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DILJA/221: Bitte Dokumente freigeben - Berlin durch Karadzic-Verfahren in Bedrängnis (SB)


Den Haager Tribunal verlangt von der deutschen Bundesregierung die Herausgabe brisanter Dokumente über den Bosnienkrieg

Berlin bestreitet die Relevanz des Embargo-Bruchs zugunsten der bosnischen Muslime im laufenden Karadzic-Verfahren


Ein politisches Skandälchen spielt sich fernab aller Schlagzeilen und einschlägigen Titel-Stories im Verhältnis zwischen dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), kurz gesagt dem Den Haager Jugoslawien-Tribunal, und der deutschen Bundesregierung ab. Bekanntlich wird in Den Haag derzeit gegen den früheren Präsidenten der bosnischen Repubika Srpska, Radovan Karadzic, verhandelt. Dieser Prozeß stellt die letzte Gelegenheit dar, auf juristischem Wege eine vollständige Entlastung der NATO-Staaten zu erwirken, die ihren 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit einem Rechtfertigungs- und Bezichtigungskonstrukt zu Lasten der serbischen bzw. jugoslawischen Seite zu begründen versucht haben, dessen Wurzeln in den Bosnienkriegen in der Zeit zwischen 1992 und 1995 liegen, mit den Verbrechen von Srebrenica als einem jeden Zweifel fast schon zur Straftat erklärenden Fanal.

Mit diesem Verfahren soll nachgeholt werden, was in dem wohl größten, bislang von dem eigens zur juristischen Nacharbeitung dieser auf die inzwischen erfolgte vollständige Zerschlagung Jugoslawiens abzielenden Kriegsstrategie ins Leben gerufenen Tribunal geführten Verfahren, nämlich dem Prozeß gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, nicht zum Abschluß gebracht werden konnte. Milosevic verstarb, bevor der die NATO-Staaten freisprechende Schuldspruch gegen ihn und damit die unterlegene Kriegsseite gefällt werden konnte, wobei die Frage, ob dies angesichts der massiven Widersprüche, die dieser unbequeme Angeklagte den Tribunalrichtern und ihren Hintermännern und -frauen bereitet hat, überhaupt möglich gewesen wäre. Mit Radovan Karadzic, dem "Serbenführer", der neben dem früheren Militärchef der bosnischen Serben, General Ratko Mladic, zum Hauptdämon serbischer bzw. jugoslawischer Alleinschuld erklärt wurde, steht dem Tribunal nun allerdings ein Angeklagter zur Verfügung, der wie Milosevic vor ihm bestrebt ist, den ihm in diesem Rahmen verbliebene Handlungsraum, seine Sicht der Dinge öffentlich zu machen, in vollem Umfang zu nutzen.

Sollte das Den Haager Tribunal schon zu Beginn der Verhandlungen zu rabiaten Maßnahmen greifen, sprich ihm, wie zuvor schon Milosevic, das Mikrophon abschalten oder die von ihm gestellten Beweisanträge abschmettern, weil ansonsten die Gefahr bestünde, daß aus Sicht der NATO-Staaten unerfreuliche Fakten ans Tageslicht kommen würden, liefe es Gefahr, sich vor der Zeit als verlängerter, sozusagen juristischer Arm einer Kriegführungsmaschinerie zu erkennen zu geben. Radovan Karadzic, der von dem Recht, sich selbst zu verteidigen, Gebrauch macht, hat nun in dem Verfahren beantragt, daß die deutsche Bundesregierung geheimdienstliche Dokumente herausgeben und dem Tribunal zur Verfügung stellen möge, die den Bosnienkrieg betreffen im Zusammenhang mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Karadzic wird unter anderem für die Massaker von Srebrenica, bei denen rund 8000 muslimische Zivilisten getötet worden sein sollen, verantwortlich gemacht.

