Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → MEINUNGEN

DILJA/228: Nach 400 Jahren wieder Piratenprozesse - Somalier in Hamburg inhaftiert (SB)


Zehn junge Somalier in Hamburg inhaftiert

Erstmals seit 400 Jahren gibt es in Deutschland wieder Piratenprozesse


Recht und Rechtsetzung folgen stets dem Interesse desjenigen, der über die Möglichkeit verfügt, den von ihm als Recht gesetzten Standpunkt gegenüber den entgegengesetzten Interessen und damit auch Rechtsauffassungen derjenigen durchzusetzen, deren gesellschaftliche Position in diesem Verhältnis als "ohnmächtig" zu bezeichnen wäre. In der (Rechts-) Geschichte der Piraterie machte sich dies in besonders auffälliger Weise bemerkbar. So werden unter Piraterie oder auch Seeräuberei "Gewalttaten, Eigentumsdelikte oder Freiheitsberaubungen, die zu eigennützigen Zwecken von einem See- oder Luftfahrzeug aus auf Hoher See oder in anderen Gebieten verübt werden, die keiner staatlichen Gewalt unterliegen" [1] verstanden. Dabei wirkten sich in den zurückliegenden Jahrhunderten die Interessen der jeweils mächtigsten Staaten der Erde durchaus unterschiedlich auf Rechtsprechung und Rechtsetzung in Sachen "Piraterie" aus.

Bis in das 19. Jahrhundert hinein "durfte" mit Piraten im buchstäblichsten Sinne des Wortes kurzer Prozeß gemacht werden, hatten sich doch die führenden Nationen auf das (Gewohnheits-) Recht verständigt, Piraten unmittelbar auf See sofort und ohne weitere Verhandlungen töten zu dürfen. Nun gab es insbesondere seitens der seefahrenden europäischen Staaten ein profundes Eigeninteresse an der Aneignung von Bodenschätzen und Handelsgütern jeder Art, weshalb hoheitlich bestallte Piraten, die, mit sogenannten Kaperbriefen ausgestattet, nicht mehr Piraten genannt werden konnten aufgrund dieser Autorisierung, obwohl sie dieselben Taten begingen wie unautorisierte See- und Küstenräuber und von diesen oftmals auch äußerlich nicht zu unterscheiden waren. Die hoheitlichen europäischen Mächte verfolgten damit das identische und doch gegeneinander gerichtete Interesse, den eigenen Reichtum zu mehren wie auch den der Konkurrenten zu schädigen, und so könnte man von einem permanenten Dauerkrieg auf hoher See zwischen den imperialistischen Seemächten sprechen.

Im 17. Jahrhundert begann sich jedoch das gemeinsame Interesse dieser Staaten an einer Sicherung der internationalen Gewässer und Handelswege durchzusetzen. Es mündete in einer internationalen Ächtung der Piraterie sowie der allen Staaten obliegenden Verpflichtung, Piraterie zu bekämpfen. Im 20. Jahrhundert nahm dieses Völkergewohnheitsrecht die Gestalt seerechtlicher Abkommen an, so beispielsweise das Übereinkommen über die Hohe See vom 29. April 1958 oder das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982. In beiden völkerrechtlichen Abkommen verschafften sich die maßgeblichen Staaten die Legitimation, auf Hoher See Piratenfahrzeuge aufbringen, die an Bord befindlichen Personen festnehmen sowie die dort vorhandenen Güter beschlagnahmen zu lassen. Die Festgenommenen wurden desweiteren der Gerichtsbarkeit des Staates überantwortet, der sie aufgebracht hat.

