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DILJA/234: Bundesdeutsche Justiz in der Klemme - Neuverhandlung im Fall Oury Jalloh (SB)


Justiz-Farce, 3. Akt

Vor dem Magdeburger Landgericht wird erneut wegen des Todes von Oury Jalloh verhandelt


Am heutigen 12. Januar 2011 begann vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Magdeburg einer der denkwürdigsten und aufschlußreichsten, aber auch traurigsten und empörendsten Strafprozesse der bundesrepublikanischen Strafjustiz. Gegen Andreas S., den früheren Dienstgruppenleiter des Polizeireviers Dessau, in dem vor sechs Jahren, am 7. Januar 2005, unter grausamsten Umständen ein junger Mann bei lebendigem Leibe verbrannte, wurde das Revisionsverfahren eröffnet, nachdem der Bundesgerichtshof vier Jahre später den Freispruch des Landgerichts Dessau für die beiden angeklagten Polizisten aufgehoben hatte. Nun geht nicht etwa der Versuch, einen Todesfall juristisch aufzuarbeiten, der nach Ansicht der Angehörigen, Freunde und Unterstützer nur ein Mord gewesen sein kann, in die dritte Runde, sondern das Bemühen der bundesdeutschen Justiz, ein übergreifendes System zugunsten der Staatsräson durchzusetzen, auch wenn dies die Vertuschung eines Mordes bedeuten und voraussetzen würde.

Die Einzelheiten des qualvollen Feuertodes eines an Händen und Füßen auf einer noch dazu feuerfesten Matratze fixierten Menschen im Polizeigewahrsam sind bereits ausführlich veröffentlicht worden [1]. Sie stellen Polizei und Justiz vor eine eigentlich schier unmöglich zu bewältigende Aufgabe unter der Annahme, daß diese Träger des staatlichen Gewaltmonopols nicht, wie es ihre gesetzliche und verfassungsmäßige Aufgabe wäre, einzig und allein und unter allen Umständen mit der Aufklärung möglicher Straftaten und Verbrechen befaßt sind, sondern die ihnen obliegenden polizeilichen wie strafjustitiellen Ermittlungs-, Verhandlungs- und Sanktionsbefugnisse in den Dienst der Staatsräson stellen. Das heißt, daß sie mit den Mitteln von Polizei und Justiz Gesetzesverstöße verfolgen und ahnden, so dies aus Sicht der Repressionsorgane zweckdienlich ist in Hinsicht auf die Aufrechterhaltung der herrschenden Gesellschaftsordnung.

Sollte es jedoch, unter welchen Umständen auch immer, zu Verbrechen, und zwar schwersten Verbrechen wie beispielsweise Tötungsdelikten, um nicht zu sagen Mord, in den "eigenen Reihen" dieses Apparates kommen, müßte er gegen mutmaßliche Täter oder Verdächtige mit derselben Bedingungslosigkeit wie in allen anderen Fällen vorgehen. In rechtsstaatlicher Hinsicht ist dieser Bereich ganz besonders prekär, denn sollte sich herausstellen, daß in einem Rechtsstaat die Strafjustiz auf ganzer Linie versagt, sobald es um mögliche Verbrechen von Angehörigen der beteiligten staatlichen Institutionen geht, steht die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates insgesamt in Frage.

Im Fall Oury Jalloh scheint all dies zuzutreffen, sind doch die näheren Umstände seines Todes, die weiteren Vorgänge auf dem Polizeirevier Dessau sowie die juristischen Aufarbeitungsversuche (ein erstes Verfahren fand vor dem Landgericht Dessau statt und endete mit einem Freispruch für beide angeklagten Polizisten, der vom Bundesgerichtshof im Fall von Andreas S. wieder aufgehoben und zur Neuverhandlung an das Landgericht Magdeburg verwiesen wurde) ihrerseits so frappierend, daß zu dem begründeten Verdacht, Oury Jalloh sei ermordet worden, noch der Verdacht kommt, daß Polizei und Justiz diesen möglichen Mord decken könnten. Bislang blieb es den Unterstützern und Angehörigen Oury Jallohs wie auch den an der Aufdeckung der tatsächlichen Geschehnisse interessierten Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen vorbehalten, durch Öffentlichkeitsarbeit und bohrende Fragen den Finger in diese Wunde zu legen.

So wies die Internationale Liga für Menschenrechte in ihrer anläßlich des Prozeßauftaktes vor dem Landgericht Magdeburg am 10. Januar veröffentlichten Presseerklärung [2] beispielsweise darauf hin, daß hier nicht etwa nur ein wie auch immer zu begründendes, unabsichtliches Versagen von Polizei und Justiz zu vermuten ist, sondern daß durch die Festlegung auf die "Selbstentzündungsfiktion" jede Ermittlung in Richtung eines Tötungsdelikts gezielt verhindert wurde:

Das Strafverfahren vor dem Landgericht Dessau ist aber nicht allein an einer "Mauer des Schweigens" auf Seiten der Polizei gescheitert; auch das Gericht hat bei der Aufklärung dieser Tragödie versagt. So mit der rätselhaften und bis zuletzt unbewiesenen Grundannahme von Staatsanwaltschaft und Landgericht, Oury Jalloh habe sich selbst angezündet - praktisch in "Obhut" und unter den Augen der Polizei, trotz Totalfesselung und des alkoholisierten Zustands von Oury Jalloh, trotz Kontrollgängen, Gegensprechanlage und Alarmsystem. Jedenfalls hat die Festlegung auf die Selbstentzündungsfiktion bislang die Option verbaut, auch andere Ursachen für das Entstehen des Feuers zu überprüfen. Immerhin gibt es diverse Indizien, die auf ein Verschulden Dritter hindeuten könnten. Die Frage lautet nach wie vor: War es ein Unglück - oder gab es, wie Gabriele Heinecke, die Rechtsanwältin von Oury Jallohs Mutter, formuliert, "einen Vorsatz, einen Menschen zu töten?"