Hätte das Tribunal seinerseits es abgelehnt, von der deutschen Regierung die Herausgabe besagter Dokumente zu fordern, hätte es den Vorwurf, die Verteidigung Karadzics massiv zu behindern, kaum widerlegen können. Die Den Haager Richter gaben dem Antrag Karadzics am 19. Mai statt und setzten der Berliner Regierung eine Frist bis zum 18. Juni, um der Aufforderung nachzukommen. Die Weigerung der Bundesregierung, eben dies zu tun, macht einen denkbar schlechten Eindruck, schließlich ist der Gerichtshof auch auf ihr Drängen hin seinerzeit ins Leben gerufen worden. Zur Begründung wurde in Berlin angeführt, wie Karadzic-Anwalt Goran Petronijevic erläuterte, daß nationale Sicherheitsinteressen dem Ansinnen entgegenstünden.

Welche das sein könnten, ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen. Einem Bericht der jungen Welt (25.6.) zufolge soll das Bundesjustizministerium in dieser Angelegenheit aber auch erklärt haben, daß es derartige Unterlagen gar nicht gäbe. Unbedingt glaubwürdig klingt dies nicht, zumal die deutsche Bundesregierung schon Monate zuvor in dieser Sache den Standpunkt eingenommen haben soll, daß die von Karadzic verlangten Informationen gar nichts mit dem gegen ihn geführten Prozeß zu tun hätten. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Karadzic ist unter anderem an den Informationen deutscher Dienste über die Waffenlieferungen, die im bosnischen Bürgerkrieg unter Bruch eines von den Vereinten Nationen gegen alle Parteien verhängten Waffenembargos von westlichen Staaten an die bosnischen Muslime erfolgt sein sollen, und zwar unmittelbar vor den Kriegsereignissen, die heute als "Massaker von Srebrenica" in aller Munde sind, interessiert.

Um nachvollziehbar zu machen, daß und inwiefern gerade auch diesbezügliche Informationen, sollten sie ungeachtet der bisherigen Verweigerungshaltung der deutschen Regierung doch noch in das Den Haager Verfahren eingeführt und damit öffentlich gemacht werden können, relevant sind im Zusammenhang mit den gegen Karadzic erhobenen Vorwürfen, sei an dieser Stelle auf eine im Schattenblick veröffentlichte historische Reihe zum Thema "Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens" [1] verwiesen, in der auch besagte Waffenlieferungen thematisiert wurde. In ihr wurde zu dieser Frage Bezug genommen auf eine zu Srebrenica erstellte Studie des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD), genauer gesagt auf einen ihrer Autoren, Cees Wiebes, der den von ihm recherchierten und verfaßten Abschnitt über die Verwicklung westlicher Geheimdienste in einem eigenen Buch [2] veröffentlicht hat. In Teil 8 der Serie heißt es [3]:

Später sollte sich herausstellen, daß die NATO-Staaten die Interventionsermächtigungen des Weltsicherheitsrates nicht nur einseitig zur Bombardierung serbischer Stellungen, wie nach den "Massakern von Srebrenica" im August 1995 geschehen, nutzten, sondern daß aus ihrem Kreise das gegen das Bürgerkriegsjugoslawien verhängte Waffenembargo ebenso einseitig zugunsten der bosnischen Muslime unterlaufen wurde. Und wiederum ist es dem Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) zu verdanken, hier für einige Aufklärung gesorgt zu haben. Einer der Autoren der niederländischen Studie, Cees Wiebes, brachte den Teil der Studie, an dem er selbst mitgewirkt hatte, als eigenständiges Buch heraus, in dem die Ergebnisse über die Verwicklung westlicher Geheimdienste in den Bosnienkrieg dargestellt wurden. Diese Arbeit kann als fundiert und sachkompetent eingestuft werden. Der Autor hatte Zugang zu Geheimakten westlicher Geheimdienste und konnte ungefähr einhundert Geheimdienstagenten, wenn auch unter Wahrung ihrer Anonymität, befragen. Ihm standen hochrangige Verantwortungsträger Rede und Antwort, so etwa der damalige Chef der CIA, James Woolsey.