In Deutschland wurde seit rund 400 Jahren kein Mensch mehr wegen Piraterie vor Gericht gestellt. Dies wird sich allerdings bald ändern, wurden doch am 10. Juni zehn junge Männer bzw. Jugendliche aus Somalia von niederländischen Behörden am Grenzübergang Elten in Nordrhein-Westfalen dem deutschen Bundeskriminalamt (BKA) übergeben. Die jungen Somalier stehen unter dem Verdacht, am 5. April das deutsche Containerschiff "Taipan" 500 Seemeilen vor der Küste Somalias gekapert zu haben. Sie waren von einem Kommando der dort tätigen niederländischen Marine überwältigt, festgesetzt und zunächst in die Niederlande verbracht worden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft erwirkte internationale Haftbefehle gegen sie, und so entschied am 4. Juni ein Gericht in Amsterdam, daß die zehn Beschuldigten, denen versuchter erpresserischer Menschenraub und Angriff auf den Seeverkehr vorgeworfen wird, an Deutschland auszuliefern seien.

Dagegen hatten die jungen Somalier durch ihre Anwälte, allerdings erfolglos, Beschwerde eingelegt. Die zuständige niederländische Richterin wies die vorgebrachten Einwände und Argumente in allen Punkten zurück, eine Berufungsmöglichkeit gegen ihre Entscheidung gibt es nicht. So war die Nationalität des als deutsch geltenden Schiffes durchaus strittig, hatten die niederländischen Anwälte doch durch Internetrecherchen herausgefunden, daß die "Taipan" zeitweise unter deutscher, aber auch unter der Flagge Liberias oder der Bahamas geführt worden war. Dies mag mit dem unter Reedern weitverbreiteten "Ausflaggen" ihrer Schiffe im Zusammenhang stehen. Aufgrund des 1989 eingeführten Zweitregisters ist es möglich, ausländischen Seeleuten die in ihren Heimatländern üblichen (niedrigen) Löhne zu zahlen und zugleich die im Schiffsbau unter deutscher Flagge verfügbaren staatlichen Subventionen in Anspruch zu nehmen.

Kurzum: Über die Nationalität der "Taipan" hätte sich juristisch streiten lassen vor dem Hintergrund der für die zehn Somalier wesentlichen Frage der Zuständigkeit deutscher Gerichte. Das Amsterdamer Gericht ließ sich jedoch weder auf diese Streitfrage noch auf eine Erörterung der weiteren, von den Anwälten vorgebrachten Bedenken ein. Die Vorsitzende Richterin der Auslieferungskammer, Ans Davids, erklärte dazu, die deutsche Justiz habe hinreichend demonstriert, daß sie für die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten zuständig [2] sei, was ein erstaunliches, um nicht zu sagen befremdliches Argument darstellt, da die Zuständigkeit nicht an den Qualitäten der jeweiligen Justiz, sondern an der Nationalität des gekaperten Schiffes festzumachen ist. Wie kann im Zusammenhang mit der Frage, ob die "Taipan" tatsächlich unter deutscher Flagge gefahren bzw. ob diese Beflaggung rechtmäßig war, die deutsche Justiz ihre Zuständigkeit demonstrieren?

Der zweite Begründungsversuch der niederländischen Richterin mutet noch willkürlicher an, befand sie doch, daß die bundesrepublikanische Justiz ebenfalls unter Beweis gestellt habe, daß Verdächtige ein faires, rechtstaatliches Verfahren zu erwarten haben. Der Versuch der Verteidigung, die Auslieferung ihrer Mandanten in die Bundesrepublik Deutschland, wo ihnen bis zu 15 Jahren Haft drohen, zu verhindern, schlug ebenfalls fehl. Sie hatte vorgebracht, daß ein Prozeß wegen des gegen ihre Mandanten erhobenen Piraterie-Vorwurfs in den Niederlanden stattzufinden habe, weil die jungen Männer nach ihrer Festnahme bereits von niederländischen Marineoffizieren zur Sache vernommen worden seien. Nichts da, so die Richterin, schließlich "war [es] niemals beabsichtigt, diesen Prozeß in den Niederlanden zu führen" [2].

