30 Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Jahres an diagnostizierbaren psychischen Störungen (Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Erkrankungen und Suchterkrankungen) leide.

Allem Anschein nach steht zu befürchten, daß diesem, in seinem tatsächlichen Ausmaß in der Öffentlichkeit noch geleugneten Problem mit repressiven Methoden entgegengetreten wird. Der tragische Tod von Andrea H. wird seitens der Berliner Polizei sowie der zuständigen Ermittlungsbehörden keineswegs zum Anlaß genommen, das Vorgehen der Beamten in künftigen, vergleichbaren Fällen zu revidieren, und so steht die Frage im Raum, wie viele Menschen, die infolge etwaiger psychiatrischer oder sonstiger Schwierigkeiten vielleicht auffällig geworden oder aus sonst irgendeinem Grund in das Visier der Polizei geraten sind, in den eigenen vier Wänden, dem vermeintlichen Hort der Sicherheit und Geborgenheit, ihres Lebens nicht mehr sicher sein können.


Anmerkungen

[1] http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/frau-starb-durch-eine-polizeikugel/4536386.html

[2] http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/bei-todesschuss-waren-vier-beamte-anwesend/4544560.html

[3] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20110323_2bvr088209.html

1. September 2011