In dem Buch wie auch der niederländischen Studie werden die geheimen Operationen aufgedeckt, durch die das gegen alle Bürgerkriegsparteien verhängte UN-Waffenembargo zugunsten der bosnischen Muslime unterlaufen wurde. Berichtet wird von einer geheimen Allianz zwischen dem Pentagon und islamistischen Kämpfern, die heutzutage als Top-Terroristen zu den angeblich meistgesuchtesten Feinden der USA gehören und die Letztbegründung liefern für den nimmerendenden US-Antiterror-Krieg. So wurden radikal-islamistische Kämpfer aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Bosnien gebracht, damit sie die bosnisch-muslimische Armee unterstützen. Desweiteren fädelten die USA geheime Waffenlieferungen nach Bosnien ein. Demnach wurden mit finanzieller Unterstützung Saudi-Arabiens Waffen vom Iran (!) und der Türkei gekauft und dann in nächtlichen Flügen in die bosnische Stadt Tuzla gebracht. Zunächst sollen diese Transporte durch Maschinen der Iran Air durchgeführt worden sein, später benutzten die USA jedoch eigene, schwarzgestrichene Hercules-C-130-Transportflugzeuge.

Doch selbst wenn derartige Waffenlieferungen vor dem Den Haager Tribunal zur Sprache gebracht oder dokumentiert werden würden, könnte der Einwand erhoben werden, daß dies dem unmittelbaren Kriegsgeschehen zuzurechnen sei und keinen Bezug zu den angeklagten Menschenrechtsverbrechen habe. Diese Unterscheidung ist jedoch höchst willkürlich und kann mit dem damaligen Kriegsgeschehen, das noch dazu bis heute historisch höchst umstritten ist, nur schwerlich in Übereinstimmung gebracht werden. Im 9. Teil der SB-Srebrenica-Reihe heißt es dazu [4]:

Im Frühjahr 1995 spitzten sich die Ereignisse im Bosnienkrieg und insbesondere in der Region um Srebrenica abermals zu. Wie berichtet, hatten die von den USA unter Bruch des UN-Waffenembargos organisierten Waffenlieferungen an die bosnischen Muslime, die auch nach Srebrenica gelangten, die von Naser Oric kommandierte Stadtgarnison in die Lage versetzt, ihre Angriffe auf das serbisch kontrollierte Umland zu verstärken. In dieser Situation, die der vom Frühjahr 1993 glich, intensivierte die bosnisch-serbische Armee ihrerseits ihre Gegenangriffe, freilich ohne zu realisieren, daß sie mit der Einnahme Srebrenicas letztlich in eine ihr von langer Hand geplante und eingefädelte Falle laufen würde.

Ratko Mladic, damaliger Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, der wie auch der inzwischen von Serbien nach Den Haag ausgelieferte Radovan Karadzic, damaliger Präsident der (bosnischen) Republika Srpska, bereits am 25. Juli 1995 wegen der Verbrechen von Srebrenica angeklagt wurde, wollte die Nachschubwege der muslimischen Truppen in der Enklave Srebrenica unterbinden.

Die deutsche Bundesregierung täte gut daran, ihre bisherige Haltung noch einmal zu überdenken und die vom Den Haager Tribunal angeforderten Dokumente zu überstellen, um auf diese Weise nicht nur ihren Beitrag zur juristischen Arbeit eines Gerichts zu leisten, an dessen Einsetzung sie selbst bzw. eine ihre Vorgängerinnen beteiligt war. Sollte es bei dem bedingungslosen Nein aus Berlin bleiben, ist die Schlußfolgerung, Deutschland habe wohl etwas zu verbergen, weshalb sich die heutige Bundesregierung der juristischen wie auch historischen Aufklärung widersetzt, argumentativ schwer zu entkräften.

Anmerkungen

[1] Siehe Schattenblick -> INFOPOOL -> GEISTESWISSENSCHAFTEN -> MEINUNGEN:
DILJA/084 bis 106: Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teile 1 bis 23 (SB)

[2] Cees Wiebes, Intelligence and the War in Bosnia 1992-1995,
Lit Verlag, Münster - Hamburg - London 2003, 463 Seiten, 34,90 Euro

[3] Siehe Schattenblick -> INFOPOOL -> GEISTESWISSENSCHAFTEN -> MEINUNGEN:
DILJA/091: Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teil 8 (SB)

[4] Siehe Schattenblick -> INFOPOOL -> GEISTESWISSENSCHAFTEN -> MEINUNGEN:
DILJA/092: Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teil 9 (SB)

2. Juli 2010