Eine durchaus aufschlußreiche Formulierung, legt sie doch die Vermutung einer direkten Absprache zwischen niederländischen und deutschen Stellen nahe. Auf deutscher Seite besteht nämlich das nicht unerhebliche verfassungsrechtliche Problem, daß der Einsatz der Bundesmarine bei der Überwältigung und Festsetzung mutmaßlicher Piraten durchaus umstritten ist, stellt er doch keinen Fall klassischer Landesverteidigung dar, auf die die Bundeswehr laut Art. 87 a des Grundgesetzes beschränkt ist mit Ausnahmen, die in der Verfassung explizit genannt werden (müssen). Da die mutmaßlichen Akte der Piraterie, begangen gegenüber einem mutmaßlich deutschen Containerschiff rund 900 Kilometer vor der Küste Somalias, angesichts des von der Hamburger Staatsanwaltschaft erhobenen und von den niederländischen Behörden befolgten Strafverfolgungsanspruchs als nach deutschem Recht strafbare Straftaten bewertet werden, stellt die Festsetzung und Überführung der mutmaßlichen Täter eine polizeiliche und keineswegs eine militärische Aufgabe dar.

Dem wird entgegengehalten, daß nach Art. 25 des Grundgesetzes "allgemeine Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes sind", die den Gesetzen vorgehen und Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen. Daß etwaige völkerrechtliche Bestimmungen im Zweifelsfall dem Grundgesetz selbst vorgeschaltet seien und dessen im konkreten Fall womöglich gegenläufige Entscheidungen aufheben, ist diesem Artikel allerdings nicht zu entnehmen. Damit berührt die Frage, ob die deutsche Bundesmarine in Gewässern fern der eigenen Hoheitsgewässer Menschen unter dem Vorwurf der Piraterie verhaften und nach Deutschland bringen darf, um sie der bundesdeutschen Strafjustiz zuzuführen, freilich eine verfassungsrechtliche Problematik, die allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr gemein ist, die nicht mit Art. 87a Abs. 2 in Übereinstimmung zu bringen sind, weil dieser außer zur Verteidigung Einsätze der Streitkräfte nur in ausdrücklich vom Grundgesetz vorgesehenen Aufgaben zuläßt.

Doch zurück zur Frage der Piratenbekämpfung durch die Bundesmarine. Sie wird von den Befürwortern der Bundeswehrauslandseinsätze als verfassungskonform ausgelegt im Zusammenhang mit Art. 110 des Seerechtsübereinkommens, in dem "Kriegsschiffe" als die Schiffe benannt werden, die auf Hoher See Piratenschiffe kontrollieren dürfen. Nun mag im Zweifelsfall die Frage, ob ein Schiff ein Piratenschiff ist oder nicht, höchst strittig sein. Der deutsche Gesetzgeber scheint die Auffassung, daß durch das Seerechtsübereinkommen auch die Bundesmarine zu den zur Kontrolle mutmaßlicher Piratenschiffen autorisierten Kriegsschiffen zu rechnen ist, nicht ganz zu teilen. Im Rahmen des Seeaufgabengesetzes wurde durch die Zuständigkeitsbezeichnungs-Verordnung See diese Kompetenz auf die Bundespolizei sowie den Zoll übertragen, die seit 1994 im "Koordinierungsverband Küstenwache" kooperieren. Für hiesige Gewässer bzw. den Schutz der deutschen Küstenländer wäre diese Zuständigkeit der Bundespolizei bzw. dem Zoll angesichts nicht abzusprechen, doch vor den Küsten Somalias?