Vom Landgericht Magdeburg die unvoreingenommene und ergebnisoffene Klärung insbesondere dieser Frage zu erwarten, hieße, sich noch immer Illusionen über die tatsächliche Qualität der bundesrepublikanischen Strafjustiz zu machen und das "Versagen" des Dessauer Landgerichts als ein Einzelphänomen oder Unglück zu interpretieren. In der Neuverhandlung kann genaugenommen dieser Frage gar nicht mit der zu Gebote stehenden Gründlichkeit und Genauigkeit nachgegangen werden, weil durch das Anklageverhalten der Staatsanwaltschaft dem ganzen Geschehen von vornherein enge Grenzen gesetzt wurden. Andreas S. wurde einzig und allein angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt. Gerichtlich "geklärt" werden soll lediglich - und zwar im 3. Akt, rechnet man die Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof hinzu -, die Frage, ob der damalige Dienstgruppenleiter dem so qualvoll verbrannten Oury Jalloh "zu spät" zu Hilfe geeilt sei und ob dieser andernfalls hätte gerettet werden können.

Dieser Ansatz stellt jedoch, und das läßt sich anhand der bisherigen, detailliert protokollierten und veröffentlichten Fakten über den eigentlichen, tödlichen Vorfall und sein polizeiliches und juristisches Nachspiel feststellen, schon zum Prozeßauftakt vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Magdeburg feststellen, bereits ein Täuschungs- und Verschleierungsmanöver dar. Die bis heute völlig ungeklärte Frage bzw. unbewiesene Behauptung, Oury Jalloh habe sich selbst angezündet, wird nämlich geflissentlich und systematisch ausgeklammert, wenn die Anklagebehörde das für Jalloh tödliche Feuer selbst nicht zum Gegenstand der Verhandlung macht und die gegen den verantwortlichen Polizisten erhobenen strafrechtlich relevanten Vorwürfe auf die Frage einer Körperverletzung, hier im Sinne einer unterlassenen Hilfeleistung, reduziert. Die Internationale Liga für Menschenrechte rief in ihrer Presseerklärung dazu auf, die Neuverhandlung zu beobachten und forderte eine rückhaltlose Aufklärung mit den Worten [2]:

Jetzt muss die Chance vor dem Landgericht Magdeburg genutzt werden, auf Grundlage der BGH-Entscheidung und ohne Tabus die Umstände, die zum Tod von Oury Jalloh im Polizeigewahrsam führten, rückhaltlos aufzuklären - soll sich der Polizeiskandal nicht zu einem Skandal des Rechtsstaates auswachsen. Mit seiner Entscheidung sagte der BGH in aller Klarheit: Die Angehörigen von Oury Jalloh haben ein Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren - das ihnen bislang, so das BGH-Urteil, verwehrt worden ist.

Eine Tötungsabsicht zumindest in Betracht zu ziehen, wie es angesichts der Umstände und Einzelheiten dieses Feuertodes selbstverständlich wäre, wenn sich das Opfer nicht im Gewahrsam der Polizei befunden hätte, wäre das Gebot der Stunde, sollte tatsächlich in der nun beginnenden Neuverhandlung der Versuch unternommen werden, durch völlig ergebnisoffene Verhandlungen und Untersuchungen den immensen Glaubwürdigkeitsschaden des Rechtstaates zu beheben. Geschieht dies nicht, ist die ohnehin naheliegende Schlußfolgerung, daß nicht nur die Polizei, sondern auch die Justiz bereit ist, aus Gründen der Staatsräson einen Mord zu decken und zu vertuschen, argumentativ schwerlich zu entkräften. Für das kommende Verfahren hat die 1. Strafkammer des Magdeburger Landgerichts bereits verschärfte Sicherheitsregeln angeordnet. Offensichtlich sieht die Kammer in den Zuschauern und Prozeßbeobachtern, denen diese Maßnahmen nur gelten können, eine Gefahr, der es präventiv entgegenzutreten gilt.


Anmerkungen

[1] Zum Tod Oury Jallohs siehe im Schattenblick:

-> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (04.04.2007):
DILJA/159: Feuertod in Polizeihaft - vor Gericht ein "Selbstmord" (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/recht/meinung/remei159.html

-> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (10.12.2008):
DILJA/182: Der Apparat funktioniert - Oury Jallohs Tod bleibt ungeklärt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/recht/meinung/remei182.html

-> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (17.12.2009):
DILJA/208: Vertuschung 2.0 - Bundesgerichtshof befaßt sich mit dem Feuertod Oury Jallohs (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/recht/meinung/remei208.html

-> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (07.01.2010):
DILJA/210: Mordvorwurf bleibt tabu - BGH hebt Polizistenfreispruch im Fall Jalloh auf (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/recht/meinung/remei210.html

-> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH (30.06.2010):
REZENSION/533: Narr u. Vogelskamp - Der Mord in Dessau im Schoß der Polizei mit gerichtlichen Nachspielen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar533.html

[2] Prozessauftakt im Fall um Verbrennungstod von Oury Jalloh vor Landgericht Magdeburg, Internationale Liga für Menschenrechte, Presseerklärung vom 10. Januar 2011, siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> FAKTEN:
MELDUNG/099: Prozessauftakt im Fall um Verbrennungstod von Oury Jalloh vor Landgericht Magdeburg (ILMR)

12. Januar 2011