Im deutschen Strafrecht wurde diesbezüglich Vorsorge getroffen. Nach Paragraph 316 c StGB ist Piraterie, hier bezeichnet als "Angriff auf den Luft- oder Seeverkehr", strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren geahndet bzw. mit Lebenslänglich oder mindestens zehn Jahren, sollte, und sei es leichtfertig, der Tod eines Menschen verursacht worden sein. Da Paragraph 6 StGB festlegt, daß das deutsche Strafrecht bei Taten gegen international geschützte Rechtsgüter - wie beispielsweise den Schutz des Seehandels - unabhängig vom Recht des Tatortes gültig sei, läßt sich somit ein Strafverfolgungsanspruch der deutschen Justiz ableiten. Diesem haftet allerdings ein schaler Beigeschmack an, der nicht per se juristisch, wohl aber politisch zu begründen ist, handelt es sich doch wie im Fall der zehn jungen Somalier, die noch in diesem Herbst vor ein Hamburger Gericht gestellt werden mit der Aussicht auf langjährige Haftstrafen, um die juristische Übersetzung eines höchst ungleichen politischen wie wirtschaftlichen Verhältnisses, das in Fortschreibung kolonialer Beziehungen von extremer Armut auf der einen und waffenstarrender Überlegenheit auf der anderen Seite gekennzeichnet ist.

So haben Fischfangflotten westlicher Staaten, genauer gesagt aus der EU, den USA und Japan, die somalischen Gewässer leergefischt, ohne daß die ortsansässigen Fischer dies hätten verhindern können oder vor irgendeiner internationalen Instanz erfolgreich hätten Einspruch erheben können gegen diese Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Selbstverständlich erfüllt diese Form der Fischerei - Greenpeace spricht in diesem Zusammenhang von "Fischpiraterie" [3] - keinen Straftatbestand im deutschen oder internationalen Recht. Für Fälle dieser Art ist kein internationales Übereinkommen geschaffen worden, um "Kriegsschiffe" zu ermächtigen, gegen "Fischpiraten", um diesen Gedanken einmal weiterzuspinnen, vorzugehen und die Verantwortlichen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Nein, all dies sind Optionen, die der westlichen Staatengemeinschaft, die weltweit eine dominierende Position innehat, zur Verfügung stehen, nicht jedoch all jenen Regionen der Welt und den in ihnen lebenden Menschen, die mit dem Erbe ihrer Kolonialisierung nicht nur bis heute zu kämpfen haben, sondern von diesem Erbe nahezu erschlagen werden. Somalia gehört zu den Ländern, denen angesichts ihrer katastrophalen und innenpolitisch desaströsen Verhältnisse die Staatlichkeit weitgehend abgesprochen wird, ohne daß dabei die Frage nach der (Mit-) Verantwortung der früheren Kolonialmächte auch nur gestellt wird.

Seit 1991 gilt Somalia als Bürgerkriegsland, nachdem bis dahin unter der Diktatur Siad Barres in einem Einheitsstaat, der nach dessen Sturz auseinanderbrach, so etwas wie politisch stabile Verhältnisse geherrscht hatten. Der somalische Bürgerkrieg ist nicht frei von ausländischer und internationaler Einmischung, wird doch seitens der Vereinten Nationen wie auch der Afrikanischen Union einzig die sogenannte "Übergangsregierung" (Transnational Federal Government, TFG) anerkannt und unterstützt. Diese war im Jahre 2004 nach zähen Verhandlungen in Kenia gebildet worden, verfügt jedoch über keine demokratische Legitimation, da sie nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist. Die "Regierungstruppen" der TFG werden von den USA mit Waffen und Munition ausgerüstet und von Frankreich ausgebildet. Angeblich sollen in der "Übergangsregierung" alle wichtigen Clans des Landes vertreten sein. Die 2004 in Aussicht gestellten allgemeinen Wahlen, die spätestens 2009 hätten stattfinden sollen, wurden bis Juli 2011 abermals verschoben, ohne daß es die Gewähr gäbe, daß sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich stattfinden.

Die "Übergangsregierung", die bereits 14- oder 15mal erneuert wurde [4] und an deren Spitze seit Januar 2009 Scharif Scheich Ahmed als "Präsident" steht, verfügt faktisch nur über einen geringen Einfluß im Land. Sie kontrolliert lediglich - und dies auch nur mit Hilfe von rund 5.300 ausländischen, genauer gesagt aus Uganda und Burundi stammenden Soldaten, die im Rahmen einer Friedensmission der Afrikanischen Union (AMISOM) hier seit Ende 2005 stationiert sind - das Regierungsviertel sowie den Hafen und den Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Die AMISOM-Truppen zur Stützung der sogenannten Übergangsregierung sollen, wie in internen Berichten der Afrikanischen Union bestätigt wurde [5], in der Bevölkerung sehr verhaßt sein, weil sie immer wieder Granaten in Wohnviertel schießen und dabei Zivilisten töten und verletzen. Nach AP-Angaben ist Jusuf Mohamed Sijad, der frühere "Verteidigungsminister" der Übergangsregierung, im Juni zurückgetreten, weil diese Regierung weder für die Sicherheit der Bevölkerung noch für deren Versorgung mit Wasser und Strom sorge. Sijad bestätigte gegenüber AP mehr als 60 Einschläge durch Artilleriegranaten und Raketen der AMISOM, die er in einem Wohnviertel am Bakaramarkt gezählt habe [5].

Die Europäische Union ist in diese Vorgänge unmittelbar involviert, leistet sie doch der "Übergangsregierung" seit Mai Militärhilfe durch die Entsendung von rund 150 Militärangehörigen aus europäischen Ländern - unter ihnen befinden sich auch 13 Bundeswehroffiziere -, die eine Truppe von rund 2000 Soldaten der TFG ausbilden. Alsbald wurden Vorwürfe, die auch in einem Bericht des UN-Generalsekretärs nachzulesen sind, laut, denenzufolge die Übergangsregierung in großem Umfang Kinder und Jugendliche rekrutiert. Nach Angaben der Bundesregierung gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß sich unter den Rekruten der EU-Trainingsmission (EUTM) Jugendliche befänden. Wäre dies der Fall, wäre dies ein Verstoß gegen eine UN-Konvention, die die Heranziehung Jugendlicher im Alter von unter 18 Jahren zu Kriegsdiensten untersagt.

Die außenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sevim Dagdelen, hält das Dementi der Bundesregierung für wenig glaubwürdig und moniert, daß sich die deutsche Bundeswehr ohne parlamentarische Zustimmung an dieser Militärmission beteiligt. Die Bundesregierung versuche, so die Linksprecherin, "in den letzten Jahren zunehmend, durch Ausbildungsmissionen und Ausstattungshilfe am Parlament vorbei in 'ferngesteuerte Bürgerkriege' wie in Somalia zu intervenieren, ohne daß sie Verantwortung für die Folgen dieser Kriege übernehmen müßte" [5]. All dies hat, so könnte man meinen, im engeren oder auch weiteren juristischen Sinne nichts mit den bevorstehenden Piratenprozessen in Hamburg zu tun, auch wenn diese gegen zehn Menschen geführt werden, die aus Somalia stammen.

Da im deutschen Strafrecht spätestens bei der Frage der Strafmaßzumessung, wenn denn im strafrechtichen Sinne ein Gericht die Schuld eines Angeklagten glaubt erkennen zu können, dessen Persönlichkeit und sozialer Hintergrund sowie seine gesamten Lebensumstände mitberücksichtigt werden müssen, werden die gesellschaftlichen Verhältnisse in Somalia nicht gänzlich ausgeklammert werden können. In dem nordostafrikanischen Land herrscht eine extreme Armut. Die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke, die einen der inhaftierten Somalier verteidigt, beschrieb die Verhältnisse im Herkunftsland ihres Mandanten folgendermaßen [3]:

Das Problem ist nur, dass es in Somalia nichts mehr zu fischen gibt. Manche Länder werden schlicht fallen gelassen, und ich glaube, Somalia ist ein verlorenes Land, die Armut dort ist kaum vorstellbar.

Doch dies ist für die Anklagebehörden nicht von Belang. Weder die durch westliche Fangflotten leergefischten Gewässer, noch die Tatsache, daß sich das afrikanische Land infolge seiner extremen politischen Instabilität und damit faktischen Wehrlosigkeit gegenüber den massiv in Erscheinung tretenden ausländischen Interessengruppen nicht gegen den an seinen Küsten abgelagerten Atommüll wehren kann, wird je Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung in Deutschland oder einem anderen westlichen Staat sein. Für den Vorwurf der Ablagerung atomar verseuchter Abfälle gäbe es genügend Anhaltspunkte, um ihm juristisch nachzugehen, führt doch beispielsweise ein Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) auf, daß in Somalia wie auch vielen weiteren unterentwickelten Ländern seit den 1980er Jahren unzählige Schiffsladungen mit Atommüll und weiteren schädlichen Abfällen entlang ihrer Küsten abgeladen und gelagert wurden [3]. Es ist nicht möglich, sich annäherungsweise den umgekehrten Fall, die illegale Ablagerung höchstbelasteter Abfälle in deutschen Küstengebieten durch wen auch immer, auch nur hypothetisch auszumalen.

Aus Sicht der somalischen Bevölkerung mögen all dies höchst wichtige, weil ihre Lebensbedingungen akut und massiv beeinträchtigende Fakten und Verhältnisse sein, doch fehlt es ihr an sämtlichen Voraussetzungen, um in Konfliktlagen, die im Zusammenhang mit dem höchst ungleichen Verhältnis zwischen den Elendsregionen Afrikas und der Wohlstandssphäre der einstigen Kolonialherren dieses Kontinents stehen, ihre Interessen auf juristischen Wegen verfolgen und durchsetzen zu können. Bezeichnenderweise verstehen sich die nun in Hamburg inhaftierten Somalier keineswegs als "Piraten", sondern als "Fischer". Würden deutschen Krabbenfischer aufhören, Fischer zu sein, wenn es in der Nordsee keine Krabben mehr gäbe? Hört ein Bäcker auf, ein Bäcker zu sein, wenn es infolge einer Katastrophe in seiner Region kein Getreide mehr gäbe? Fragen dieser Art wird das Hamburger Landgericht in dem bevorstehenden "Piratenprozeß" sicherlich nicht erörtern. Es wird sich darauf beschränken, den den Somaliern gemachten Vorwurf eines wenn auch gescheiterten Versuchs, die "Taipan" zu kapern, zu untersuchen, denn nur dies wird hier überhaupt zur Verhandlung stehen bzw. gebracht werden können.

Derweil befinden sich die jungen Somalier unter schärfsten Bedingungen in Untersuchungshaft. Acht von ihnen gelten als Erwachsene, sie befinden sich in drei verschiedenen Haftanstalten und sind strenger Isolation ausgesetzt. Sie werden in Einzelhaft gehalten und müssen sich 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle aufhalten. Zwar wird ihnen eine Stunde lang Umschluß gewährt, doch auch während dieser Zeit ist ihnen der Kontakt zueinander verboten. Zu anderen Gefangenen dürfen sie Kontakt aufnehmen, was allerdings durch Sprachschwierigkeiten erschwert sein dürfte. Zwei der mutmaßlichen Piraten gelten als Jugendliche, sie sind nach eigenen Angaben 13 bzw. 16 Jahre alt und befinden sich in der Jugendvollzugsanstalt Hahnöfersand.

Die deutschen Reeder haben derweil bereits eine harte Bestrafung der mutmaßlichen somalischen Piraten gefordert. So verlangte Roland Höger, Geschäftsführer der Reederei Komrowski, im Hamburger Abendblatt nach "härtesten Maßnahmen" [3]. Diese Forderung berührt weit mehr als das Interesse einer Hamburger Reederei an einer verlustfreien Abwicklung ihrer Geschäfte. Der sogenannte Welthandel, der keineswegs, wie der Begriff vielleicht suggerieren könnte, von einem bunten Treiben gleichberechtigter Handelspartner in allen Ländern des Erdballs, sondern in einem sich stetig zuspitzenden Maße von der Ausgrenzung einer immer größer werdenden Elends- und Hungerbevölkerung in vielen Regionen der Welt gekennzeichnet ist, wird im Stückgutbereich zu 90 Prozent über Containerschiffe abgewickelt. Der Schutz der rund 5.000 Containerschiffe, die, unter welcher Flagge auch immer, die Gesamtmenge verschiffter Stückgüter über die Weltmeere transportieren, genießt in den reichen Industriestaaten sowie in den von ihnen dominierten internationalen Institutionen einen so hohen Stellenwert, daß der Einsatz militärischer Mittel aus ihrer Sicht eine völlige Selbstverständlichkeit darstellt.

Die somalischen mutmaßlichen Piraten, deren Versuch, das Containerschiff "Taipan" in ihre Gewalt zu bringen, noch am selben Tag durch niederländische Soldaten, die das Schiff und seine 13köpfige Besatzung befreiten sowie die Tatverdächtigen festnahmen, vereitelt werden konnte, müssen nun mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen. Sie sind Fischer, die nichts mehr zu fischen hatten. Bei ihnen sollen fünf Maschinenpistolen vom Typ AK 47, zwei Raketenwerfer, Munition und zwei Enterhaken sichergestellt worden sein, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, daß sich die jungen Somalier als eine Art Söldner verdingt haben, ausgerüstet vom wem auch immer mit Schnellbooten und der entsprechenden Logistik, um das Überleben für sich und ihre Familien zu sichern.

Gegen sie wird, so sich, womit zu rechnen ist, die gegen sie vorgebrachten Vorwürfe in der Hauptverhandlung erhärten lassen, die volle Wucht eines Strafrechts zur Anwendung kommen, das die juristischen Voraussetzungen dafür geschaffen hat, um Übergriffe auf Eigentumsverhältnisse dieser und jeder anderen Art mit härtesten Strafen zu ahnden. Gegen das Erbe des Kolonialismus und dessen Fortschreibung in formal postkolonialistische Verhältnisse sowie gegen die katastrophalen Lebensverhältnisse in den Hunger- und Elendszonen der einstigen Kolonien gibt es hingegen aus Sicht der von ihnen betroffenen und ihnen ausgelieferten Menschen keine politische oder juristische Einspruchsmöglichkeiten, und so wird der Vorwurf der Piraterie zwischen Deutschland und Somalia nur in einer Richtung erhoben und bis zur absehbaren Aburteilung Betroffener geführt werden.

Anmerkungen

[1] Piraterie, Wikipedia, letzte Änderung am 10.07.2010, Zugriff am 22.07.2010,
http://de.wikipedia.org/wiki/Piraterie

[2] Somalische Seeräuber. Erster Piraten-Prozess in Hamburg nach 400 Jahren, Die Welt, 04.06.2010,
http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article7908557/Erster-Piraten-Prozess-in-Hamburg-nach-400-Jahren.html

[3] "I'm not a pirate - I'm a fisherman", von Birgit Gärtner, telepolis, 21.07.2010,
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32965/1.html

[4] Hintergrund: Die Gegner im Bürgerkrieg, junge Welt, 26.07.2010, S. 3

[5] Granaten in Wohnviertel. Bei der Bevölkerung Somalias sind die Truppen der Übergangsregierung verhaßt. Das Bundeskabinett hält aber an Hilfe bei Soldatenausbildung fest, von Knut Mellenthin, junge Welt, 26.07.2010, S. 3

16. August 2010